Braunschweig. An vielbefahrenen Straßen gilt ein strengerer Grenzwert als in Innenräumen.

Unser Leser Heinrich Gades aus Braunschweig fragt:

Angeblich ist im Büro eine viel höhere Stickoxidkonzentration erlaubt als auf der Straße. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Die Antwort recherchierte Johannes Kaufmann

Schadstoffgrenzwerte sollen auf Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands die Bevölkerung vor Gesundheitsgefahren schützen. Da mag es überraschen, dass diese Grenzwerte sich für verschiedene Bevölkerungsgruppen teils enorm unterscheiden. Für Stickstoffdioxid (NO2) in der Außenluft, das zu großen Teilen aus Abgasen aus dem Straßenverkehr stammt, gilt innerhalb der EU ein Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Dieser Wert darf zwar in Einzelfällen überschritten werden, nicht aber im Jahresmittel.

Am Arbeitsplatz hingegen gilt die Gefahrstoffverordnung, die für Stickstoffdioxid einen Grenzwert von 950 Mikrogramm pro Kubikmeter festlegt, nahezu das 24-Fache des Außenluftwerts. Grundlage des Arbeitsplatzgrenzwerts (AGW) ist die Einschätzung der Ständigen Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die erklärt in ihrem Gutachten von 2009, dass in Studien an menschlichen Probanden „adverse Effekte“ etwa ab dem Dreifachen des AGW auftreten. Zu solchen Effekten zählen etwa Entzündungsreaktionen in der Lunge und eine Schwächung von Immunzellen.

Aussagen zum Potenzial von Stickstoffdioxid, Krebs zu erzeugen oder Fehlbildungen bei Embryos hervorzurufen, macht die Kommission aufgrund mangelhafter Datenlage nicht. Eine mögliche Veränderung des Erbguts durch NO2 könne laut der Kommission aber „keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielen“.

Laut Gefahrstoffverordnung gibt der AGW an, bei welcher Konzentration eines Stoffes akute oder chronische schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen nicht zu erwarten sind. Dabei geht er von der Lebensarbeitszeit bei einer 40-Stunden-Woche aus.

„Die Gefahrstoffverordnung gilt aber nur für Arbeitsplätze, an denen mit Gefahrstoffen gearbeitet wird. Und Stickoxide entstehen selten im Büro“, sagt Jörg Feldmann, Pressesprecher der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Für alle anderen Arbeitsplätze sei die Vorgabe, dass die Luft „gesundheitszuträglich“ sein solle.

„Stickstoffdioxid in der Außenluft sind hingegen alle Menschen rund um die Uhr ausgesetzt“, schreibt das Umweltbundesamt (UBA) auf seiner Internetseite. Damit seien auch besonders sensible Gruppe wie Kinder, Schwangere oder Menschen mit Asthma betroffen.

Allerdings schreibt das UBA selbst, dass Menschen etwa 90 Prozent ihrer Lebenszeit in Innenräumen verbringen. Und in Privaträumen und Büros gilt der sogenannte Richtwert II, der mit 60 Mikrogramm pro Kubikmeter ebenfalls deutlich über dem Außenluftgrenzwert liegt – ein überraschender Widerspruch, der gleich mehreren unserer Leser aufgefallen ist.

„Der Richtwert für den Innenraum wurde in den 90er Jahren abgeleitet. Aufgrund des niedrigeren Grenzwertes für die Außenluft und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den gesundheitlichen Wirkungen von NO2 wird eine Aktualisierung des Richtwertes angestrebt“, sagt dazu Myriam Tobollik von der Abteilung Umwelthygiene des UBA.

Denn auch niedrige Konzentrationen seien problematisch. „Studien belegen, dass es auch unterhalb des Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen kommen kann. Aktuelle Studien weißen darauf hin, dass es keine gesundheitliche Wirkungsschwelle von NO2 gibt.“

Das stellte auch die US-Umweltbehörde EPA nach Auswertung des Forschungsstands im Januar 2016 fest. Es sei nicht ermittelbar, ob es eine Konzentration gibt, unterhalb derer keine Effekte auftreten. Allerdings beschränkt die EPA diese Aussage auf „Atmungseffekte“. Es sei nachgewiesen, dass NO2 Asthma-Attacken auslösen könne. Für einen Einfluss auf andere Effekte wie Infektionen oder die Chronische Obstruktive Lungenerkrankung (COPD) gebe es „einige Evidenz“. Allerdings sei dieser Effekt nicht eindeutig von anderen Abgas-Bestandteilen zu trennen.

Bei anderen häufig angeführten Auswirkungen auf die Gesundheit wie Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Krebs und die allgemeine Sterblichkeit ordnet die EPA NO2 in ihrer Bewertungsskala in die Kategorie 3 (von 5) ein: Es gibt Hinweise, aber keinen ausreichenden Beleg für einen Wirkzusammenhang. Denn Grundlage dieser Einschätzung sind keine toxikologischen Untersuchungen an Tieren oder Menschen, sondern epidemiologische Studien, die nach statistischen Zusammenhängen zwischen Schadstoffbelastung und Gesundheitseffekten in großen Populationen suchen. Solche Studien können keine Wirkungen beweisen und kaum den Effekt einzelner Stoffe im Abgas bestimmen.

Diese Forschungslage verleiht der Festlegung von Grenzwerten ein willkürliches Element. Mit ihr ließe sich ein Grenzwert von 0 begründen – was allerdings unmöglich einzuhalten wäre, da NO2 auch natürlich entsteht – oder ein deutlich höherer Wert als der aktuell gültige.