Braunschweig. Mediziner raten, die Angehörigen von Alkoholkranken in die Behandlung einzubeziehen.

Unsere Leserin Monika Fritzke aus Braunschweig fragt:

Die furchtbaren Nöte der Angehörigen von alkoholkranken Menschen – zum Beispiel der Kinder – werden von fast allen unterschätzt! Dafür fühlt sich meist niemand zuständig. Was tut die Politik, um mehr Unterstützung für Angehörige zu ermöglichen?

Die Antwort recherchierte Sibylle Haberstumpf

Hopfen und Malz, Gott erhalt’s, sagt der Biertrinker und orientiert sich dabei gerne am deutschen Reinheitsgebot aus dem Jahr 1516. Der Alkohol, er gilt hierzulande als Kulturgut und Genussmittel mit langer Tradition. Doch laut dem Robert-Koch-Institut stellt er auch das größte Suchtproblem in Deutschland dar. In Zahlen heißt das: In Deutschland gibt es etwa 1,9 Millionen Abhängige und rund 1,6 Millionen Menschen mit „schädlichem Gebrauch“ von Alkohol. Jeden Tag sterben rund 200 Menschen durch zu hohen Alkoholkonsum, jährlich liegt die Zahl bei 74 000, hat die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG Sucht) errechnet.

Zur Qual wird die Alkoholsucht aber oft auch für Angehörige, meint unsere Leserin Monika Fritzke. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Carola Reimann, deren Schwerpunkt im Bereich Arbeit, Soziales und Familie liegt, kann das nachvollziehen. „In der Politik diskutieren wir darüber immer wieder. Unsere Krankenkassen fühlen sich nicht zuständig, denn der Leistungsanspruch bei Behandlungen gilt ja nur für den Betroffenen“, sagt die Sozialdemokratin.

Gesellschaftliche Aufgabe

Aus Berlin kamen gestern weitere Fakten. Mehr als drei Millionen Kinder in Deutschland wachsen mit mindestens einem suchtkranken Elternteil auf, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), mitteilte. Somit sei jedes fünfte Kind direkt von einer Abhängigkeit der Eltern betroffen. Mortler: „Wir müssen immer, wenn es um einen suchtkranken Erwachsenen geht, die Kinder gleich mitdenken – in der ambulanten Suchthilfe, in den Kliniken, bei den Suchtmedizinern, in der Reha.“ Die Hilfe für diese Kinder sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Keiner könne sie allein lösen, „nicht die Jugendämter, nicht die Suchthilfe, nicht die Kassen, nicht die Rentenversicherung, nicht die Kommunen oder der Bund.“ Direkt vor Ort hänge alles stark davon ab, wie gut die Kommunalpolitik vernetzt sei, ergänzt Carola Reimann. „Die Versorgung mit Angeboten ist nicht flächendeckend gut. Da haben wir in Deutschland einen bunten Flickenteppich.“ Unter dem Portal braunschweig-hilft.de etwa sind viele regionale Anlaufstellen aufgelistet – darunter Selbsthilfegruppen wie die Guttempler, der Sozialpsychiatrische Dienst oder das Lukas-Werk, das ein Gruppenangebot namens „Trampolin“ für Kinder aus suchtbelasteten Familien durchführt.

Überfordert und hilflos

Wie wichtig es für Angehörige ist, die Suchtproblematik früh anzusprechen und sich auch früh professionelle Hilfe zu suchen, unterstreicht Dr. Brigitte Buhr-Riehm vom Gesundheitsamt Braunschweig: „Die Belastung im Zusammenleben mit einem Suchtkranken wird oft unterschätzt. Die persönliche Bindung zu dem Suchtkranken macht konsequentes Handeln schwer.“ Sinnvoll sei deshalb die Unterstützung in Selbsthilfegruppen und die Beratung durch Professionelle in einem möglichst frühen Stadium.

Auch von psychiatrischer Seite erhält unsere Leserin Zustimmung. „Die Angehörigen von Alkoholabhängigen in die Behandlung einzubeziehen, ist sehr wichtig“, sagt Prof. Ion-George Anghelescu, Chefarzt der Klinik Dr. Fontheim in Liebenburg. „Das beginnt damit“, erklärt der Psychiater, „dass man sie informiert und sie aufklärt, worum es bei der Krankheit geht.“ Anghelescu beschreibt das Leid der Angehörigen so: „Sie fühlen sich überfordert und haben Schuldgefühle, weil sie denken, die Sucht des Betroffenen könnte an ihnen liegen. Und sie fühlen sich hilflos, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen.“ Die große Belastung könne Angehörige selber krank machen, könne zu Angststörungen oder Depressionen führen. Außerdem bestehe die Gefahr einer Co-Abhängigkeit. „Dabei deckt der Angehörige die Sucht des Betroffenen, unterstützt sie, indem er zum Beispiel Alkohol besorgt, und hilft mit, die Krankheit zu verheimlichen, zu leugnen und zu vertuschen“, erklärt der Chefarzt. Ein schädliches, suchtförderndes Verhalten.

Eine konsequente Behandlung verweigern viele Alkoholabhängige auch aus Scham. Mehr als 80 Prozent der Patienten mit alkoholbezogenen Störungen bleiben in Deutschland unbehandelt, hat die DG Sucht ermittelt. Die Auswirkungen von Alkoholismus seien maximal, wie Anghelescu betont. „Alkohol stigmatisiert. Es fällt den Nachbarn auf. Kinder werden vernachlässigt“, zählt er auf. Ab wann sollten Angehörige Hilfe einschalten, notfalls auch gegen den Willen des Suchtkranken? „Auf jeden Fall bei einer schweren Intoxikation oder wenn schwere Entzugssymptome auftreten, wenn also eine Entgiftung im Krankenhaus notwendig ist. Ansonsten hängt alles von der Motivation des Betroffenen ab.“Diese gelte es zu stärken

Neue Leitlinie zur Behandlung

Über die Nöte, die Alkohol auslöst, können Wissenschaftler stapelweise Bücher schreiben. Ein neues Werk, das rund 400 Seiten umfasst, ist gesundheitspolitisch hochbedeutsam: Es ist die neue Leitlinie zur Behandlung von Menschen mit riskantem, schädlichem und abhängigem Alkoholgebrauch – ein Gemeinschaftswerk führender Suchtexperten, dem ein mehrjähriger Entwicklungsprozess zugrunde liegt. „Wir wissen jetzt besser, welche Therapien wirksam sind und welche nicht“, sagte der Magdeburger Suchtforscher und Mit-Autor Prof. Ulrich Preuß jetzt bei der Vorstellung des Werkes in der Liebenburger Fontheim-Klinik. Er machte die Schwierigkeiten einer modernen Suchttherapie deutlich. „Alkoholabhängigkeit ist eine zu komplexe Erkrankung, als dass man einfach ein Medikament draufstreuen könnte, um sie zu heilen.“ Zwar könnten sowohl die Entgiftung als auch die Rückfallprophylaxe medikamentös unterstützt werden, wesentlich sei aber ein funktionierendes Behandlungs-Netzwerk für den Patienten.

Alkohol ist in Deutschland fast allgegenwärtig: 9,6 Liter reinen Alkohol hat jeder Deutsche im Schnitt im Jahr 2015 getrunken, wie das „Jahrbuch Sucht“ registriert. Umgerechnet sind das mehr als 130 Liter alkoholhaltiger Getränke. Keine Überraschung: Am liebsten spült der Deutsche das eingangs erwähnte Bier hinunter, 104 Liter im Durchschnitt pro Kopf. Doch ab wann ist Alkohol schädlich? Experten haben einen täglichen Grenzwert von 12 Gramm reinen Alkohols für Frauen und 24 Gramm für Männer festgelegt. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet vier Kategorien des Konsums: risikoarm, riskant, gefährlich und hochgefährlich. Suchtforscher Preuß betont: „Wird die Schwelle des risikoarmen Konsums überschritten, überwiegen die schädlichen Wirkungen des Alkohols bei weitem.“

Schätzen lässt sich der Alkoholgehalt übrigens leicht nach Standardgläsern – als solche gelten etwa 0,25 Liter Bier, 0,1 Liter Wein oder 0,2 Liter Longdrink. Ein Standardglas enthält jeweils 10 bis 12 Gramm reinen Alkohol.