Braunschweig. Der Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz geht im Interview auf die Entwicklung der Migration sowie ihre Vor- und Nachteile ein.

Über die neuen Zuwandererzahlen sprach Silja Meyer-Zurwelle mit Bevölkerungsforscher Dr. Reiner Klingholz.

Sehr geehrter Herr Dr. Klingholz, in den vergangenen Jahren ist die Zahl der Migranten in Deutschland kontinuierlich angestiegen. Glauben Sie, dass sich dieser Trend fortsetzen wird?

Mit Sicherheit nicht in dem gleichen Umfang. Wenn Sie sich die Zuwanderungszahlen mal über die letzten Jahrzehnte hinweg anschauen, geht das immer rauf und runter. Es gab Gründe für starke Zuwanderung, zum Beispiel die Anwerbung der Gastarbeiter. Dann kamen die Wirtschaftskrisen, die wieder für Abwanderung sorgten. Ende der 80er, Anfang der 90er gab es die starke Zuwanderung von Spätaussiedlern und von Flüchtlingen durch die Jugoslawienkriege. Dann wurde das Asylrecht verschärft – und die Zahlen sanken wieder. Und zur Wirtschaftskrise 2008/2009 verzeichnete Deutschland im Saldo wieder eine Abwanderung. Jetzt, seit einigen Jahren, geht es wieder in die umgekehrte Entwicklung. Der Grund ist zum einen die Freizügigkeit innerhalb der EU. Seitdem können auch Menschen aus Bulgarien, Polen und Rumänien zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Dann kamen die Flüchtlinge hinzu. Und danach Migranten aus Afrika, von denen man mittlerweile gar nicht mehr genau sagen kann, ob es nun Wirtschaftsflüchtlinge oder Flüchtlinge sind, oder ob es eher um eine Art Völkerwanderung handelt.

Das Auf und Ab, das Sie skizzieren, könnte dafür sprechen, dass die Zahlen bald wieder sinken...

Die Grafik zeigt die Veränderung der Migrationszahlen von 2016 gegenüber 2015. Sie unterteilt sich in die (ehemaligen) Regierungsbezirke.
Die Grafik zeigt die Veränderung der Migrationszahlen von 2016 gegenüber 2015. Sie unterteilt sich in die (ehemaligen) Regierungsbezirke.

So war es in der Vergangenheit. Es kann natürlich auch sein, dass nach dem hohen Anstieg, den wir jetzt haben, sogar noch mehr kommen, dass es so bald kein „Ab“ gibt, sondern das „Auf“ noch weitergeht. Man weiß das schlicht und einfach nicht. Die Gründe für die Zuwanderung aufgrund von Krisen nehmen jedenfalls zu. Die Zahl der weltweiten Krisen nimmt auch zu. Wir haben ein starkes Bevölkerungswachstum in Afrika und ein Einkommens- und ein Sicherheitsgefälle zwischen diesen Ländern und Europa. Diese Gründe sprechen dafür, dass es mehr Zuwanderer werden. Einzig die europäische Politik, mit den sicheren Außengrenzen und der Überwachung des Mittelmeers, ist ein Faktor, der dafür sprechen könnte, dass die Zahlen nicht so stark wachsen.

Was sagen Sie zu der politisch diskutierten Obergrenze? Wie viel Zuwanderung verträgt ein Land?

Auf der einen Seite brauchen wir Zuwanderung, weil die wirtschaftliche und die demografische Entwicklung zusehends Menschen aus anderen Ländern für den Arbeitsmarkt erfordert. Aber das Angebot ist einfach größer als das, was wir brauchen. Hier steckt das Problem. Und jene, die derzeit kommen, genügen nicht unbedingt den Kriterien des Arbeitsmarkts. Wenn man eine gesteuerte Zuwanderungspolitik hätte, wie es sie etwa in Kanada gibt, dann ginge es ja darum, welche Zahl von Menschen in welchen Arbeitsbereichen wir brauchen. Das ist eine andere Sache. Bei Wirtschaftsmigration kann und darf ein Staat auswählen. Bei Migration aus humanitären Gründen haben wir andere Kriterien. Und dann darf rein, wer verfolgt oder bedroht ist. So besagt es die Genfer Flüchtlingskonvention. Deswegen sind da die Steuerungsmöglichkeiten gering. Jetzt eine Obergrenze ansetzen zu wollen, ist von der Rechtslage her relativ schwierig. Aber andere Länder machen es so. Die scheren sich wenig um die Genfer Konvention.

Was sind die größten Herausforderungen der Migration?

Im Wesentlichen ist es die Integration. Die geht vor allem über den Arbeitsmarkt. Also wenn die Menschen, die hierherkommen, einen Job kriegen und sich ihre Existenz finanzieren können, ist eine Integration wahrscheinlich. Da gibt es Millionen guter Beispiele, wie das gelingen kann. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Wenn aber viele mit einem schlechten Ausbildungsstand kommen, dann sind die Anstrengungen für die Integration größer. Viele der jungen Menschen müssen erst einmal die Schule nachholen. Sie müssen die Sprache lernen. Das braucht Zeit und Geduld. Auch bei den Zuwanderern. Und die haben nicht unbedingt immer die Geduld, weil sie auch erst einmal Geld verdienen wollen, das sie dann in die Heimat zurückschicken können.

Sie machen also keine Ausbildung, sondern suchen einen einfachen Job. Und das ist langfristig falsch.

Was sind denn dagegen die Faktoren von Migration, die eine Gesellschaft bereichern?

Es gibt Beispiele wie Kanada oder die USA, die ohne Zuwanderung gar nicht diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hätten. Im Silicon Valley in Kalifornien sind bei den neugegründeten Unternehmen überproportional viele Migranten dabei. Menschen aus Pakistan, Indien, Afrika gründen dort mehr Firmen als Einheimische. Teilweise sehr innovative Unternehmen. Die ganze Kreativität, die sich dort entfaltet, entstammt zu einem großen Teil den Köpfen und der Leistungsfähigkeit von Zuwanderern. Zuwanderer bringen immer andere Ideen aus anderen Weltregionen mit. Die wollen was hinkriegen und haben im Schnitt eine größere Motivation als Einheimische.

Den Leitartikel zum Thema finden Sie hier: Das Einwanderungsland