Salzgitter. Willi Lemke sprach über seine Zeit als Doppelagent, die Chancen der SPD bei der Bundestagswahl und über die Bedeutung von Frieden.

Mr. Willi: So nennen ihn viele Kinder auf der ganzen Welt, die er als UN-Sonderberater für Sport auf Reisen traf. Unter Fußballfreunden hat der einstige Bremer Sportmanager schon lange den Spitznamen „Werder-Willi“ weg. In Salzgitter hatten Leser unserer Zeitung die Möglichkeit, Willi Lemke (70) zu interviewen. Dirk Breyvogel moderierte das Gespräch und schrieb es auf.

Redaktion: Seit Ende des Jahres sind Sie so ganz ohne Posten. Wie muss man sich das Leben von Willi Lemke derzeit vorstellen?

Der Gedanke daran war zunächst ein Albtraum. Es war ja klar, dass mit dem Abschied von Ban ki Moon als Generalsekretär auch meine Aufgaben bei den UN enden sollten. Auch meine Arbeit bei Werder hatte sich erledigt. Ich sah mich also schon ohne wirkliche Aufgabe, gelangweilt jeden Morgen am Frühstückstisch sitzen. Doch schon am 2. Januar rief der Weser-Kurier an und erinnerte mich an die verabredete wöchentliche Kolumne. Da war ich wirklich froh. Kurze Zeit später folgten die ersten Einladungen zu Vorträgen. Ich bin also nie wirklich im Ruhestand gewesen und will das auch noch gar nicht.

Helmut Lange: Ich war erstaunt, als ich las, dass sie als Doppelagent für die Sowjetunion und Deutschland tätig waren. Wie kam es dazu?

Das ist 50 Jahre her. Ich bin in meiner Funktion als Asta-Sportreferent damals bei einem Besuch in der damaligen DDR über Umwege vom russischen Konsul angesprochen worden. Es folgte der Versuch einer Anwerbung. Ursprünglich wollte ich in der DDR auf der sportlichen Ebene einen Wettbewerb mit Studenten aus Rostock organisieren. Als ich merkte, worauf das Gespräch mit dem Konsul hinauslief, habe ich mich umgehend an den deutschen Verfassungsschutz gewendet. Die haben mich über Monate bedrängt, bis ich zugestimmt habe, Informationen zu sammeln und weiterzugeben. Ab diesem Zeitpunkt war ich faktisch ein Doppelagent. Ich habe dafür auch Geld kassiert, rund 10 000 Mark. Das habe ich in dieser Zeit niemandem erzählt, nicht einmal meiner damaligen Frau. Ich bin aber einem Irrglauben unterlegen: Ich dachte, der Geheimdienst hieße Geheimdienst, weil die Sachen geheim bleiben.

Lange: Was war passiert?

Der damalige Chef des Verfassungsschutzes „outete“ mich in seinen Memoiren. In der Zeit, in der ich als Doppelagent tätig war, habe ich mich auch gar nicht schlecht gefühlt, weil ich keine Informationen an den Verfassungsschutz geliefert habe, die sich im weitestgehenden Sinne in meinem Umfeld abspielten.

Cedric Zepp: Würden Sie heute etwas anders machen?

Nein. Das Wichtigste war, sofort absolute Transparenz zu schaffen, als alles öffentlich gemacht wurde. Ich habe mir einen Anwalt genommen und bin in die Offensive gegangen. Ich war, wie schon gesagt, mit mir im Reinen. Ich kann Ihnen nur raten, wenn Ihnen einmal droht, dass etwas richtig schief läuft: nie lügen, niemals drum herumreden. Alles muss auf den Tisch. Ich hätte wahnsinnig gelitten, wenn ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Nachdem der mediale Hype abgeebbt war, ist mir diese Sache in anderen Situationen auch nicht wieder vorgehalten worden. Den Verfassungsschutz-Chef habe ich aber verklagt, den Schadenersatz, der mir zugesprochen wurde, gespendet. Diese Geschichte gehört zu meinem Leben, deswegen sind diese Fragen auch absolut zulässig. Aber natürlich gibt es schönere Themen.

Lukas Hegen: Sie sind Sozialdemokrat, haben auch selbst politisch im Wind gestanden. Wie sehen Sie die Chance, dass Martin Schulz nächster Bundeskanzler wird?

Das ist schwer für mich zu sagen, denn ich bin aus der aktiven Politik seit 2008 raus. Grundsätzlich muss ich sagen, dass die SPD sich seit der Zeit, als ich eingetreten war, sehr gewandelt hat. Ich bin als 68er richtig politisiert worden – und besonders durch Willy Brandt. Die politischen und sozialen Entwicklungen seitdem haben zu ganz anderen Herausforderungen geführt. Das ist nicht mehr vergleichbar. Aber: Ich verstehe nicht, warum Martin Schulz jetzt auf Distanz zu der Politik von Gerhard Schröder geht. Diese Reformen waren notwendig. Deshalb geht es Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten auch so gut. Kanzlerin Merkel macht das natürlich auch sehr geschickt, indem ihre gesamte Politik darauf abzielt, die politische Mitte und darüber hinaus Wähler für sich zu gewinnen. Ihre humanitäre Linie in der Flüchtlingsfrage, bei allen Problemen, die es dadurch auch geben mag, hätte doch ein Sozialdemokrat auch nicht besser machen können.

Jonas Petersen: Sie glauben also nicht an den Wechsel?

Die Mehrheit der Deutschen denkt nach meinem Eindruck nicht so. In einer schwierigen politischen Situation, in der sich Deutschland und Europa eindeutig befinden, ist der Wille stärker, an Vertrautem festzuhalten. Auch wenn ich meinen sozialdemokratischen Freunden alle Daumen drücke, wird es schwer für Schulz, eine Mehrheit zu bekommen. Ich sehe keine Wechselstimmung. Aber die SPD muss auch endlich Inhalte rüberbringen und nicht nur auf Personen setzen.

Redaktion: Hat Ihre Arbeit als Sonderberater der UN Ihnen die Lust an parteipolitischen Spielchen genommen, weil sie gemerkt haben, dass es Wichtigeres auf der Welt gibt?

Das Wichtigste ist, dass wir im Kernland Europas so lange Frieden haben. Und das es so bleibt. Auch ich habe die Wirren nach Kriegsende erlebt. Meine Eltern mussten fliehen, wie so viele andere auch. Die Begegnungen mit den Menschen waren in der Zeit bei den UN sehr prägend. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie die Menschen in Palästina leben. Kinder, die in ein besetztes Land hineingeboren worden sind. Diese Erfahrungen habe ich gemacht. Davon liest man aber viel zu selten in den Medien. Manchmal ist mir die Berichterstattung hier zu einseitig. Ein Beispiel: In der Ukraine gab es einen gewaltsamen Regimewechsel mit vielen Opfern, dem ein Bürgerkrieg folgte, der bis heute nicht beendet ist. Als Reaktion über diese Entwicklung und die Besetzung der Krim durch Russland belegen die USA und die EU Russland mit diversen Sanktionen. Aber wo waren die Sanktionen gegenüber den USA, als diese 2003 völkerrechtswidrig in den Irak einmarschierten? Gewalt ist immer zu verurteilen. Aber ich wünsche mir da ein bisschen mehr Differenzierung. Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, sie hat viele Schattierungen. Und noch einmal: Das wichtigste Ziel in der Welt ist und bleibt der Frieden.

Lange: Sie prangern hier also eine Form von Doppelmoral an…

Mir ist wichtig, der nachfolgenden Generation weiterzugeben, dass wir auch etwas dafür tun müssen, damit es friedlich auf der Welt bleibt. Und manchmal muss man dafür auch die Perspektive des Anderen einnehmen. Wir verurteilen heute die Staaten im Nahen und Mittleren Osten dafür, dass Homosexualität dort ein Tabuthema ist. Dabei vergessen wir, dass Deutschland bis Mitte der 1990er Jahre eine Rechtsprechung hatte, die Homosexualität nicht erlaubt hat. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Vorher hatten sich ganz viele Menschen umgebracht, weil sie es nicht ertragen haben, mit dieser angeblichen Schande zu leben. Und vergessen sollten wir auch nie, dass mit dem Holocaust das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte auf deutschem Boden begonnen hat. Deswegen habe ich auch größten Respekt vor der Entscheidung Schröders, damals keine Soldaten in den Irak zu schicken – und das als Nato-Mitglied. Wir haben auch eine Verantwortung vor unserer Geschichte. Und sollten dies berücksichtigen, wenn wir über andere urteilen.

Zepp: Im Sport sollte es um fairen Wettkampf gehen. Wie ist es darum bestellt? Regiert die Politik mittlerweile den Sport?

Den Sportlern, die Breitensport betreiben, geht es noch um den Wettkampf. Keine Frage. Ich bin allerdings nah bei einer Aussage von Papst Franziskus. Der hat gesagt: „Wenn das Geld im Sport die Oberhand gewinnt, zerbröseln die Werte und Ideale.“ Mein Beispiel ist aktuell der Fall des Fußballers Paul Pogba. Der Agent des Spielers soll für dessen Wechsel von Juventus Turin zu Manchester United unvorstellbare 49 Millionen Euro kassiert haben. Das ist absurd, einfach absurd. Denn die Menschen kommen nicht wegen des Agenten, sondern wegen des Spielers ins Stadion.

Hegen: Was muss getan werden, um diese Auswüchse zu stoppen?

Die Vereine dürfen sich nicht den Bedingungen der Spielerberater unterwerfen. Und die Fifa muss eine offene, transparente Politik betreiben und das an die nationalen Verbände nach unten weitergeben. Heute ist Fußball die absolute Nummer eins in Deutschland. Andere Sportarten haben gar keine Chance, auch im Fernsehen ist das so. Ich sehe aber jetzt schon die Gefahr, dass die Stimmung an einem Punkt kippen könnte. Dann nämlich, wenn das Gefühl beim Zuschauer entsteht, dass das System durch das Geld pervertiert wird und sich der Charakter des Sports ändert. Dann wird es zuerst in den Stadien leer und später vor den Bildschirmen. Ansätze dafür gibt es heute schon in anderen Ligen Europas.

Petersen: Ban ki Moon hat Ihnen dafür gedankt, dass Sie die Verbindung zum Internationalen Olympischen Komitee (IOC) gestärkt haben. Was hat er gemeint?

Die Vereinten Nationen waren immer ein bisschen verhalten gegenüber dem Sport. Es gab wenig Austausch zwischen den Gremien. Der Einfluss der UN ist auch begrenzt auf die Welt der Sportfunktionäre. Mir war dieser Austausch wichtig und ich habe im Gegensatz zu vielen in der Verwaltung der UN gesagt, dass der Generalsekretär nicht nur immer die schlechten Nachrichten nach außen transportieren sollte, sondern auch die positiven. Der Sport ist ein positiv besetztes Thema und hat in allen Gesellschaften eine hohe Relevanz. Ban hat meine Position geteilt. Er fuhr, entgegen den Empfehlungen seines Stabs, zu einer Tagung des IOC nach Kopenhagen und hielt dort bei seiner Rede einen selbstgebastelten Ball hoch, den mir ein Junge aus Nairobi geschenkt hatte. Die Rede war ein großer Erfolg und der Beginn einer intensiveren Zusammenarbeit.

Petersen: Und was machen die Vereinten Nationen jetzt ohne Sie?

Leider, und das bedauere ich sehr, gibt es den Posten als Sonderberater Sport unter dem neuen UN-Generalsekretär António Guterres nicht mehr. Man kann zwar sagen, dass mein Engagement auf diesem Feld zu einem Umdenken geführt hat. UN Generalsekretär Gutteres und IOC-Chef Thomas Bach haben sich darauf verständigt, sich nun persönlich zu kontaktieren, wenn es etwas zu bereden gibt. Ich befürchte jedoch, dass bei den vielen Problemen auf der Welt und bei allen Herausforderungen, die auch das IOC zu bewältigen hat, diese Kontakte möglicherweise nicht nachhaltig sein werden und einige von meinem Büro sehr erfolgreich durchgeführte Projekte künftig nicht mehr fortgeführt werden.