Braunschweig. Dennoch gibt es laut dem Innenminister in Niedersachsen keinen Autonomen, der als Gefährder eingestuft ist. Pistorius attackiert die CDU.

Landesinnenminister Boris Pistorius (SPD) äußert sich im Interview außerdem über Fankrawalle und die schwierige Lage Salzgitters. Mit ihm sprachen Andre Dolle und Michael Ahlers.

Vor dem G20-Gipfel hat Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz Bürger beruhigt und gesagt, sie würden sich wundern, dass der Gipfel schon vorbei sei - sprich: Es passiere nichts. Eine solche Flop-Prognose gab es wohl selten. Was haben Sie vom Spruch Ihres Parteifreundes gehalten?

Ich habe diese Prognose vor dem Gipfel gar nicht wahrgenommen.

Hätte ein Innenminister das gesagt, hätte er wohl zurücktreten müssen.

Das weiß ich nicht. Olaf Scholz hat sich entschuldigt, nun ist es auch gut.

Sie haben als Reaktion auf den Gipfel eine europäische Extremistendatei gefordert, weil Linksextreme aus anderen Ländern nach Hamburg gekommen sind, um Krawall zu machen. Auch Niedersachsen hat aber eine Autonomenszene. Gibt es inzwischen Erkenntnisse, wie viele Niedersachsen in Hamburg mitgemischt haben?

Es gibt die Vermutung, dass zwei Drittel der in Niedersachsen bekannten gewaltbereiten Autonomen in Hamburg dabei gewesen sein könnten. Wie viele es tatsächlich waren, wird kaum feststellbar sein. Diese Personen werden ja nicht observiert – dafür gibt es auch keine Grundlage. Ob Niedersachsen unter den Festgenommenen sind, wissen wir jetzt noch nicht.

Die Behörden sprechen von 625 gewaltbereiten Linksextremen in Niedersachsen. In Göttingen gibt es schon lange eine Autonomenszene. Gibt es weitere Hochburgen? Und ist die Göttinger Szene eine Art Rote Flora in Niedersachsen - und ebensowenig kontrollierbar?

Zunächst einmal müssen wir die Frage stellen, was wir unter einer kontrollierten Szene verstehen. Wir kennen die Szene, wir wissen, wer dazu gehört, kennen die Schattierungen. Teile der Szene werden beobachtet, andere nicht. Göttingen ist der Kristallisationspunkt für diese Szene in Niedersachsen. Es gibt aber auch in Hannover, in Braunschweig, Osnabrück und Oldenburg im Vergleich zu Göttingen kleinere linksextreme Szenen. Man sollte sich davor hüten, jede linksextreme Szene eins zu eins mit Gewalttätern gleichzusetzen. Wir achten aber genau darauf, wo die Grenzen verschwimmen. Gerade nach Hamburg müssen sich alle Teile dieser Szene fragen, ob sie sich auch in Zukunft nur zaghaft oder gar nicht von Gewalt distanzieren wollen.

In welcher Größenordnung haben wir denn in unserer Region gewaltbereite Linksautonome?

In Braunschweig gehen wir von etwa 50 der linksextremen Szene zugehörigen Männern und Frauen aus. Wie viele davon gewaltbereit sind, das lässt sich nicht klar beziffern. Die Gewaltbereitschaft ist aber in Braunschweig niedriger ausgeprägt als in Göttingen.

In Niedersachsen werden vor allem Islamisten als Gefährder eingestuft. Hätte man denn nicht auch Linksextremisten daran hindern können, zum G20-Gipfel zu fahren?

Auch eine Einstufung als Gefährder heißt ja nicht zwingend, dass wir jemanden daran hindern dürfen, sich im Bundesgebiet zu bewegen. In Niedersachsen gibt es keinen Linksextremisten, der als Gefährder eingestuft ist. Das hat seine Gründe. Ein Gefährder ist jemand, bei dem bestimmte Tatsachen die Annahme der Polizeibehörden rechtfertigen, dass er Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Wir können nicht nur aufgrund der Zugehörigkeit zur autonomen Szene jemanden daran hindern, nach Hamburg zu fahren. Wir leben in einem Rechtsstaat. Das Grundrecht auf Freizügigkeit gilt für jedermann.

Wer im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2013 den Begriff Linksextremismus eingibt, erhält null Treffer, der Rechtsextremismus wird dagegen explizit erwähnt. War oder ist Rot-Grün auf einem Auge blind?

Nein, auf gar keinen Fall. Die Sicherheitsbehörden bekämpfen jede Form von Extremismus. Ich mache da überhaupt keinen Unterschied. Allerdings sind die verschieden Szenen und Radikalisierungsverläufe ganz unterschiedlich. Die rechtsextreme Szene unterscheidet sich von der linksextremen grundlegend, was nicht heißt, dass die eine besser oder schlechter ist. Die islamistische Szene ist noch mal wieder etwas ganz anderes. Wir haben auch bundesweit mehr als doppelt so viele rechtsextreme Straftaten wie linksextreme. Wir haben deutlich mehr Körperverletzungen im rechtsextremen Bereich als im linksextremen. Wir haben im rechtsextremen Bereich auch mehr vollendete und versuchte Tötungsdelikte. Gerade nach Hamburg darf man nicht alles in einen Topf werfen. Und nur weil ein Wort nicht im Koalitionsvertrag steht, heißt es ja nicht, dass wir die notwendige Arbeit nicht sorgfältig erledigen. Wir haben früh die Anstrengungen gegen den Linksextremismus forciert. Die CDU hat damals nicht viel mehr gemacht, als einen sonderbaren Comic aufzulegen. Wir nehmen Extremismus jeder Ausprägung sehr ernst. Ein Extremismus, der Gewalt anwendet, ist kriminell, und wird von uns auch so behandelt.

Die Union schlachtet den G20-Gipfel aus. Was halten Sie davon?

Ich halte das für gefährlich. Die CDU kümmert sich beim Thema innere Sicherheit nicht mehr darum, die Probleme wirklich an der Wurzel zu packen, weil sie konzeptlos ist. Sie konzentriert sich darauf, Ängste in der Gesellschaft zu schüren in der Hoffnung, davon politisch zu profitieren. Das ist ein übler Reflex: Auch der Hamburger Senat unter Führung des CDU-Bürgermeister Ole von Beust und seinem Innensenator Ronald Schill hat die Rote Flora nicht geschlossen. Und um auf den Einsatz zurückzukommen, dieser wird doch nicht von einem Bürgermeister oder einem Innenminister gelenkt. Das ist operative polizeiliche Arbeit - ebenso wie die Lageeinschätzung und das Anfordern von Kräften. Es ist durchsichtig, was die Union hier versucht. Das tut unserer Demokratie nicht gut.

Fest steht aber, dass Herr Scholz sich massiv verschätzt hat. Der Hamburger Gipfel war nicht sicher.

Ich werde mich hüten, aus der Ferne ein Einsatzkonzept zu bewerten. Ich war aber am Donnerstagmorgen noch in Hamburg und habe mich mit unseren Einsatzkräften aus Niedersachsen unterhalten. Ich hatte nicht im Ansatz den Eindruck, dass die Polizei irgendetwas ungenutzt gelassen hätte, um den Einsatz erfolgreich zu bewältigen. Ein Stadtgebiet in einer solchen urbanen Struktur wie Hamburg drei Tage lang rund um die Uhr gegen einen kriminellen Mob zu verteidigen, dessen Ziele völlig willkürlich sind, ist schwierig. Das war auch Kanzlerin Merkel bekannt, die unbedingt wollte, dass der Gipfel in Hamburg stattfindet. Wir haben in Hamburg eine neue Form der Gewalt gesehen, bei der Polizisten in den Hinterhalt gelockt werden sollten, um sie mit Gehwegplatten und Molotow-Cocktails zu bewerfen. Da musste das SEK erst einmal einschreiten.

Welche Lehren zieht Niedersachsen im Umgang mit Linksautonomen?

Wir haben keinen Nachholbedarf. Aber natürlich fließen auch die Erfahrungen aus Hamburg in unsere Arbeit ein. Wir haben den Linksextremismus immer ernst genommen, er spielt außerhalb von Göttingen aber eine geringere Rolle. Wir behalten die autonome Szene natürlich weiter sehr genau im Blick.

Sie haben sich wiederholt gegen Fangewalt ausgesprochen. Anlass waren die Derbys Eintracht Braunschweig gegen Hannover 96 und kürzlich die Relegationsduelle zwischen Braunschweig und Wolfsburg. Ihr Fankongress stößt auf Ablehnung. Einzelne Gruppen werfen Ihnen Aktionismus, andere sogar Hang zur Show vor. Kränkt Sie das?

Nein. Hier liegt ein Missverständnis vor: Ich habe in einem Interview gesagt, dass ich mir in extremen Fällen als Ultima Ratio für schwere Wiederholungstäter auch lebenslange Stadionverbote vorstellen kann, nachdem ich ganz konkret danach gefragt worden bin. Es sei aber klar gesagt: Das wäre das allerletzte Mittel, falls wir zum Beispiel Gewalt im Stadion und das Werfen von Pyros nicht langfristig in den Griff bekommen. Ich selbst gehe seit 40 Jahren ins Stadion, ich will ganz sicher keine leeren Kurven sehen und auch keine reinen Sitzplatzstadien haben. Die verkürzt dargestellten Sätze aus dem Interview haben aber dennoch - leider - ihre Wirkung entfaltet.

Und was ist mit dem Fankongress?

Da soll die Gewalt gar keine große Rolle spielen. Es soll vielmehr um die Frage gehen, wem eigentlich der Fußball gehört. Was macht den Fußball aus? Was macht die Eventisierung und die Kommerzialisierung mit dem Fußball? Ich will diesen Dialog nach wie vor führen, aktiv, offen und konstruktiv. Ich wollte damit gar nicht an die Öffentlichkeit, sondern mit allen Gruppen der Akteure im Stadion ins Gespräch kommen. Nun stellt das Bündnis „Pro Fans“ Bedingungen, um einen Dialog zu führen. Auf dieses Spielfeld begebe ich mich aber nicht. Wer mit mir reden will, ist herzlich eingeladen. Ich stelle dafür keine Vorbedingungen. Ich glaube fest daran, dass ein solches Gespräch für den Fußball hilfreich sein kann.

Nun hat der DFB Strafen gegen Eintracht Braunschweig und Hannover 96 ausgesprochen. Bei der Eintracht bleibt beim ersten Heimspiel der Saison ein ganzer Block gesperrt. Damit ist das Problem aber noch nicht behoben.

Die allermeisten Spiele verlaufen friedlich. Bei Partien der Eintracht sind im Schnitt lediglich etwa mehr 340 Polizisten im Einsatz. Wir haben aber immer mehr Probleme bei Risikospielen, bei denen wir auch wesentlich mehr Polizei brauchen. Gewalt hat im Stadion nichts verloren. Pyrotechnik hat für viele Fans eine gewisse Bedeutung, das verstehe ich. Pyrotechnik ist aber gefährlich, also müssen wir uns über Spielregeln unterhalten. Wenigstens das muss doch möglich sein.

Unsere Leser beschweren sich immer wieder über die hohen Polizeikosten bei Risikospielen. Sollten die Vereine nicht stärker zur Kasse gebeten werden?

Die Vereine, der DFB und die DFL zahlen Steuern – in beträchtlicher Höhe. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat, die Sicherheitsbehörden werden aus Steuermitteln finanziert. Wenn man davon abweichen will, macht man ein Fass auf: Es kann am Ende sein, dass jeder Veranstalter für die Sicherheit bezahlen muss. Das müssen wir uns gut überlegen, ob wir das wollen. Die meisten Probleme haben wir außerhalb der Stadien, nicht innerhalb. Wir müssen über die Probleme und ihre Ursachen reden, nicht über das Abwälzen der Kosten.

Beim Salafismus scheint das Land mittlerweile schärfer durchzugreifen. Sie haben nun den zweiten Göttinger Gefährder abgeschoben, der Hildesheimer „Deutschsprachige Islamkreis“ wurde verboten, das Moscheegebäude vom Land jüngst beschlagnahmt. Als islamistischer „Hotspot“ gilt auch die Moschee der „Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft“ in Braunschweig. Ist die Ausrichtung der DMG mit Hildesheim vergleichbar?

Zunächst: Wir sind von Anfang an deutlich energischer als die alte Landesregierung gegen den Salafismus vorgegangen. Schwarz-Gelb hatte sich mit Papieren begnügt. Ein Vereinsverbot wie in Hildesheim lässt sich aber nicht einfach so aus dem Hut zaubern. Solch ein Grundrechtseingriff muss extrem hohe Hürden bei der gerichtlichen Überprüfbarkeit überwinden. Wir haben die DMG in Braunschweig selbstverständlich im Auge. Das gilt für Verfassungsschutz und Polizei.

Sie sagten, Rot-Grün habe den Islamismus nie aus dem Blick verloren. Dabei gab es die Ausreisewelle in Wolfsburg, die Sicherheitsbehörden hatten monatelang keine Kenntnis von einem IS-Anwerber.

Erst mit Beginn des Syrien-Krieges 2011 und der späteren Gründung des IS-Kalifats gab es eine Entwicklung. 2011 und 2012 gab es diese Probleme noch gar nicht. Eine solche Entwicklung ergibt sich, sie verstetigt sich, dynamisiert sich und wird dann erst sichtbar. Als sie sichtbar wurde, haben wir sofort reagiert. Erst als die ersten Wolfsburger ausreisten und wieder zurückkamen, wurde das Konstrukt erkennbar. Hinterher ist das immer ganz leicht zu bewerten.

Sind Fehler gemacht worden?

Ganz bestimmt ist das so. Es gab individuelle Fehler, es gab Momente, in denen die Behörden nicht so wachsam waren, wie sie es heute sind. Der Islamismus hat sich weltweit rasant entwickelt. Denken Sie an die vielen tödlichen Anschläge. Beispielsweise in Bayern, London oder Paris. Aber wenn eine neue Entwicklung erscheint, hat nicht jeder sofort den gleichen Stand und die gleiche Sensibilität und Wachsamkeit. Heute reagieren die Sicherheitsbehörden anders auf Warnhinweise in islamistischen Kreisen. Ich glaube, dass unsere Sicherheitsbehörden in diesem Bereich sehr viel gelernt haben und sehr gut aufgestellt sind, aber das war natürlich ein Lernprozess. So etwas wächst, das war beim RAF-Terrorismus leider genauso.

In Salzgitter leben 5000 Flüchtlinge. Oberbürgermeister Klingebiel hat einen Hilferuf an die Landesregierung gesendet. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Die Zahl ist für eine Stadt wie Salzgitter problematisch, da gibt es gar keinen Zweifel. Wir nehmen den Hilferuf ernst. Der Ministerpräsident hat mit dem Oberbürgermeister geredet, es finden Gespräche mit meinem Ministerium und mit dem Sozialministerium statt. Die Frage ist nur, welches Instrument man einsetzt. Geld kann das Problem lindern, aber nicht lösen. Eine Wohnsitzauflage muss man sich sehr gut überlegen. Wir arbeiten gerade an einer sogenannten lageangepassten Wohnsitzregelung, die Salzgitter als Zuzugsort ausschließt. Das würde allerdings mit einer Stigmatisierung einhergehen, dessen müssen sich auch die Salzgitteraner bewusst sein.

Wird es eine Entscheidung vor der Landtagswahl im Januar geben?

Davon gehe ich aus.

Sie beraten den SPD-Kanzlerkandidaten Schulz in Sicherheitsfragen, haben sich über die Landesgrenzen hinweg einen Namen gemacht. Reizt Sie Berlin?

Meine Tochter lebt dort, von daher reizt mich Berlin immer. Im Ernst: Ich habe immer versucht, meinen Job so gut wie möglich zu machen. Wenn das dazu führt, dass ich um Rat gefragt werde, mache ich das gerne. Ich mache das aber nicht, weil ich irgendwelche Ämter anstrebe. Ich fühle mich in Niedersachsen sehr wohl. Soweit ich in Berlin Einfluss nehmen kann, mache ich das gerne um der gemeinsamen Arbeit willen. Um mehr geht es mir gerade nicht.