Braunschweig. Wer Erste Hilfe beherrscht, kann Leben retten. Wir haben einen Kursus beim DRK in Braunschweig besucht.

Der Mann ohne Augen hat glatte Wangen. Er ist haarlos, sein Mund leicht geöffnet, darüber liegt ein dünnes Tuch aus Vlies.

„B-e-a-a-a-a-a-a-t-m-e-n“, sagt eine monotone Stimme. Lydia beugt sich über das Gesicht, hält die Nase zu, zieht den Kopf leicht nach hinten und pustet. Zweimal. Pustet, bis sich der Brustkorb hebt und senkt. Dann legt sie wieder ihre Hände auf den Oberkörper und pumpt, pumpt, pumpt, drückt bis zu sechs Zentimeter tief auf dem unteren Brustbein. 30 Mal.

Der Mann ohne Augen hat einen Herz-Kreislaufstillstand, er ist nicht mehr bei Bewusstsein, atmet nicht. Lydia soll ihn wiederbeleben, bearbeitet seinen Brustkorb, pumpt, pumpt, pumpt, bis wieder die Stimme kommt: „B-e-a-a-a-a-a-a-t-m-e-n“. Der aufgeklappte Defibrillator neben Lydia gibt ihr vor, was zu tun ist. „Puh, ist das anstrengend“, sagt sie.

Es ist Montag, die Luft im Übungsraum der Rettungswache des Deutschen Roten Kreuzes in Braunschweig wird dünn und dünner, es riecht leicht nach Schweiß. Vier Männer ohne Augen liegen in der Mitte, Puppen aus Gummi, die von den 16 Teilnehmern des Erste-Hilfe-Kursus nacheinander mit der Herz-Lungen-Massage bearbeitet werden. Die Frauen und Männer pusten, pumpen, lachen über die absurde Situation, einer Puppe Leben einhauchen zu wollen. Wiederbeleben macht Spaß, wenn es nicht um Leben und Tod, wenn es nur um das Training für den Ernstfall geht.

Es ist eine bunt zusammengewürfelte Gruppe. Lydia, Natalie, Tom, Flo, Helen – für die Kursdauer alle per Du, darauf hat man sich im Vorfeld geeinigt. Die Teilnehmer sind betriebliche Ersthelfer, sie müssen alle zwei Jahre ihre Kenntnisse in der Ersten Hilfe auffrischen, sie arbeiten in der Automobilindustrie, für einen Bekleidungshersteller oder einen Drogeriemarkt, sind in der Altenpflege beschäftigt oder begleiten Kinder und Jugendliche auf Freizeiten. Es sind aber auch Teilnehmer dabei, die das letzte Mal einen Kurs zum Führerschein gemacht haben, das ist schon 20, 30 Jahre her. Das angestaubte Wissen wollen sie wieder polieren.

Wie kann man Leben retten ohne medizinische Ausrüstung? Kursleiter Jens Vohrer steht vor der Gruppe, blaue DRK-Jacke, blonde Locken, Brille, und sagt: „Jeder kann helfen, man braucht dafür kein Diplom, sondern nur einen gesunden Menschenverstand.“ Der 39-Jährige will den Teilnehmern nicht nur die notwendigen Griffe zeigen, sondern auch die Angst vor der ersten Hilfe nehmen. Wenn jemand regungslos am Boden liegt, sollte man auf jeden Fall eingreifen – auch auf die Gefahr hin, einen Fehler zu machen. „Nur ein Fehler ist wirklich verhängnisvoll: nichts tun.“ Tatsächlich ist jeder bei einem Notfall oder Unglück verpflichtet zu helfen. Doch die wenigsten sind auf beherztes Handeln vorbereitet.

Herzinfarkt im Auto, Schlaganfall im Büro, Sturz von der Treppe - Notfälle können überall passieren. Vohrer hat Statistiken parat: Rund 60 Prozent ereignen sich Zuhause, im Haushalt oder in der Freizeit, 30 Prozent passieren bei der Arbeit und in weniger als 10 Prozent der Fälle handelt es sich um Unfälle im Straßenverkehr.

Wie geht man vor, wenn man plötzlich einen Kollegen vor sich hat, dem es nicht gut geht?

Natalie spielt das Opfer mit diffusen Symptomen. Die Teilnehmer sitzen im Kreis; einer wählt den Notruf 112, ein anderer kontrolliert, ob Natalie ansprechbar ist, wickelt sie in eine Decke, damit keine Wärme verloren geht und redet auf sie ein. „Der Rettungswagen wird gleich da sein.“

Ausbildungsleiter Vohrer fasst zusammen, an was man im Notfall immer denken sollte: „HELD, H wie Hilfe holen, E wie Ermutigen und Trösten, L wie lebenswichtige Funktionen kontrollieren und D wie Decke unterlegen oder zudecken.“ Dann zieht er Kisten mit Verbandsmaterial in die Mitte. Es geht zur nächsten Aufgabe: Was tun, wenn sich jemand den Kopf so angeschlagen hat, dass er blutet? Was sollte man unternehmen, wenn sich der Kollege versehentlich in den Arm schneidet und das Blut aus der Wunde schießt?

Bis vor zwei Jahren lief ein Erste-Hilfe-Kurs noch über zwei Tage. Doch damit mehr Menschen daran teilnehmen können, wurde er auf neun Stunden gestrafft und kann damit an einem Tag abgewickelt werden. Die Inhalte sind dieselben, allerdings wurden sie etwas komprimiert. Statt alle Teilnehmer die Übungen etwa nacheinander machen zu lassen, finden sie nun parallel in einer Art Zirkeltraining statt.

Gruppe eins übt Kopfverbände, Gruppe zwei muss einen Druckverband anlegen. „Es wird nichts mehr abgedrückt oder abgebunden“, erklärt Vohrer – „das ist für Laienhelfer viel zu umständlich.“ Stattdessen wickelt man einen Verband um die Wunde (Einmalhandschuhe überziehen vorher nicht vergessen), legt darüber eine eingepackte Mullbinde und zieht sie fest. Fertig. Anschließend den Verletzten noch warm zudecken, die Beine leicht erhöht lagern, betreuen und beobachten, bis der Rettungsdienst eintrifft.

In Gruppe drei muss Flo den Bewusstlosen spielen. Die anderen üben, wie sie die Atmung überprüfen (Wange und Ohr dicht über Mund und Nase des Opfers halten – so kann man den Luftstrom der Atmung spüren und hören). Flo atmet, also darf er keinesfalls auf dem Rücken liegen bleiben – er würde ersticken. Die Helfer sollen ihn so lagern, dass Speichel, Erbrochenes oder Blut aus dem Mund abfließen kann.

Jens Vohrer macht es vor: Den nahen Arm angewinkelt neben den Kopf legen, die gegenüberliegende Hand ergreifen und den Arm vor der Brust kreuzen. Den gegenüberliegenden Oberschenkel beugen und zu sich ziehen, bis das Bein rechtwinklig zur Hüfte liegt. Flo kippt zur Seite. Nun seinen Kopf nach hinten neigen und den Mund leicht öffnen.

Lange war die Anleitung zur stabilen Seitenlage sehr kompliziert, im Notfall waren viele Laienhelfer überfordert, weil sie die richtige Reihenfolge nicht abrufen konnten. „Dabei reichen wenige Handgriffe, um die Opfer im Notfall zu drehen“, erklärt Vohrer. Das Wichtigste: Der Mund muss der tiefste Punkt des Körpers, der Kopf überstreckt sein. „Stabil“ ist ein Patient trotz Seitenlage noch lange nicht – die Atmung muss ständig überprüft werden, denn es könnte jederzeit zu einem Atemstillstand kommen. „Was tun, wenn das Unfallopfer einen Motorradhelm trägt?“, fragt Vohrer in die Runde. Die Teilnehmer überlegen. Es könnte ein Wirbel verletzt sein- trotzdem sollte ein Helm immer abgenommen werden, damit der Verunglückte nicht erstickt. „Das Wichtigste ist, Leben zu retten. Mögliche Verletzungen muss das Opfer in Kauf nehmen.“ Gruppe vier übt dieses Szenario.

Am Nachmittag geht es dann um den schlimmsten aller Fälle: den Kreislaufstillstand. Als Opfer kommen die Männer ohne Augen ins Spiel, die Plastikpuppen ohne Unterleib. Außerdem schleppt Vohrer zwei Defibrillatoren heran. Viele Firmen haben in ihren Räumen inzwischen einen „Defi“ hängen, wie der Kursleiter das Gerät liebevoll nennt. Lydia öffnet den Koffer, klebt die Elektroden auf den Brustkorb der Puppe und schaltet das Gerät ein. Eine Anleitung muss sie dafür nicht studieren, es gibt dem Helfer Anweisungen: Herzdruckmassage, ein Klavierton gibt den Takt an: tack, tack, tack. „B-e-a-a-a-a-a-a-t-m-e-n“. Lydia pustet. Wenn notwendig, gibt das Gerät einen Elektroschock ab, um den normalen Herzrhythmus wieder herzustellen. Das läuft in der Übung ganz unspektakulär ab - kein lebloser Körper, der sich aufbäumt, wie in vielen Fernsehserien zu sehen.

Helden wie im Fernsehen sind Ersthelfer aber auf jeden Fall und nach neun Stunden Theorie und Praxis hofft Vohrer vor allem, Hemmschwellen abgebaut zu haben. Jeder Teilnehmer bekommt ein Zertifikat mit auf den Weg und einen Satz: „Ich hoffe, ihr müsst das Gelernte nie anwenden.“