Salzgitter. Erpressung, Drohung, Verleumdung – der Betriebsräte-Kampf im Unternehmen Salzgitter Flachstahl ist nichts für schwache Nerven.

Unser Leser „Gast“ fragt:

Störung des Betriebsfriedens? Was ist damit gemeint?

Die Antwort recherchierte Erik Westermann

Stahl ist hart. Stahl ist gerade. Stahl ist Zukunft, so wirbt die Industriegewerkschaft Metall für die Branche. Doch wer hinter die Kulissen der größten Stahltochter der börsennotierten Salzgitter AG schaut, der sieht: Seit Jahren wird in der Arbeitnehmervertretung der Flachstahl GmbH gekämpft. Mit allen Mitteln. Vom Betriebsfrieden, den unser Leser anspricht, kann kaum die Rede sein. Und die Wahrheit ist kaum mehr zu erkennen.

Erpressung, Drohung, Verleumdung, Verschwörungstheorien. Es tobt eine Schlacht um die Vertretung der 6000 Mitarbeiter: Auf der einen Seite kämpft eine Gruppe mutmaßlich aus dem Unternehmen Gedrängter, unter ihnen der fristlos gekündigte „Einzelkämpfer“ Adnan Köklü. Er hofft, seine Karriere als Betriebsrat retten zu können und erklärt, er wolle etwas gegen den Filz im Gremium tun.

Auf der anderen Seite steht die 32-köpfige IG-Metall-Fraktion der Arbeitnehmervertretung, die auf jahrelange gute Arbeit verweist und sagt, sie möchte bewahren, was sie als „Einigkeit der Belegschaft gegenüber dem Arbeitgeber“ ansieht.

Eine Seite beschuldigt die andere. Ermittler, Arbeitsrechtler und Justiz arbeiten sich daran ab. Beispielhaft ist eine neue anonyme Anzeige, der die Staatsanwaltschaft – allerdings inhaltlich ungeprüft – nicht weiter nachgeht.

Die Frage ist: Missbrauchen einzelne oder missbraucht eine Gewerkschaft ihre Macht, wie Köklü es sieht, und drängt missliebige Personen aus dem Unternehmen, um die eigene Position zu halten? Oder suchen Gefrustete und Egoisten ihr Heil in einer Rufmordkampagne – und entwickeln dabei kriminelle Energie?

Im Mittelpunkt der jüngeren Geschichte steht Betriebsrat Köklü (26). Im März 2017 ereilten den Arbeitnehmervertreter zwei fristlose Kündigungen wegen Störung des Betriebsfriedens – weil er anonyme Mails zum Thema Korruptionsvorwürfe gegen den Betriebsrat vor versammelter Mannschaft thematisierte und auch die Geschäftsführung nicht aussparte. Der 26-Jährige hingegen hat das Gefühl, mundtot gemacht zu werden. Er fühlt sich seit seiner Wahl 2014 gemobbt, weil er bei der Wahl mit seinem Schwippschwager Yusuf Altan die zweite Liste „Respekt!!!“ aufstellte – und in seinen Augen so zur Bedrohung für die dominierende IG Metall geworden ist, die 32 von 33 Arbeitnehmervertretern stellt.

Auch Köklü war lange IG-Metaller. Bis er ausgeschlossen wurde. Am Ende stimmte der Betriebsrat für seinen Rauswurf aus Gremium und Betrieb, weil eine weitere Zusammenarbeit „unvorstellbar“ sei. Schon, dass es „die Liste 2“ gibt, hatten Metall-Betriebsräte zu verhindern versucht.

Möglicherweise auch durch Bedrohung. Köklü schwört Stein und Bein, ein Mitarbeiter habe ihm berichtet, genötigt worden zu sein, seine Unterschrift für die Liste 2 von Köklü und Altan vor der Betriebsratswahl 2014 zurückziehen. Ein Betriebsrat soll gedroht haben: „Du kannst dich entscheiden, entweder deine Existenz, heiraten, Familie aufbauen und Kinder kriegen, und du hast hier einen Job fürs Leben, oder ab dem 13. Februar ist es mit deiner Existenz vorbei ... Bist du weiterhin auf dieser Liste, kannst du deine Zukunft hier knicken ...“

Das betreffende Betriebsratsmitglied streitet das Gespräch ab. Die Informationen, die unserer Zeitung vorliegen, decken sich damit nicht. Und: Es gibt Hinweise, dass diese Bedrohung betriebsratsintern vertuscht worden sein könnte. Dafür, dass er Belege des Gesprächs vernichtet und er seine Unterstützung für die Konkurrenz-Liste zurückzieht, soll dem betreffenden Mitarbeiter ein besserer Arbeitsplatz versprochen worden sein, sagt Köklü. Der Mann willigte unter Druck ein, wie er gegenüber unserer Zeitung bekräftigte. Wenige Tage später rudert der Zeuge zurück.

Auch andere Unterstützer der Liste 2 konfrontieren Gewerkschafter im Vorfeld der Betriebsratswahl 2014. Diese Gespräche verliefen weniger aggressiv. Doch immer steht im Raum: „Unterstützt du die Liste 2, redet niemand mehr mit dir.“ Im Grundsatz sei das nicht ungewöhnlich für Betriebsratswahlen, sagt der Arbeitsrechtler Horst Call von der Fachhochschule Ostfalia. „Es geht im Wahlkampf ziemlich rau zu.“ Unrecht sei solche Wahlwerbung nicht. Hier könnte es sich jedoch um Nötigung handeln.

Übers Ziel hinausgeschossen?

Der langjährige Vorsitzende des Flachstahl-Betriebsrats, Hasan Cakir, sagt, ihm sei keine Bedrohung bekanntgeworden. Es könne aber sein, dass „einzelne Betriebsräte über das Ziel hinausgeschossen sind“. Das Motiv der Gewerkschafter ist aus ihrer Sicht ein hehres: Es gelte, die Listenwahl zu verhindern – zugunsten der Persönlichkeitswahl. Sie ist möglich, wenn lediglich eine einzige Liste zur Wahl gemeldet ist.

In dem Stahlbetrieb, wo ohne Mitgliedschaft bei den Metallern kaum etwas geht, ist das seit Jahren die Liste der Industriegewerkschaft. Theoretisch könnten auch Nichtmitglieder auf ihr kandidieren. Die vorderen Listenplätze sind aber „reserviert“.

Köklü klagt über verfilzte Strukturen in der Mitarbeitervertretung, die Cakir seit 2006 leitet. Köklu zufolge gehe es dem IG-Metall-Teil des Betriebsrates darum, seine Macht zu erhalten – und die seiner Führung. Immer wieder kursieren Hinweise auf Korruption und Amtsmissbrauch. Wer sie streut, ist unklar.

Die Gewerkschafter hingegen nennen den 26-Jährigen einen Spalter und Egoisten, weil er bereits bei vorherigen Wahlen damit gedroht habe, eine eigene Liste zu installieren. Bei einer früheren Wahl ging die IG Metall auf eine solche Forderung sogar ein. 2014 habe man sich dann geweigert. „Bis hierhin und nicht weiter“ habe man signalisieren wollen, so Cakir. Dann sei Köklü endgültig auf die „dunkle Seite“ gewechselt – und gehöre nun zu einer Gruppe, die Cakir für mehrere Anzeigen und die Rufmordkampagne verantwortlich macht, Köklü selbst spricht von Mobbing.

Als er in den Betriebsrat einzieht, habe der IG-Metall-Teil des Betriebsrats versucht, ihn zu isolieren. Nicht zimperlich, wie vertrauliche Protokolle ihrer Fraktionssitzungen zeigen, die unserer Zeitung vorliegen. Bloß zu deutlich gegen ihn hetzen solle man nicht, sagt einer. Um die Belegschaft nicht gegen sich aufzubringen. Köklü wird nach Ilsenburg versetzt. Er klagt – und bekommt Recht.

Cakir sagt, es handele sich in den internen Protokollen um Äußerungen einzelner, keine Beschlüsse. Die Stimmung sei „aufgeheizt“ gewesen. Die Liste 2 habe „massiv Stimmung gemacht“. 2013 und 2016 waren anonyme Mails mit Korruptionsvorwürfen gegen den Betriebsratsvorsitzenden und seinen Kollegen Ismail Aydemir im Umlauf: Sie nähmen Gegenleistungen, um türkeistämmige, alevitische Mitarbeiter im Unternehmen unterzubringen. Der Glaubensgemeinschaft gehören beide Betriebsräte an.

Die Liste manipuliert?

Polizei und Staatsanwaltschaft gehen den Vorwürfen nach – stellen jedoch 2014 die Ermittlungen gegen Aydemir und Cakir mangels Beweisen ein. Im Herbst 2016 tauchen Teile der Ermittlungsakten auf – abermals in anonymen

E-Mails. Auch das Gehalt Cakirs, der Konzernbetriebsratsvorsitzender und Mitglied des Aufsichtsrates des Salzgitter AG ist, wird aufgelistet. Es sei zu hoch, wird suggeriert. Köklü thematisert die Mails mehrfach in Betriebsversammlungen. Cakir streitet alles ab. Die Liste sei manipuliert: das aufgeführte Aufsichtsratsgehalt von 40 000 Euro führe er an die Hans-Böckler-Stiftung ab. Sein Gehalt sei tarifgebunden und qualifikationsgerecht. Er erstattet Anzeige. Wer die Anschuldigungen verbreitete, konnte 2013 nicht geklärt werden. Als Urheber stand ein Vorgänger Köklüs in Verdacht, der ebenfalls aus Betriebsrat und Unternehmen geworfen worden war.

Wegen der neuerlichen Mail-Anschuldigungen stehen fünf Verdächtige im Fokus. Der Vorwurf: Verleumdung. Zu den fünf gehören Adnan Köklü, jemand aus seinem Umfeld, ein Handlanger, ein Ex-Leiharbeiter und der bereits 2012 geschasste Betriebsrat. Im Februar 2017 werden ihre Wohnungen und Arbeitsplätze durchsucht, Akten und Datenträger beschlagnahmt. Ermittlungsergebnisse liegen noch nicht vor. Köklü streitet seinerseits jede Beteiligung ab.

Mit den neuerlichen Mails und wegen eines tödlichen Unfalls verschärft sich der Ton in der IG Metall-Fraktion gegenüber dem „Kollegen“ Köklü weiter. Vier Frauen sterben im März 2016, als ihr Auto mit dem Mercedes des Salzgitteraners kollidiert. Der 26-Jährige fuhr doppelt so schnell wie erlaubt, urteilte ein Gericht in erster Instanz und erlegt ihm eine Bewährungsstrafe auf. Seine Gegner kritisieren Köklüs Verhalten nach dem Unfall. Kurz darauf soll er bereits wieder gefeiert haben. Er beschuldigt hingegen den Betriebsrat, das Unglück gegen ihn zu instrumentalisieren.

Die Auseinandersetzung hat auch eine religiöse Ebene. Cakir behauptet, die sunnitischen Muslime Altan und Köklü versuchen, die Glaubensrichtungen in der Belegschaft gegeneinander auszuspielen. Andere Betriebsräte rücken Menschen aus Köklüs Umfeld, wenn auch nicht ihn selbst, in die Nähe von Islamisten.

Nach den anonymen Mails im Herbst gehen Anzeigen gegen die Betriebsratsspitze ein. Entlassene und nicht übernommene Mitarbeiter wittern Diskriminierung. Unter ihnen ein sunnitischer Muslim, der den Eindruck hat, er sei zugunsten von Aleviten benachteiligt worden. Cakir bestreitet das – und verweist auf mehrere sunnitische Kollegen in der Arbeitnehmervertretung. „Zudem stellt das Unternehmen ein. Nicht der Betriebsrat.“

Der Türke Köklü glaubt, der Betriebsrat habe seinen Rauswurf forciert. Als Ende eines jahrelangen Mobbings. Ein Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ schlägt in die gleiche Kerbe. Der Autor sieht vor allem in den internen Protokollen der IG-Metall-Fraktion Belege für seine These, die Gewerkschaft versuche auf diesem Wege, unbequeme Konkurrenz wegzubeißen. Tatsächlich rief der Betriebsrats dazu auf, sich beim Unternehmen über Köklü zu beschweren. Auch weil er suggeriert haben soll, die Geschäftsführung dulde die „Machenschaften“ an der Spitze des Gremiums, warf die Firma ihn hinaus.

Die Belegschaft scheint gespalten. Ein Gesprächspartner im Unternehmen sagt, vor allem Jüngere stünden zu dem 26-Jährigen. Ein Mitarbeiter argumentiert: Was tat Köklü für uns in seiner Amtszeit? Das Unternehmen äußerte sich zu diesem Teil der Auseinandersetzung nicht – unter Verweis auf laufende Gerichtsverfahren.