Braunschweig. Im Interview spricht der als „Hitlerjunge Salomon“ berühmt gewordene Sally Perel über das Ehrenamt und seine Zeit in Braunschweig.

Am 30. Mai wird Sally Perel die Festrede beim Gemeinsam-Preis halten. Der 1925 in Peine geborene Jude überlebte den Holocaust, indem er seine Identität verheimlichte und sich als arischer Deutscher ausgab. Während des Zweiten Weltkriegs lebte Perel als Josef Perjell, genannt Jupp, in Braunschweig und wurde dort bei Volkswagen zum Feinmechaniker ausgebildet. Berühmt wurde seine Geschichte unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“. Seit Jahrzehnten erzählt er sie Schülern in Israel, Deutschland und in anderen Ländern, um das Gedenken an den Holocaust zu bewahren und vor den Gefahren des Faschismus zu warnen. Mit Perel sprach Johannes Kaufmann.

Herr Perel, mit dem Gemeinsampreis werden Ehrenamtliche ausgezeichnet. Was verbinden Sie mit dem Ehrenamt?

Mir selbst, der ich ja nun bereits 92 Jahre alt bin, bestätigt die ehrenamtliche Arbeit meinen Selbstwert. Für mich ist das ein Bedürfnis zur gesellschaftlichen Mitgestaltung und zum Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Das hat einen persönlichen und auch einen politischen Aspekt.

Sie sprechen Ihr Alter an. Ist Ehrenamt etwas für ältere Menschen, die nach der Pensionierung mehr Zeit haben?

Mein Eindruck ist, dass junge Menschen sich stärker in Gruppen engagieren. Dazu zählen Kirchengemeinden oder Pfadfinder. Ich finde das bewundernswert. Jugendliche gehen nach Auschwitz, um dort die Gedenkstätte zu erhalten. Das ist sehr wichtig.

Haben Sie da auch Erfahrungen mit deutschen Initiativen in Israel gemacht?

Ich bin voller Hochachtung für die vielen deutschen Freiwilligen, die hierherkommen, um Holocaust-Überlebende zu pflegen. Da gibt es Organisationen wie Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, die Vorbereitungskurse in Deutschland anbieten und anschließend Freiwillige für ein Jahr nach Israel schicken. Ich habe viele von ihnen kennengelernt und kann nur sagen: Hut ab dafür. Die pflegen häufig Überlebende, die seelisch so betroffen sind, dass sie nicht imstande waren, ein normales Leben zu führen. Die Freiwilligen machen da eine wunderbare Arbeit.

Ist es nicht zugleich besonders schwierig, dass ausgerechnet deutsche Jugendliche sich um diese Menschen kümmern?

Im Gegenteil. Dadurch bekommt das einen besonderen Sinn. Deswegen heißt es ja Sühnezeichen. Gerade deutsche Jugendliche fühlen sich wegen der Vergangenheit verpflichtet, diese Menschen zu pflegen. Das ist Humanismus erster Klasse.

Gibt es eine ähnliche Kultur des Ehrenamts in der israelischen Gesellschaft?

Es gibt verschiedene Dienste und Ehrenamtsorganisationen. Auch die Lokalpolitik wird größtenteils ehrenamtlich getragen. Aber das ist nicht so ausgeprägt wie in Deutschland.

Wird das Ehrenamt ausreichend gefördert?

Vor allem die Kirchen in Deutschland fördern das. Das sieht man auch am Umgang mit den Flüchtlingen, bei denen die Deutschen ein für die Welt vorbildliches Benehmen gezeigt haben. Das wurde auch hier in Israel registriert.

Die Gesellschaft wird also nicht kälter, wie häufig beklagt wird?

Das nicht. Aber wenn ich etwas politisch werden darf: Besonders nach der Wahl des neuen US-Präsidenten scheint mir die Welt an sich kälter und gefährlicher zu werden.

Sie werden am 30. Mai die Festrede beim Gemeinsampreis im Braunschweiger Dom halten. Ist es für Sie als Jude etwas Besonderes, in einer großen christlichen Kirche zu sprechen?

Ja, das bekommt eine besondere symbolische Bedeutung, wenn ich als Jude unter dem gekreuzigten Herrn Jesus spreche. Unwohl fühle ich mich dadurch nicht, im Gegenteil. Für mich ist jede Kirche ein Zelt Gottes, auch wenn ich nicht religiös bin.

Ist Ihnen die spezielle nationalsozialistische Geschichte des Doms bekannt?

Nein, ich weiß nur, dass Braunschweig an sich ziemlich braun war.

Der Dom mit seiner Krypta und der Leiche Heinrichs des Löwen sollte in den 1930ern zu einer nationalsozialistischen Weihestätte werden.

Das fügt der Rede noch eine weitere symbolische Ebene hinzu. Immerhin war ich ja ein kleiner Nationalsozialist in diesem Braunschweig.

Manche fürchten eine Rückkehr des Rechtsextremismus in Europa. Was empfinden Sie, wenn Sie hören, dass Neonazis durch Ihre Heimatstadt Peine marschieren?

Ich habe das ja persönlich im Sommer 2011 erlebt: Da wollten Neonazis in Braunschweig marschieren, was aber verhindert werden konnte. Ich war damals bei der Gegendemo dabei. Doch zu meiner großen Enttäuschung musste ich dann hören, dass die Veranstaltung nach Peine verlegt wurde – meine Geburtsstadt, deren Ehrenring mir verliehen wurde, hat denen diesen Aufmarsch erlaubt. Ich habe daraufhin der Stadt mitgeteilt, dass ich den Ring zurückgeben werde, sollte so etwas noch einmal geschehen.

Fühlen Sie sich als Jude in Deutschland sicher? Oder führen solche Erlebnisse zu Angst?

Das betrifft mich nicht als Jude, sondern einfach als Mensch. Das richtet sich ja nicht nur gegen Juden, sondern allgemein gegen den Frieden in Deutschland und in Europa. Und wir müssen verhindern, dass diese Ideologie an die Macht zurückkehrt. Zum Glück ist das in Österreich und Holland nicht geschehen. Hoffen wir, dass es auch in Frankreich und Deutschland so bleibt. Andernfalls wäre all mein Streben in den vergangenen 40 Jahren vergeblich gewesen.

Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Zeit in Peine?

Ich erinnere mich an die Kinderspiele und an die Schule. Wir haben mit Murmeln gespielt. Meine Kindheit verbinde ich mit Peine, das sind meine Wurzeln. Auch die Kultur hat mich geprägt. Es ist meine Heimatstadt.

Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an die ehemaligen Klassenkameraden denken? Sind sie auch enttäuscht oder wütend?

Nein. Als Kind habe ich keine negativen Erfahrungen gemacht. Wir waren damals von den Ereignissen kaum betroffen und haben einfach weitergespielt. Ich wurde auch nicht anders behandelt. In der Stadt wurde aber natürlich der Wandel spürbar. Unser Schuhgeschäft wurde angemalt mit dem Satz „Kauft nicht bei Juden!“

Mit Peine verbindet Sie eine relativ glückliche Kindheit. Ist der Rückblick auf Braunschweig düsterer?

Ja, das sind eher angstvolle Erinnerungen.

Spüren Sie das heute noch, wenn Sie in Braunschweig sind?

Wenn ich die Orte von damals besuche – das Haus der HJ-Schule steht ja noch –, dann wird der Hitlerjunge in mir wieder wach. Ich war kaserniert im Bann 468 der Hitlerjugend. Gleichzeitig waren wir Lehrlinge bei Volkswagen. Das war eine schreckliche Zeit für mich.

Wenn ich das VW-Werk in Braunschweig betrete, fällt mir sofort ein, dass ich hier jahrelang gelernt habe, andere zu hassen. Ich habe mich in einen echten Hitlerjungen verwandelt und begann zu vergessen, wer ich wirklich bin. Dass

ich jetzt im Braunschweiger Dom eine Friedensrede halten darf,

ist eine Krönung meines Lebenswegs.

Haben Sie auch Angst, wenn Sie in Braunschweig sind?

Ja, am Eingang des Werks. Da ist der Werkschutz. Wenn ich den sehe, bekomme ich Angst. Denn der Werkschutz in seiner Uniform hat mich damals immer in Schrecken versetzt. Wenn so einer an mir vorbeiging, fürchtete ich immer: Jetzt halten die mich an, Hose runter, und jeder sieht, dass ich ein Jude bin.

Wissen Sie schon, worüber Sie im Dom sprechen werden?

Ich spreche über Menschenwürde und Menschenrechte. Ich werde meine persönliche Beziehung zu Braunschweig schildern. Meine Eltern lebten ja bereits vor meiner Geburt in Braunschweig. Mein Bruder pendelte nach Braunschweig, weil er dort arbeitete. Und ich persönlich verbinde ja meine vierjährige Zeit als Hitlerjunge mit der Stadt.

Sie sind gerade 92 geworden. Werden Sie mit Ihren ehrenamtlichen Schulbesuchen und anderen Auftritten weitermachen?

Ja. Bis meine Schuhe mich nicht mehr tragen.

Haben Sie etwas bewirkt?

Ich bin ein bescheidener Mensch, aber ja, ich glaube schon, dass ich in den 40 Jahren einige Schüler und Studenten erreicht habe. Ich habe etwas getan. Jeder Mensch kann die Welt ein bisschen ändern. Durch meinen Bericht habe ich in gewisser Weise neue Zeitzeugen geschaffen, die die Botschaft weitergeben.