Braunschweig. Das Verhalten auf deutschen Straßen wird rücksichtsloser. Die Gründe sind verschieden.

Unser Leserin Mustafa Miglye bemerkt auf Facebook:

Wenn man hupt, wird einem schnell der Mittelfinger gezeigt. Ich habe schon oft Anzeige erstattet. Diese wurden aber immer fallen gelassen...

Die Antwort recherchierte Tobias Bosse

Keine Liebe im Straßenverkehr. Stattdessen beherrschen Mittelfinger, Beleidigungen oder aggressive Fahrstile unsere Straßen. Viele Leser sind der Meinung, dass die Sitten im Straßenverkehr kontinuierlich verrohen. Aber stimmt das überhaupt und wenn ja, wer oder was ist dafür verantwortlich? Tatsächlich verzeichnen Polizei und ADAC einen Anstieg solcher Delikte. Den einen Grund scheint es jedoch nicht zu geben.

Die Sicht eines Anwalts für Verkehrsrecht

„Es gibt immer wieder Anzeigen wegen obszöner Gesten oder Beleidigungen im Straßenverkehr. Diese werden jedoch oft mangels öffentlichen Interesses eingestellt. Und privat verfolgen die Opfer ihre Klagen dann meistens auch nicht weiter, weil ihnen die Beweise fehlen“, erklärt Ulf Seide, Anwalt für Verkehrsrecht, zur Bemerkung unseres Lesers. In vielen Fällen bleibe es allerdings nicht bei einer Geste oder einem Wortgefecht, berichtet Seide, der zwar keinen Anstieg von Verkehrsdelikten bestätigen kann, aber dafür eine Verschiebung: „Früher gab es mehr Delikte wegen Trunkenheit. Heute verzeichnen wir eine Umgewichtung bei den begangenen Delikten hin zu Nötigungen, gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr oder dem unerlaubten Entfernen vom Unfallort.“ Dabei handele es sich oft um Selbstjustiz, denn erstaunlich oft seien es die Opfer einer solchen Tat, die im Verlauf des Geschehens selbst zu Tätern werden.

Die Sicht der Polizei

Immer wieder kommt es im Braunschweiger Straßenverkehr zu kritischen Situationen, die nicht selten in Gewalt enden. So stellt Jens Weidemann das Problem dar. Weidemann, verantwortlich für Verkehrsprävention im Polizeikommissariat Mitte, fiel diese Entwicklung bereits im Jahr 2015 auf. Daraufhin schaute er anderthalb Jahre genauer hin. In diesem Zeitraum hat er 27 Härtfälle dokumentiert, in denen ein Streit zwischen Verkehrsteilnehmern zu Gewalttaten führte. Dabei handele es sich lediglich um die besonders schweren Fälle. Die Gesamtzahl liege deutlich höher. Die Aufschlüsselung sei aber schwierig, weil diese Fälle nicht mehr als Verkehrsdelikt geführt werden, sondern beispielsweise als Körperverletzung. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, hat Weidemann im März diesen Jahres eine Kampagne ins Leben gerufen: „Freundlich und fair im Straßenverkehr“. Denn das, was jeder Fahranfänger bereits in der ersten Stunde der Fahrschule lernt, scheinen immer mehr Autofahrer zu vergessen – Rücksicht.

Die Sicht des ADAC

Auch der ADAC kann diese Tendenz bestätigen: „Wir merken eine deutliche Zunahme “, sagt Christine Rettig, Pressesprecherin des ADAC Niedersachsen/Bremen. Doch bei der Suche nach Ursachen wird es vage, weil für eine genau Untersuchung schlicht zu wenig empirische Erkenntnisse vorliegen. Rettig: „Ein Grund ist sicher das steigende Stresslevel im Alltag. Viele Verkehrsteilnehmer stehen zeitlich unter Druck und projizieren das auch auf ihre Fahrweise.“

Die Sicht eines Verkehrspsychologen

Mark Vollrath, Verkehrspsychologe an der TU Braunschweig, ist sicher, dass es eine enge Verbindung zwischen der wachsenden Rücksichtslosigkeit im Verkehr und der steigenden Anzahl von Verkehrsteilnehmern gibt. Allein im vergangenen Jahr meldete das Kraftfahrtbundesamt 3,4 Millionen neu zugelassene PKW. Das bedeutet einen Anstieg um 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, in dem es bereits einen Anstieg um 5,6 Prozent gegeben hatte. Mehr Autos führten zwangsläufig zu längeren Wartezeiten und somit zu mehr Stress bei den Betroffenen, sagt Vollrath. Zumal ein stärkeres Verkehrsaufkommen auch schnelleren Verschleiß der Straßen bedeutet, was wiederum zu der Häufung von Baustellen führe, die ebenfalls als Zeitfresser bekannt sind.