Maiduguri. Zur Bekämpfung der Terrormiliz greift das Militär zu drastischen Mitteln. Selbst Hunderte Minderjährige kommen in Internierungslager.

Als Mohammed Abdullahi eines Nachts aufwachte, stand sein Onkel über seinem Bett. Er solle mitkommen, sagte er. Dann weckten sie seinen Bruder Abba. Bei Sonnenaufgang befanden sich die drei in einem Lager der Terrormiliz Boko Haram, tief im gefürchteten Sambisa-Wald im Nordosten Nigerias. Der Onkel, der sich der Miliz anschlossen hatte, zwang den zehnjährigen Mohammed und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder, sich den Fundamentalisten unterzuordnen. „Ich habe gesehen, wie Leute zusammengeschlagen und getötet wurden. Wir hatten große Angst“, erinnert sich Mohammed.

Die Brüder hatten Glück. Wenige Monate später spürte ihr Vater sie auf und schlich sich mit ihnen aus dem Lager. Doch dann wurden sie von Soldaten aufgegriffen und in militärische Untersuchungshaft in der Stadt Maiduguri genommen, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno. Nigeria muss die brutale islamistische Terrormiliz bekämpfen, doch Menschenrechtler warnen, dass beim Militär der Zweck anscheinend alle Mittel heiligt – und die Regierung in Abuja schweigt.

Die Kinder Mohammed und Abba wurden getrennt von ihrem Vater festgehalten und verhört. „Unsere Zelle war überfüllt. Wir haben Essen bekommen, aber kaum Wasser“, erzählt Mohamed, der jetzt in einem von der UN geleiteten Transitzentrum für Kinder betreut wird. Während der vier Wochen in U-Haft habe er sich nur zweimal waschen dürfen, sagt der Junge. Die Soldaten seien streng gewesen. Den ganzen Tag mussten sie still sitzen. „Wer spielen wollte, wurde geschlagen“, so Mohammed. Seinen Vater habe er nur zweimal aus der Ferne gesehen. „Wir haben uns zugewinkt. Miteinander reden durften wir nicht.“

Menschenrechtsorganisationen setzen sich seit vielen Monaten für eine Verbesserung der Bedingungen in den Internierungslagern des Militärs ein, aber bislang mit wenig Erfolg. „Es ist nicht vertretbar, Kinder ohne Anklageerhebung für einen längeren Zeitraum zu inhaftieren“, sagt Caroline Aloyo, eine Unicef-Kinderschutzexpertin. Kinder unter 18 Jahren müssten nach internationalem Völkerrecht binnen 24 Stunden an die nächste zivile Behörde übergeben werden, erklärt die Expertin. „Selbst, wenn das Kind bewaffnet ist.“ Unicef verhandle deswegen bereits seit drei Jahren mit den nigerianischen Streitkräften.

Das Militär hat jedoch andere Prioritäten. Schlimme Zeiten erfordern drastische Maßnahmen, so die Logik. Die sunnitischen Fundamentalisten der Boko Haram verüben fast täglich Anschläge und Angriffe im Nordosten Nigerias sowie in angrenzenden Gebieten der Nachbarländer. Seit 2009 haben sie schätzungsweise 20 000 Menschen getötet.

Jeder, der mit Boko Haram in Kontakt gekommen sei, müsse daher detailliert verhört werden, sagt Oberst Onyema Nwachukwu, der Sprecher des Einsatzes gegen Boko Haram. „Wir müssen den Grad der Einbindung in die Miliz bestimmen, herausfinden, was sie genau wissen“, erklärt Nwachukwu.

Kinder seien keine Ausnahme. Er will aus Sicherheitsgründen nicht sagen, wie viele Menschen das Militär in U-Haft hält. Boko Haram habe die zum Gefängnis umfunktionierte Giwa-Kaserne bereits zweimal angegriffen, um Anhänger zu befreien.

Nach UN-Schätzungen befinden sich derzeit 530 Jungen und Mädchen in Internierungslagern im Bundesstaat Borno, der Hochburg Boko Harams. Amnesty International bezeichnete die Giwa-Kaserne im vergangenen Jahr als „Ort des Todes“, in dem Babys, Kinder und Erwachsene aufgrund „unerträglicher Bedingungen“ in ihren Zellen sterben. Mindestens 149 Gefangene, einschließlich elf Kinder unter sechs Jahren, seien in den ersten fünf Monaten von 2016 gestorben.

Mohammed und Abba wohnen seit ihrer Entlassung aus der Haft in einem Transitzentrum in Maiduguri. Ihre Kleidung ist alt, aber sauber, ihre Bäuche voll. Was bleibt, ist nicht sichtbar: die Narben auf der Seele. dpa