In London bekommen die Befürworter eines EU-Austritts anscheinend Angst vor der eigenen Courage.

London. Es ist noch gar nicht so lange her, da gab Theresa May die Hohepriesterin eines harten Brexits. Der Austritt aus der Europäischen Union sollte in einem scharfen Schnitt erfolgen, lautete die Devise. „Wir streben nicht danach, an Häppchen der Mitgliedschaft festzuhalten“, betonte die britische Premierministerin noch bei einer Rede im Januar. Die Kampfansage an Brüssel schien sie zu genießen. Im Wahlkampf im Mai trat die Brexit-Queen noch resoluter auf. „Wir glauben weiter daran, dass keine Vereinbarung für Großbritannien besser ist als eine schlechte“, stichelte sie.

Dann kam die Unterhauswahl am 8. Juni, zu der May ohne Not aufgerufen hatte und die sie völlig vergeigte. Die regierenden Konservativen verloren ihre komfortable Mehrheit im Parlament. Die Premierministerin musste eine Koalition mit der nordirischen DUP eingehen. Mittlerweile sind die „Brexiteers“, die monatelang vor lauter Kraft nicht laufen konnten, ziemlich kleinlaut geworden.

Seit der vergangenen Woche veröffentlicht die britische Regierung ein Brexit-Positionspapier nach dem anderen. Der Eindruck verdichtet sich: Man scheut die harte Trennung. Vieles soll beim Alten bleiben. Die Propheten des EU-Ausstiegs scheinen Angst vor der eigenen Courage zu bekommen.

Ein Beispiel für eine Kehrtwende ist die Rolle des Europäischen Gerichtshofs. In ihrer Grundsatzrede Anfang des Jahres im Lancaster House hatte May eine rote Linie gezogen. Sie wolle nach dem Austritt aus der EU „ein Ende der Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs in Großbritannien“ sehen.

Am Mittwoch nahm die britische Regierung die Position mit einem einzigen kleinen Wort zurück. Das Brexit-Ministerium veröffentlichte ein Strategiepapier zu der Frage, wie künftige Streitfälle zwischen der EU und Großbritannien geregelt werden sollen. Und da hieß es, man wolle „die direkte Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Großbritannien beenden“. Was bedeutet: Indirekt kann der EuGH durchaus noch wirksam werden. Etwa dann, wenn sich eine Schiedsstelle, die aus einem britischen, einem europäischen und einem unabhängigen Richter besteht, nicht einigen kann und den EuGH als letzte Instanz anruft.

Ein weiteres Beispiel für eine Rolle rückwärts ist die von Großbritannien neuerdings angestrebte Übergangsregelung bei der Zollunion nach dem im März 2019 erfolgten EU-Austritt. Im Januar hatte May noch gedroht: Sollte sich Großbritannien innerhalb der zweijährigen Verhandlungen nicht mit der EU einigen, dann betreibt das Land eben seinen Außenhandel nach den Regeln der Welthandelsorganisation.

Jetzt klingt es anders. Nach einem Positionspapier des Brexit-Ministeriums von vergangener Woche soll es eine rund zwei Jahre lange Interimsperiode für eine Zollunion zwischen der EU und dem Königreich geben. Ein Modell sieht vor, die bisherigen Regelungen der EU-Zollunion einfach weiterlaufen zu lassen. Allerdings soll es London bereits in der Zeit erlaubt sein, neue Handelsabkommen mit Drittländern zu vereinbaren.

Bei der Regelung der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland will London, dass sich möglichst wenig ändert. Nach einem Positionspapier der Regierung soll eine „harte Grenze“

mit Schlagbäumen, Grenzposten oder Grenzbeamten vermieden werden.

Auch der Personenverkehr soll weiterhin unkontrolliert bleiben. Für die Kontrolle des Warenaustauschs ist eine elektronische Registrierung vorgesehen, die bereits vor dem Grenzübertritt abgeschlossen ist.