Wolfsburg. In einer Fragerunde konfrontieren 300 VW-Mitarbeiter den Konzernchef mit ihren Sorgen und Nöten.

Ein wenig erinnert die Ausstellungsfläche im Erdgeschoss des Wolfsburger VW-Verwaltungshochhauses an diesem Mittwoch-Nachmittag an eine Box-Arena. In der Mitte das Box-Quadrat – allerdings ohne Seile, dafür mit Bistrotisch. Drumherum das Publikum auf Stühlen oder Sitzwürfeln. Das Publikum besteht aus 300 VW-Mitarbeitern aus allen Hierarchieebenen. Kostüm und Anzug überwiegen, gefolgt von Jeans und Hemd. Beschäftigte im Blaumann sind eher selten.

Die Mitarbeiter haben sich im VW-Intranet zwar nicht direkt für einen Boxkampf beworben, aber zumindest im übertragenen Sinn. In einer Fragestunde, die gestern erstmals in dieser Form angeboten wird und wiederholt werden soll, bekommen sie die Möglichkeit, Konzernchef Matthias Müller mit ihren Fragen, Sorgen und Nöten zu konfrontieren. Ausgewählt wurden die Teilnehmer nach VW-Angaben per Los.

Bevor es jedoch zur Fragerunde kommt, hält der unter lebhaftem Applaus begrüßte Top-Manager eine Art Grundsatzrede zur Lage des Konzerns. Er ermuntert die Belegschaft, sich weiter aktiv am erforderlichen Umbau des Unternehmens zu beteiligen. Die Aufgaben, die vor Volkswagen liegen, sind vielfältig und längst bekannt: die Aufarbeitung des Abgas-Betrugs, der Wandel zu Digitalisierung und autonomen Fahren, der Umbau des Autobauers zu einem Mobilitätsdienstleister, der Neuausrichtung der Kernmarke VW mitsamt Stellenabbau.

Und weil er eben in einer Art Boxring steht, lässt Müller auch schon mal die Muskeln spielen. Zwar werde sich VW aller berechtigten Kritik stellen und Versäumnis aufarbeiten, sagt er, betont aber auch, dass es Grenzen gebe: „Wo Vorwürfe haltlos, unfair sind – da werden wir uns weiter wehren.“ Mit Blick auf die zahlreichen Klagen gegen VW in Zusammenhang mit dem Abgas-Betrug sagt Müller: „Wo eine Klageindustrie fette Beute wittert und versucht, unser Unternehmen in seiner Existenz zu gefährden, da werden wir gegenhalten. Da werde ich mich schützend vor Sie stellen.“

Für die Mitarbeiter in den deutschen Werken sei die Kritik an Volkswagen besonders spürbar – weil das Unternehmen auf seinem Heimatmarkt am heftigsten attackiert werde. Müller: „Aber in vielen anderen Ländern – einschließlich der USA – sieht das Bild des Konzerns und unserer Marken schon wieder anders aus. Das macht uns Mut!“

Ohnehin habe VW keinen Grund, sich zu verstecken. Müller unterstreicht einmal mehr die Bedeutung des Konzerns als Arbeitgeber, Steuerzahler, Investor und Garant für Wachstum und Wohlstand. „Das alles ist Volkswagen, und darauf können wir stolz sein.“

Und dann haben die Mitarbeiter das Wort. Auffallend sind zwei Aspekte. So suchen vor allem viele Frauen den Dialog mit Müller. Der Konzernchef wiederum, der vor der Kamera oft kühl und mitunter herablassend wirkt, ist spürbar um Nähe, einen lockeren Ton und Augenhöhe zu den Mitarbeitern bemüht. Die beschäftigt aus stets anderer Perspektive vor allem der Umbau des Konzerns in all seinen Facetten.

So fragt gleich zu Beginn eine Mitarbeiterin zum von Müller geforderten Wandel der Unternehmenskultur: „Wie stellen Sie sicher, dass sich die Gedanken der Führungskräfte ändern?“ Dass die Chefs also dem geforderten Wandel folgen.

Der Konzernchef redet nicht lange um den heißen Brei herum und räumt ein, dass dies eine der schwierigsten Fragen überhaupt sei. Auf die gebe es keine einfache Antwort. Die Führungskräfte müssten ihr Handeln hinterfragen und den Kodex der Zusammenarbeit in die Realität umsetzen, rät er. „Das braucht Geduld, wir müssen akzeptieren, dass VW ein großes Unternehmen ist.“ Und das lasse sich nicht einfach umkrempeln.

Dass bei der Neuausrichtung der Führungskultur noch viel Arbeit vor den VW-Verantwortlichen liegt, verdeutlicht der Beitrag eines Mitarbeiters aus der Produktion. Der beklagt, dass die Produktionsmitarbeiter über den Umbau des Unternehmens nicht ausreichend informiert und daher nicht richtig mitgenommen würden.

Doch damit nicht genug: Der Mitarbeiter berichtet ferner, dass in der Produktion Fahrzeuge für die Abnahme durch den Vorstand nicht einfach aus Fertigung genommen, sondern speziell vorbereitet würden.

Das Publikum reagiert auf diese Schilderung mit tosendem Beifall, Müller ist erschüttert: Die Vorgänge seien ein „Unding“. Wieder verweist er auf den Kodex der Zusammenarbeit und fragt: „Was sagt der Chef und der Chef-Chef?“ Die Antwort des Mitarbeiters: „Der Leiter hat sich beim Chef beschwert, weil ich ihn angesprochen habe.“ Wie gesagt: Es gibt an der einen oder anderen Stelle ganz offensichtlich noch viel zu tun.

Eine andere Mitarbeiterin berichtet von ihren Erlebnissen mit ihrem Golf GTE – ein Auto mit Verbrennungs- und Elektromotor. Sie beklagt die aus ihrer Sicht mangelhafte Ladeinfrastruktur in Deutschland und auch im europäischen Ausland.

Müller bestätigt ihre Eindrücke. „Diese Defizite sind ein großes Problem beim Erwerb dieser Autos“. Man könnte wohl auch sagen: ein Kaufhindernis. Ein Grund dafür sei die bislang nicht ausgeprägte Bereitschaft der öffentlichen Hand, in die entsprechende Infrastruktur zu investieren, sagt Müller. Darauf werde er die Politik noch einmal hinweisen, verspricht er und kündigt an, dass die VW-Tochter Porsche gemeinsam mit BMW, Mercedes und Ford Ladestationen aufbauen werde. Außerdem werde von VW der Einsatz mobiler Ladestationen für Elektro-Fahrtzeuge geprüft. „Sie könnten eine Übergangslösung sein.“

Die E-Mobilität veranlasst gestern noch eine weitere Mitarbeiterin, sich an den Konzernchef zu wenden. „Was ist mit autonomen Ladevorgängen, gibt es das in der Konzernforschung“, fragt sie. Das wäre eine Technik, die den Ladevorgang automatisiert. Müller antwortet nicht direkt: „Die Forschung befasst sich mit verschiedenen Ladekonzepten.“

Und noch einmal ist die E-Mobilität Thema. So kritisiert ein Mitarbeiter: „Warum hat VW mit dem Dieselthema nicht die Gelegenheit genutzt, radikal in die E-Mobilität einzusteigen?“ Müller räumt ein: „Damit hätten wir früher beginnen müssen.“ Nun brauche es Zeit. „Eine große Organisation kann nicht von heute auf morgen umgestülpt werden, sie braucht eine evolutionäre Entwicklung“, sagt er.

Ein anderer Mitarbeiter beklagt: „Ich verstehe den Hype um die E-Mobilität nicht.“ Müllers spontane Reaktion: „Ich auch nicht.“ Der Mitarbeiter begründet seine Ablehnung damit, dass es außerhalb Europas keine entsprechende Infrastruktur für elektrisch angetrieben Fahrzeuge gebe. Dieser Einschätzung stimmt Müller zu: „Es muss eine Koexistenz von E-Mobilität und Verbrennungsmotoren geben“, sagt er. Daher werde Volkswagen in den nächsten fünf Jahren jeweils zehn Milliarden Euro in die Entwicklung der E-Mobilität, aber auch in die Entwicklung des Verbrennungsmotors investieren.

Eine andere Mitarbeiterin will erfahren, was VW dafür unternimmt, den Anschluss an den technischen Wandel nicht zu verpassen – zumal der sich durch die Digitalisierung noch beschleunigt. „Wie gewährleisten wir, dass wir uns ständig wandeln?“, fragt sie. Müllers Antwort: „Wandel ist ein stetiger Prozess. Wir müssen uns verändern.“ Das sei im Führungsleitbild verankert.

Mitunter geht es in der Fragerunde aber auch um ganz alltägliche Dinge. So wünscht sich ein Mitarbeiter einen für alle verbindlichen E-Mail-Knigge. „Keiner weiß, was zu tun ist, wenn 30 Leute angeschrieben werden. Das kostet Zeit“, beklagt er. Auch für diesen Fall hat Müller eine Antwort und regt die „10 Gebote für den E-Mail-Verkehr“ an.

Am Ende der Fragerunde hat Müller offensichtlich viel Sympathie gewonnen – sein Abgang wird von donnerndem Applaus begleitet.

Mehr dazu lesen Sie hier: VW-Chef Müller: Wir wollen nie wieder in die rechtliche Grauzone

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