Braunschweig. 1918 wütete die Influenza-Pandemie auch in unserer Region. Städte und Gemeinden ergriffen Gegenmaßnahmen – das Land dagegen kaum.

Als die erste Welle der „Spanischen Grippe“ im Sommer 1918 nach Deutschland schwappte, versuchte man ihr noch mit markigem Humor zu begegnen: „Wie haben schon andere Feinde unserer Gesundheit überwunden und werden auch mit der spanisch-französischen Influenza fertig werden“, schrieb die Braunschweigische Landeszeitung am 5. Juli. Jetzt komme es darauf an, dass die Krankheit, „die weder etwas spanisches noch etwas panisches an sich hat“, nicht zur „Faulenzia“ ausarte.

Derart nonchalant mit der Grippe umzugehen, passte nicht nur zum Ziel, die Anstrengung der „Heimatfront“ auch im bald fünften Jahr des Ersten Weltkrieges aufrecht zu erhalten. Angemessen erschienen die Wortspiele auch, weil die erste Grippewelle im Deutschen Reich tatsächlich noch relativ mild verlief. Die Landeszeitung versuchte daher, ihre Leser zu beruhigen: Zwar seien in Süd- und Westdeutschland massenweise plötzliche Erkrankungen aufgetreten – oft mit hohem Fieber, Husten, Kopfschmerzen, „grenzenloser Abgespanntheit“, Schüttelfrost und Auswurf. Aber: „Der Verlauf ist nicht bösartig.“

156 Grippetote in einer Woche

Als aber die zweite Welle kam, war den Zeitungen nicht mehr zum Scherzen zumute. Im Herbst 1918 traf die Grippe das kriegsgebeutelte Kaiserreich mit voller Wucht – auch das kleine Herzogtum Braunschweig. Ihren Höhepunkt erreichte die Influenza buchstäblich am Vorabend der Revolution: Mitte September bis Mitte November. Allein vom 15. bis 22. Oktober kostete die Grippewelle im Land Braunschweig 156 Menschen das Leben.

Recherchiert hat diese Zahl Philip Haas. Der 33-jährige promovierte Historiker und Archivar am Niedersächsischen Landesarchiv in Wolfenbüttel hat sich mit den regionalhistorischen Quellen zur „Mutter aller Seuchen“ befasst, wie die „Spanische Grippe“ auch genannt wird. Ihn verblüfft vor allem ein Befund: „Dass die Landespolitik damals so zögerlich und zurückhaltend auf die Seuche reagierte.“

Zur Spanischen Grippe, berichtet Archivar Haas, habe die damalige Landesregierung nicht einmal eine eigene Akte angelegt. „Das spricht schon ein Stück weit für sich.“ Das Land sei bei der Eindämmung der Epidemie kaum in Erscheinung getreten. Dass es dennoch zeitweilig zu Schulschließungen und Veranstaltungsverboten kam, war den Städten, Gemeinden und Landkreisen zu verdanken. Als Beispiel verweist der Historiker auf eine Bekanntmachung des Helmstedter Kreisdirektors. Am 3. November erließ dieser für Schöningen und Königslutter ein Verbot von „Märkten, Messen und anderen Veranstaltungen, welche eine Ansammlung größerer Menschenmengen mit sich bringen“. Die Landesregierung bat er „gehorsamst“, die Anordnung zu genehmigen, da „Gefahr im Verzuge“ sei.

Kommunen schlossen Schulen

Auch Schulschließungen gab es. Am 16. Oktober, nach den Herbstferien, hatte der Unterricht zunächst noch regulär begonnen. Allerdings trat die Influenza bei den Lehrern so stark auf, das erste Schulen schon bald den Betrieb einstellen mussten. Am 20. Oktober schlug die Landeszeitung Alarm: „Aus Schulkreisen sind wir gebeten worden, die Medizinalbehörden darauf hinzuweisen, dass sich ein allgemeiner Schulschluss für die Dauer von ein bis zwei Wochen empfehle.“ Zwei Tage später machte die Stadt Braunschweig ihre Volksschulen dicht, zwei Tage darauf auch die höheren Schulen. Die Schließungen wurden wochenweise verlängert – bis zum 11. November. Haas bewertet dieses Vorgehen als zaghaft. „Man zierte sich“, sagt er. „Gerade im Vergleich zu heute, wo Bund und Länder früher und konsequenter gemeinsame Maßnahmen ergriffen haben, fällt das auf.“

In der zweiten Oktoberhälfte berichtete die Braunschweigische Landeszeitung im Lokalteil fast täglich über den Stand der Krankmeldungen bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Am 5. November registrierte diese 6539 Arbeitsunfähige, darunter 5305 Grippekranke. Anfang Oktober, vor der Grippewelle, waren nur 1142 Menschen krank gemeldet.

In der Zeitung keine Totenzahlen, aber Todesanzeigen

Regionale Zahlen von Grippetoten – heute elementarer Teil der Corona-Berichterstattung – sucht man in damaligen Zeitungen vergeblich. In den 21 historischen Zeitungsausschnitten, die das Stadtarchiv Braunschweig unserer Zeitung im Zuge der Recherchen für diesen Artikel dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat, findet sich keine konkrete Totenzahl für Braunschweig. Einblicke gab die Landeszeitung ihren Lesern dennoch: „Der Tod hat leider eine reiche Ernte gehalten“, schrieb sie und verwies auf das von der AOK ausgezahlte Sterbegeld. Gegenüber dem früheren Durchschnitt habe die Summe in der Woche vom 27. Oktober bis zum 2. November um mehr als das Dreizehnfache höher gelegen.

An Lungenentzündung verstorben „in der Blüte ihrer Jahre“: Eine typische von massenweisen Todesanzeigen aus der zweiten Oktoberhälfte 1918 – hier aus der Braunschweigischen Landeszeitung vom 19. Oktober 1918.
An Lungenentzündung verstorben „in der Blüte ihrer Jahre“: Eine typische von massenweisen Todesanzeigen aus der zweiten Oktoberhälfte 1918 – hier aus der Braunschweigischen Landeszeitung vom 19. Oktober 1918. © Stadtarchiv Bs | Braunschweigische Landeszeitung

Mit der Krise mussten vor allem die Kommunen fertig werden. Um die Zurückhaltung des Landes zu verstehen, hilft ein Blick auf die Politik im Reich: Haas hat hierzu einen Brief des für die Gesundheitspolitik zuständigen Reichsamts des Innern an die Länder aufgetan. Das Schreiben vom 31. Oktober 1918 mit Empfehlungen des Reichsgesundheitsrats – heute wohl am ehesten mit dem Robert Koch-Institut vergleichbar – liest sich wie ein Dokument der Überforderung.

Zunächst stellten die Experten in Berlin fest, dass die Grippe nunmehr „mit schwereren Erscheinungen verbunden ist“. Die Zahl der Opfer, gerade unter jüngeren Personen, habe erheblich zugenommen. Oft werde jetzt „als Begleitkrankheit eine Lungenentzündung von grosser Bösartigkeit beobachtet“.

Weiter berichtet die Reichsregierung, welche Maßnahmen ihre Fachleute diskutiert hätten, und aus welchen Gründen sie sich dagegen entschieden: Eine Meldepflicht von Grippekranken lehnten sie ab, weil oft „ein Arzt nicht zugezogen wird“ und die Behörden sich daher ohnehin nur ein unvollständiges Bild machen könnten. Auch eine Isolation der Erkrankten in Krankenhäusern wurde „im Hinblick auf ihre große Zahl als nicht durchführbar erachtet“. Schon jetzt müssten überfüllte Kliniken „Personen, die wegen schwerer Erkrankung an der Grippe oder Lungenentzündung Aufnahme begehrten“, zurückweisen.

Selbst dazu, ein Verbot von Menschenansammlungen – in Theatern, Kinos, oder Kirchen – zu empfehlen, konnte sich das Gremium in Berlin nicht durchringen. Schließlich stehe der Vorteil „in keinen Verhältnis zu den wirtschaftlichen Nachteilen“. Zudem sei „eine solche Maßregel unter den derzeitigen Verhältnissen geeignet, die Beunruhigung zu steigern“. Was unbedingt zu vermeiden sei.

Historiker: „Eine brutale Kosten-Nutzen-Rechnung“

Bei Schulschließungen solle nur „von Fall zu Fall“ entschieden werden, so die Experten. Für die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs sprach aus ihrer Sicht die Notwendigkeit von Schulspeisungen. Außerdem ermöglichten Schulen und Kindergärten den Müttern, zu arbeiten. Die Arbeit der Frauen war unverzichtbar, um die Kriegswirtschaft aufrecht zu halten. Daher empfahl der Reichsgesundheitsrat den Ländern lediglich, die Menschen darüber zu belehren, wie man sich als Einzelner vor einer Ansteckung schützen könne.

Philip Haas sieht in dem Schreiben aus Berlin eine „ziemlich brutale Kosten-Nutzen-Rechnung“: „Aus Sicht der Reichsleitung stimmte schlicht das Verhältnis zwischen dem Nutzen möglicher Einschränkungen und den zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen nicht.“ Entsprechend habe die Landesregierung dann auch keine wirksamen Maßnahmen ergriffen.

Warnungen erinnern an heutige Hygieneregeln

Immerhin gewarnt wurde die Bevölkerung. Die Ratschläge des Reichsgesundheitsrats, die die Zeitungen abdruckten, lesen sich teils wie Hygieneregeln von heute: „Da der Krankheitsstoff vermutlich durch den Mund oder die Nase Eingang in den Körper findet“, könne man sich dadurch schützen, „dass man sorgfältig auf Reinlichkeit bedacht ist, insbesondere vor dem Essen sowie vor der Zubereitung von Speisen sich regelmäßig die Hände wäscht“. Da die Grippe bei „älteren Leuten, Herzschwachen und Lungenleidenden nicht selten einen schweren Verlauf nimmt, sollten sie den Massenverkehr meiden und sich vor Gelegenheiten fernhalten, wo sie mit vielen Menschen in nahe körperliche Berührung kommen oder angehustet werden können“.

Dennoch: Ein Zuviel an Grippe-Aufklärung erachtete das Land als kontraproduktiv. Dies folgert Haas aus der Antwort auf die Empfehlungen des Reichsgesundheitsrats. Knapp drei Wochen nach dem Brief aus Berlin schrieb ein Vertreter des Braunschweigischen Landesmedizinalkollegiums: „Eine nochmalige Belehrung würde vielleicht mehr beunruhigen als wünschenswert ist, da die Grippe zweifellos ihrem Abschluss entgegengeht.“ Haas schließt daraus: „In der Beunruhigung der Menschen sah man eine noch größere Gefahr als in der Grippe.“

Grippe und Revolution

Derweil war die Unruhe auf politischem Gebiet längst auf dem Höhepunkt. Elf Tage vorher, am 8. November hatten revolutionäre Arbeiter und Matrosen den Herzog zum Thronverzicht bewegt. Deutschland war eine Republik. Wie Revolution und „Spanische Grippe“ miteinander zusammenhängen, ist in der Forschung allerdings immer noch eine weitgehend offene Frage. „Die Grippe wird von Historikern oft als wichtige Ursache der Unzufriedenheit der Bevölkerung, und damit letztlich der Revolution, angeführt“, erklärt der Historiker Hans Ulrich Ludewig, ein Experte für die Novemberrevolution in Braunschweig. Umso mehr sei auch ihm aufgefallen, dass die Epidemie in den wichtigen Quellen zur Revolution praktisch keine Rolle spiele.

Braunschweigs prominenteste Patientin der Spanischen Grippe: Herzogin Victoria Luise.
Braunschweigs prominenteste Patientin der Spanischen Grippe: Herzogin Victoria Luise. © Privat | Archiv

Eine seltene Ausnahme ist ein Artikel im Braunschweiger SPD-Blatt „Volksfreund“ vom 24. Oktober. Unter der Überschrift „Das grüne Gespenst“ verknüpfte der Autor die Grippe-Krise mit der konkreten Forderung nach Frieden. In dem Arbeiterblatt war zu lesen: „Hätten wir nur kräftiges Essen und starken Schnaps! Aber mit Kriegsbrot und Dünnbier lässt sich dieser Teufel nicht bannen. Er schwingt die Geißel unbarmherzig über die Völker Europas und wird wohl erst aufhören, zu peitschen, wenn er samt seinem Oberteufel, dem verfluchten Krieg, in die Hölle gesandt ist.“

Auf der anderen Seite blickte das Bürgertum gerade auch vor dem Hintergrund der Grippe mit Sorge auf die kritische Stimmung im Lande. Zumindest lassen sich mehrere Artikel der Landeszeitung, in denen vor „böswilligen“ Gerüchten gewarnt wird, entsprechend lesen. Menschen, die unwahre Gerüchte, etwa über völlig überhöhte Opferzahlen, in die Welt setzten, müssten der „wohlverdienten Bestrafung“ zugeführt werden. „Das ist heute mehr denn je die ernste Pflicht jedes Vaterlandsfreundes.“

Auch der herzogliche Hof blieb nicht verschont

Dass die tödliche Grippe über solche Andeutungen hinaus nicht für mehr politischen Sprengstoff sorgte, könnte auch daran gelegen haben, dass kein Bevölkerungsteil verschont blieb. Selbst der herzogliche Hof nicht, wie die Landeszeitung am 15. Oktober meldete: Herzogin Victoria Luise sei ebenso erkrankt wie ihre Kinder, Erbprinz Ernst August und Prinzessin Friederike Luise. Gleichwohl waren die ärmsten Schichten, die oft auf kleinstem Raum wohnten, besonders betroffen. „Je enger das Zusammenleben, desto mehr Fälle“, hieß es in einem Bericht des Landes von 1919.

Wie viele Todesopfer die Spanischen Grippe im Land Braunschweig letztlich forderte, weiß auch Haas nicht. Laut späteren Statistiken starben 1918 rund 1000 Menschen an der „Todesursache Influenza“ – ungefähr das Doppelte der Vorjahre. Allerdings waren damit längst nicht alle Opfer erfasst. Besonders deutlich zeigen dies die Daten zur „Todesursache Lungenentzündung“, so Haas. An ihr starben demnach im selben Jahr 1866 Einwohner. Gegenüber dem Niveau der Vorjahre war das eine enorme Steigerung – etwa um das 20-Fache. Aber auch die Summe beider Zahlen spiegelt nur einen Teil der Epidemie wider. „Der tatsächliche Radius bleibt nebulös, auch weil es, anders als heute, keine zuverlässigen labortechnischen Testverfahren gab“, sagt Haas. Von einer deutlich höheren Dunkelziffer sei daher auszugehen.

Im Herzoglichen Krankenhaus Braunschweig, dem heutigen Klinikum Celler Straße, starben während der Herbstwelle 1918 laut einem Bericht der Braunschweigischen Landesregierung 76 Patienten an der Spanischen Grippe. Die Aufnahme, die das Stadtarchiv bewahrt, stammt aus dem Ersten Weltkrieg.
Im Herzoglichen Krankenhaus Braunschweig, dem heutigen Klinikum Celler Straße, starben während der Herbstwelle 1918 laut einem Bericht der Braunschweigischen Landesregierung 76 Patienten an der Spanischen Grippe. Die Aufnahme, die das Stadtarchiv bewahrt, stammt aus dem Ersten Weltkrieg. © H XVI: B III 2 | Stadtarchiv BS

Die „Spanische Grippe“ 1918 bis 1920

Die Spanische Grippe brach zwischen Frühjahr 1918 und Frühjahr 1920 in drei Wellen über die Welt herein. Die Angaben zu den Opferzahlen variieren stark. Das Deutsche Ärzteblatt zitiert Schätzungen, die zwischen 27 und 50 Millionen Opfer nennen. Damit forderte sie mehr Menschenleben als der gesamte Erste Weltkrieg (18,5 Millionen).

Ihren Namen erhielt die „Spanische Grippe“, weil spanische Zeitungen erstmals über die Epidemie berichteten. Da das Land im Ersten Weltkrieg neutral war, wurde die Presse hier weniger streng zensiert als in den kriegführenden Ländern.

Während der Herbstwelle 1918 starben einem offiziellen Bericht des Landes von 1919 zufolge in der Stadt Braunschweig 456, in Blankenburg 55 und in Holzminden 131 Personen an dem hochansteckenden Influenzavirus. Vor allem Personen mittleren Alters zwischen 16 und 40 Jahren waren betroffen. Ein Blick in die Anzeigen zum Sterbebuch des Standesamtes Braunschweig im Stadtarchiv verdeutlicht die erschreckend hohe Sterberate bei jungen Personen. Auffällig war, dass häufig schwere Lungenentzündungen auftraten, die oft in kürzester Zeit zum Tode führten.

Die Krankheit trat demnach „explosionsartig“ auf, „ergriff ganze Straßen“ und setzte sich von Dorf zu Dorf fort. An den meisten Orten habe sie etwa vier Wochen gedauert.

Ein Aufsatz von Haas zur Spanischen Grippe im Land Braunschweig ist auf der Webseite „Braunschweiger Geschichtsblog“ erschienen. Eine Sammlung ausgewählter Archivdokumente soll im Braunschweigischen Jahrbuch für Landesgeschichte erscheinen.