Wolfenbüttel. Seit Jahren ermittelt die spanische Justiz gegen den Wolfenbütteler Karsten Wrede. Er soll in das Hells-Angels-Netzwerk auf Mallorca verstrickt sein.

Manchmal denkt Karsten Wrede, man könnte einen Film über sein Leben drehen. Über die „Operation Casablanca“ und die Folgen. Über den Verdacht auf Verbindungen zum Netzwerk der Hells Angels, seine Festnahme, die Auslieferung nach Spanien, die Zeit im Knast und Ermittlungen, die offenbar zu nichts führen. Darüber, dass man ins Bodenlose fällt und dann wieder auf die Beine kommen muss - „besser hätte man sich ein Drehbuch für einen Thriller nicht ausdenken können“, sagt er.

Der 52-Jährige sitzt in seinem Wohnzimmer; ein Hüne mit Händen so groß wie Schaufeln und einem milden Lächeln. Der linke Arm ist tätowiert, in der rechten Hand hält er eine Zigarette. Durch die geöffnete Terrassentür bläst kühl der Frühlingswind. „Gegen mich liegt nichts vor, gar nichts“, sagt er. Er zeigt auf sein polizeiliches Führungszeugnis auf dem Tisch, keine Einträge, er zeigt es wie ein Aushängeschild. „Sie hatten nie etwas gegen mich in der Hand; ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen..“

Karsten Wrede ist selten in seinem Haus im Kreis Wolfenbüttel. Seit er vor dreieinhalb Jahren in den Strudel der Ermittlungen gegen Hells-Angels-Mitglieder in Spanien geriet, wird er den Stempel nicht los: Rocker. Hells Angel. Dubiose Verstrickungen. Dabei war er nie Mitglied des umstrittenen Rockerclubs gewesen. Sein Sportstudio in Braunschweig, das er vor seiner Verhaftung betrieben hat, seine Aufträge als Kampfsportlehrer, seine Selbstverteidigungskurse für Kinder in der Region – alles musste er aufgeben. Seit knapp einem Jahr darf er Spanien zwar verlassen, darf er wieder reisen. Doch zu den Akten sind die Vorwürfe gegen ihn immer noch nicht gelegt. In seiner Heimat steht er vor einem Scherbenhaufen, einem Berg an Schulden. Nun kämpft er vor allem für eines: Entschädigung.

Wer die Geschichte von Karsten Wrede verstehen will, muss sie von Anfang an kennen, der muss sich mit juristischen Details befassen und mit ungeheuerlichen Vorwürfen. Im Juli 2013 nimmt die Polizei auf der Ferieninsel Mallorca den früheren hannoverschen Rockerboss Frank Hanebuth fest und mit ihm 25 mutmaßliche Komplizen. Hanebuth hatte ein Jahr zuvor den Ableger der Hells Angels in Hannover aufgelöst und sich auf die Ferieninsel zurückgezogen. Zusammen mit der Frankfurter Kiezgröße Paul E. weilt er auf einer Finca in Lloret de Vistalegre, im Landesinneren der Insel.

Die „Operation Casablanca“ ist medienwirksam aufgezogen, 200 schwer bewaffnete Polizisten stürmen mehrere Wohnungen, das spanische Fernsehen sendet die Bilder von maskierten Beamten in kugelsicheren Westen. Den Festgenommenen wird unter anderem Geldwäsche, Förderung der Prostitution und Erpressung vorgeworfen. Außerdem legen die spanischen Ermittler den Hells Angels auf Mallorca zur Last, eine kriminelle Vereinigung zu sein.

Im Zuge ihrer Ermittlungen gerät auch der Wolfenbütteler Karsten Wrede ins Visier der Fahnder. Sie haben ihn in Verdacht, an einem Sprengstoffanschlag gegen die Nichte eines Anlagebetrügers am bayrischen Ammersee beteiligt gewesen zu sein. Die Hells Angels sollten quasi als Inkasso-Truppe versucht haben, das Geld für die geprellten Opfer einzutreiben. Im August wird Wrede in Braunschweig verhaftet, Grundlage ist ein Europäischer Haftbefehl gegen ihn. Polizeibeamte bringen ihn gefesselt nach Frankfurt und von dort aus mit dem Flugzeug nach Madrid. „Für mich im Rückblick die schlimmste Erfahrung“, sagt er. „Ich wurde behandelt wie ein Schwerverbrecher.“

Erst nach und nach begreift er, dass ihm offenbar seine Kontakte zum ehemaligen Rotlichtkönig Paul E. zum Verhängnis geworden sind, ein Freund aus früheren Zeiten. Die Polizei in Spanien hat Telefonate zwischen den beiden abgehört, darin geht es unter anderem um eine Gruppe von sechs bis acht Personen, die nach Mallorca reisen will. Die Fahnder gehen von kriminellen Hintergründen aus. Wrede sagt, dass es sich lediglich um Bekannte aus Braunschweig gehandelt habe – ohne Kontakte zu den Hells Angels. Außerdem hat er zwei Briefe für Paul E. eingeworfen. Einer der Adressaten ist jener Millionenbetrüger, gegen den später der Anschlag am Ammersee gerichtet war.

Es war ein Freundschaftsdienst, sagt Wrede. Er habe nicht gewusst, auf was er sich einließ.

Er wollte nur einen Kumpel helfen, der ihn selbst oft bei beruflichen Projekten unterstützt hatte.

Doch die Ermittler haben ihn in Verdacht, an einer Erpressung beteiligt zu sein; in den Briefen war aufgelistet, wie viel Geld die Opfer des Betrügers zu kriegen hätten. Wrede wird in ein Gefängnis nach Madrid gebracht. Einmal in der Woche kommt ein Sozialarbeiter, den er bittet, wenigstens E-Mails schreiben zu dürfen, um den Kontakt zu seiner Familie und einem Anwalt zu halten.

Ende September äußert das Oberlandesgericht in Braunschweig Bedenken wegen der Auslieferung. Das Ersuchen der spanischen Justiz sei noch nicht ausreichend konkret, heißt es. Die Generalstaatsanwaltschaft bittet die spanischen Behörden um weitere Informationen. Diese übermittelt unter anderem die Protokolle aus der Telefonüberwachung. Anfang November erklärt das Oberlandesgericht die Auslieferung schließlich für zulässig.

Wenn ein EU-Haftbefehl vorliegt, prüft die deutsche Justiz lediglich formale Kriterien. „Wir führen kein Strafverfahren durch“, erklärt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft, als unsere Zeitung nach der Festnahme über den Fall berichtet. Ob die Vorwürfe zutreffend seien, dürfe in Deutschland nicht untersucht werden. „Wir leisten lediglich Hilfe für einen anderen Staat, damit dieser ein Strafverfahren durchführen kann.“

Doch Karsten Wrede vermutet, dass von Anfang an nur in eine Richtung ermittelt wurde: Ein Schlag gegen die Hells Angels ist nicht nur in Spanien, sondern auch in Deutschland ein Politikum, immer wieder ist die Polizei scharf gegen Ableger der Rocker-Vereinigung vorgegangen, weil Mitgliedern kriminelle Handlungen nachgewiesen werden konnten; es gab Verbote von Vereinen. Doch diesmal sind die Erkenntnisse offenbar dünn. Wrede schüttelt den Kopf. „Die deutschen Behörden schieben alles auf die spanische Justiz, die hat sich wiederum auf die Ermittlungsergebnisse aus Deutschland gestützt.“ Tatsächlich lösen sich wesentliche Vorwürfe gegen ihn nach und nach in Luft auf.

Erpressungen im Auftrag der Hells Angels? Nach dem Sprengstoffanschlag in Bayern gesteht ein Österreicher die Tat, ein Einzeltäter. Er will im Auftrag eines Betrugopfers gehandelt haben. Im Mai 2014 verurteilt ihn das Landgericht Traunstein zu einem Jahr und zehn Monaten Haft. Eine Verbindung Karsten Wredes zu dem Fall schließt das Gericht aus.

Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung? Die Polizei hat unlängst bestätigt, dass der Wolfenbütteler kein Mitglied der Hells Angels ist. Bleiben die Verbindungen zum Rockerklub. „Wirft man mir vor, dass ich Frank Hanebuth kenne?“, fragt Wrede. „Dann müssten auch viele Politiker verhaftet werden.“ Schließlich sei bekannt, dass der Rockerboss enge Verbindungen zur Prominenz in Hannover pflegt.

Im Juni 2014 darf Wrede das Gefängnis in Madrid verlassen. Er bekommt aber die Auflage, in Spanien zu bleiben und sich regelmäßig bei den Behörden zu melden. Die Entlassung kommt völlig unvermittelt, er steht ohne einen Cent in der Tasche auf der Straße und weiß nicht, wo er bleiben soll. Bis ihm die Familie Geld aus Deutschland schickt, hilft ihm der Sozialarbeiter aus dem Knast über die Runden. Karsten Wrede kommt in einem Hostel unter. Nach einigen Tagen kann er nach Mallorca reisen. Er findet eine Wohnung zwischen Palma und El Arenal, die Miete zahlen Freunde.

Fast vier Jahre nach der „Operation Casablanca“, fast vier Jahre nach der spektakulären Verhaftung der Hells-Angels-Mitglieder auf Mallorca und der Auslieferung Wredes nach Madrid gibt es in Spanien immer noch kein Verfahren vor Gericht. Vor gut zwei Jahren hatte der zuständige Ermittlungsrichter zwar einen 95-seitigen Abschlussbericht vorgelegt, doch der Staatsanwaltschaft reichte das offenbar nicht aus, um Anklage gegen Frank Hanebuth und andere Verdächtige zu erheben; sie verlangte Nachermittlungen. Inzwischen ist der zuständige Richter im Verfahren entlassen worden, gegen den Oberstaatsanwalt wird in Spanien seit kurzem wegen Pädophilie ermittelt, auch das ist so eine unglaubliche Wendung in diesem Krimi.

Wie Karsten Wrede darf auch der ehemalige Rockerboss Hanebuth längst wieder reisen. Als er im September vorigen Jahres das erste Mal nach langer Zeit in Hannover mit Stretch-Limousine und Rocker-Kutte bei einer Party im Steintor-Club „Sansibar“ vorfährt, sorgt das für einen riesigen Medienrummel.

Was von den Vorwürfen gegen den Zwei-Meter-Mann am Ende übrig bleibt, ist offen. Nach spanischem Recht muss ein Verfahren spätestens vier Jahre nach dem Beginn der Ermittlungen erfolgen. Das wäre am 23. Juli der Fall. Das Datum ist auch die entscheidende Frist für Karsten Wrede, dessen Schicksal nun eng mit dem von Hanebuth verknüpft ist.

Inzwischen kämpft auch der hannoveraner Rechtsanwalt Fritz Willig für den Wolfenbütteler, ein ehemaliger Boxer wie sein Mandant. Der 75-Jährige ist einer der prominentesten Anwälte, den die Landeshauptstadt zu bieten hat: Ex-Präsident von Hannover 96 und Verfasser von zwölf Büchern. Er verteidigte unter anderem 96-Trainer Helmut „Fiffi“ Kronsbein, der seine Frau umgebracht haben sollte – und freigesprochen wurde. 1984 war das, lange her.

Willig ist davon überzeugt, dass man Karsten Wrede eigentlich gar nicht hätte ausliefern dürfen. Am Telefon spricht er von „Rechtsbeugung auf höchstem Niveau“. Das Verfahren in Deutschland gegen seinen Mandanten sei nach Paragraf 170 eingestellt worden, eine Straftat konnte ihm nicht nachgewiesen werden. „Jetzt warten wir auf die Einstellung des Verfahrens in Spanien und bereiten dann eine Schadenersatzklage gegen das Land Niedersachsen vor.“ Zu Details will er sich noch nicht äußern.

Wrede fliegt wenige Stunden nach unserem Gespräch wieder zurück nach Mallorca. Er will dort bleiben, bis er seine Schulden beglichen hat, bis das Ganze vor Gericht abgeschlossen ist. Er sagt, er habe keine „Knastmacke“ davongetragen, keine Albträume. Trotzdem haben die letzten Jahre Spuren hinterlassen – bei seiner Familie, weil sie mit Anfeindungen leben muss. Aber auch bei ihm: „Das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat habe ich verloren.“

Seit einiger Zeit ist Wrede wieder als Kampfsportlehrer aktiv, er gibt Kurse auf Mallorca und in seiner Heimat, in Braunschweig und der Region. Auch sein „Safety-Kids-Programm“ hat er wieder aufgenommen, die Selbstverteidigungskurse für Kinder, an denen er so hängt. Demnächst eröffnet Frank Hanebuth ein Box- und Selbstverteidigungsstudio in Palma de Mallorca, dort will Wrede als Trainer arbeiten.

Das ist gewissermaßen die Ironie der Geschichte: Vor seiner Verhaftung habe er den mächtigen Hells Angel Hanebuth kaum gekannt, sagt Wrede. Doch die Zeit im Knast, das Verfahren, das sich über Jahre hinzieht, die Ungewissheit, das verbindet Menschen zu einer Schicksalsgemeinschaft. „Frank Hanebuth ist ein charismatischer Typ, ich werde nie leugnen, dass ich ihn kenne.“ Aus einer flüchtigen Bekanntschaft ist Freundschaft geworden.

Auch das ist ein Kapitel in Wredes Drehbuch. Ende offen.