Hannover. Die Tierärztliche Hochschule Hannover erprobt auch den Einsatz bakterienfressender Viren zur Bekämpfung von Keimen im Hühnerstall.

Bakteriophagen sind Viren, die statt menschlicher oder tierischer Zellen Bakterien infizieren. Sie könnten therapeutisch zur Behandlung bakterieller Infektionen eingesetzt werden. Allerdings sind Phagen innerhalb der EU als Arzneimittel nicht zugelassen.

Phagenforscher haben daher in Brüssel die Organisation P.H.A.G.E. (Phages for Human Applications Group Europe) gegründet, um dies zu ändern. „Es fehlt ein auf Phagen angepasster Zulassungsweg, denn ein Phage ist keine statische Substanz“, erklärt Dr. Christine Rohde von der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig und Vorstandsmitglied bei P.H.A.G.E. das Problem.

„Antibiotika dürfen in Lebensmitteln nicht enthalten sein. Phagen hingegen sind ohnehin überall, im Stall, auf Lebensmitteln, in unserem Darm.“
„Antibiotika dürfen in Lebensmitteln nicht enthalten sein. Phagen hingegen sind ohnehin überall, im Stall, auf Lebensmitteln, in unserem Darm.“ © Sophie Kittler, Veterinärin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover

Eine Zulassung als herkömmliches Medikament wäre unsinnig, denn die Erreger verändern sich ständig, werden resistent gegen einen Phagen und anfällig für einen anderen. „Bis ein Phage auf diese Weise auf den Markt käme, wäre er schon nicht mehr interessant. Außerdem muss Phagenmedizin individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sein.“

Statt der Zulassung einzelner Phagen, die als Organismen nicht patentierbar sind, solle ein Modellzulassungsweg beschrieben werden, der vorgibt, wie ein Phagenmedikament produziert werden müsse, fordert Rohde. Zugelassen würde also nicht der einzelne Phage, sondern die Methode der Herstellung eines Phagenmedikaments. Einen entsprechenden Entwurf der wesentlichen Inhalte für die humane Phagentherapie hat P.H.A.G.E. bereits ausgearbeitet.

Mit Phagen gegen Campylobacter im Hühnerstall

Doch die Gesetzgebung im sensiblen Gesundheitssektor ist langsam. Wissenschaftler und einige Unternehmen richten ihre Aufmerksamkeit daher auf andere, weniger streng regulierte Bereiche. In der Lebensmittelindustrie werden Phagen bereits eingesetzt: Sie werden auf Fleischprodukte gesprüht und auf Käse gestrichen, um E-Coli-Bakterien, Salmonellen und Listerien abzutöten, die Durchfälle und Lebensmittelvergiftungen auslösen können.

Ein Projekt an der Tierärztlichen Hochschule (Tiho) Hannover setzt noch früher an. „Wir bekämpfen Campylobacter in Hühnerställen“, erklärt Dr. Sophie Kittler vom Institut für Lebensmittelqualität und -sicherheit. Das Bakterium lebt im Darm vieler Tiere und ist der häufigste bakterielle Erreger von Durchfall-Erkrankungen in Deutschland. „Innerhalb der EU ist er jährlich für 200 000 Erkrankungen verantwortlich – mit steigender Tendenz“, sagt die Tierärztin.

Die übliche Bekämpfung des Erregers in der Produktionskette ist extrem aufwendig. Sie basiert auf strikten Hygieneregeln wie dem Einbau von Schleusen zwischen Stall und Außenwelt, der Trennung von Alltags- und Arbeitskleidung und regelmäßiger Desinfektion. In Hannover versucht man nun, Phagen gegen die Bakterien einzusetzen. „Bei Tests in Tiergruppen hat das sehr gut funktioniert. Die Bakterienlast konnte stark gesenkt werden“, sagt Kittler.

Im Laborversuch war das kein Problem, doch wie versorgt man Zehntausende von Hühnern in einem Stall mit Phagen? „Wir haben die Viren ins Tränkesystem eingeleitet“, erklärt Kittler. So sei sichergestellt, dass alle Tiere die Phagen über das Wasser aufnehmen. Ziel sei es, auf diese Weise den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren. „Solche Medikamente dürfen in Lebensmitteln nicht enthalten sein. Phagen hingegen sind ohnehin überall, im Stall, auf Lebensmitteln, in unserem Darm“, sagt die Veterinärmedizinerin. Anders als Antibiotika wirken die Phagen aber gezielt nur gegen die Erreger. In die natürliche Mikrofauna wird also deutlich weniger eingegriffen.

Drei Feldversuche hat Sophie Kittler mit Phagen durchgeführt. „In einem Stall war Campylobacter bereits nach einem Tag nicht mehr im Kot der Hühner nachweisbar“, beschreibt die Tierärztin den Erfolg. In den anderen Versuchen sei es zumindest gelungen, die Vermehrung der Erreger zu stoppen.

Für ihre Versuche hat Kittler mit Landwirten aus der Umgebung zusammengearbeitet. Die seien sich des Problems bewusst, doch viele Bauern seien skeptisch gegenüber dem Einsatz von Viren in der Lebensmittelproduktion. „Man muss ihnen deutlich machen, dass Phagen keine krankmachenden Viren sind, und dass sie ohnehin auf jedem Brot, jedem Salatblatt und jedem Schreibtisch sitzen“, sagt Kittler.

Geflügelzüchter sind offen

für den Einsatz im Hühnerstall

Dennoch bleibt die Frage, ob Geflügelzüchtern die Vorstellung gefällt, massenhaft Viren in die Tränken ihrer Ställe zu geben. Die Tierärztin Dr. Eva-Maria Näser sieht darin allerdings kein allzu großes Hindernis. „Allen Beteiligten ist bewusst, dass Campylobacter ein echtes Problem in der Lebensmittelhygiene darstellt“, sagt die Leiterin des Referats Tiergesundheit und Lebensmittelsicherheit beim Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) in Berlin. Die Landwirte seien offen gegenüber innovativen Ansätzen zur Lösung dieses Problems: „Wenn Phagen als Futtermittelzusatz genehmigt werden, würden die Landwirte sich bestimmt nicht dagegen sträuben.“

Das belege der zunehmende Einsatz von Probiotika, nützlicher Mikroorganismen wie etwa Milchsäurebakterien, in der Geflügelzucht. Derzeit erprobe der ZDG Verfahren, wie man die Hygiene bei der Schlachtung verbessern kann. Das sei zwar ebenfalls wichtig, aber um das Problem nachhaltig in den Griff zu bekommen, müsse man früher ansetzen. „Campylobacter muss man schon auf der Herden- und Stallebene bekämpfen. Der Einsatz von Phagen folgt da dem richtigen Ansatz“, ist Näser überzeugt.

Bestätigung also für die Versuche von Sophie Kittler von der Tiho. Der Erfolg hat die 32-Jährige ermutigt, auf dem Gebiet weiterzumachen. Ihr nächstes Projekt gilt E-Coli Bakterien – mit Phagen von der DSMZ in Braunschweig.

Dort hat man häufiger Kontakt mit Tierärzten. „Vor einigen Monaten rief eine Tierärztin aus dem Tierpark Nürnberg bei uns an und bat händeringend um Phagen“, erinnert sich Christine Rohde. Der Grund: Ropen, ein Panzernashorn im Zoo, litt unter einer extrem infizierten Wunde an einem Fuß.

Per Zufall stolperte die Tierärztin über einen Artikel über Phagen

„Das Knochenglied des seitlichen Zehs war betroffen. Im Abstrich konnten wir unter anderem Streptokokken und Staphylokokken nachweisen. Die Infektion griff auch auf den Mittelfuß über“, beschreibt Dr. Hermann Will, Tierarzt am Nürnberger Tiergarten. Bei einem tonnenschweren Tier sei eine solche Infektion am Fuß lebensbedrohlich. „Wir waren zwischenzeitlich ziemlich verzweifelt und fürchteten, Ropen müsste eingeschläfert werden“, sagt Will.

Eine Kollegin sei dann über einen Artikel über Phagentherapie gestolpert und habe kurzerhand bei der DSMZ angerufen. „Ich habe erst mal vorsichtig gesagt, dass ich nicht wisse, ob unsere Phagen passen. Außerdem dürfen wir unsere Phagen nicht zur Therapie herausgeben – weder bei Menschen noch bei Tieren“, sagt Christine Rohde. Stattdessen habe sie auf Georgien verwiesen, wo Phagencocktails gegen gängige Infektionen hergestellt werden. Eines dieser Standardmedikamente, „Pyophage“, passte zu den Keimen in der Wunde des Nashorns. „Da ich zufällig eine Schachtel Pyophage aus Tiflis privat im Kühlschrank liegen hatte, hab ich die angeboten, obwohl die schon etwas älter war“, erinnert sich Rohde.

In Nürnberg säuberten die Tierärzte die Wunde des Nashorns und trugen mit einem Pinsel den Phagencocktail aus Braunschweig auf. Als die Behandlung anschlug, bestellte der Zoo weitere Medikamente aus Georgien. „Ich hatte bis dahin noch nie von Phagentherapie gehört, und ich bin mir sicher, dass wir die erste dokumentierte Behandlung eines Wildtiers mit Phagen durchgeführt haben“, sagt Hermann Will.

Mit Erfolg: Ropen geht es heute deutlich besser. Vollständig gesund sind seine Füße zwar nicht, doch das sei bei Panzernashornbullen ohnehin sehr selten. Entscheidend sei: „Er läuft wieder.“ In Zukunft würde der Tierarzt gern häufiger mit Phagen behandeln, doch auch für die Tiermedizin ist die Therapie nicht zugelassen, und der Weg über Georgien ist aufwendig. Mit Sophie Kittler von der Tierärztlichen Hochschule Hannover stimmt er aber überein: „Phagen haben ein großes Potenzial in der Tiermedizin.“