Braunschweig. Derzeit erleben wir eine radikalere Wende als 1989/90, sagt der Braunschweiger Politologe Ulrich Menzel. „Europa driftet auseinander.“

Unser Leser Wolfgang Kottke aus Königslutter fragt:

Eint die Europapolitik Trumps Europa wieder? Ist dies eine Chance für Europa?

Die Antwort recherchierte Johannes Kaufmann

Für eine neue europäische Einigkeit sieht Professor Ulrich Menzel keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil: „Europa driftet auseinander. Auf den harten Brexit könnten weitere Exits folgen. Marine Le Pen hat schon einen angekündigt.“ Was Europa zusammen und speziell Osteuropa „bei der Stange“ halte, seien nicht die gemeinsamen europäischen Werte, sondern „die Furcht vor der Restauration des russischen Imperiums“.

„Die USA haben die internationalen öffentlichen Güter zur Verfügung gestellt. Das ist vorbei.“
„Die USA haben die internationalen öffentlichen Güter zur Verfügung gestellt. Das ist vorbei.“ © Ulrich Menzel, Politikwissenschaftler

Im rappelvollen Theologischen Zentrum in Braunschweig analysierte der Politologe und ehemalige Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig jüngst die Geschichte der westlichen Vorstellungen vom Eigenen und vom Fremden. Seine These: Die Entwicklungen der vergangenen Monate und darin speziell der Austritt Großbritanniens aus der EU, das Erstarken neuer nationalistischer Bewegungen und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten stellten einen fundamentaleren Wandel der politischen Weltordnung dar als die Wiedervereinigung und der Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90.

Damals habe, so Menzel, das Wegbrechen des ideologischen und ordnungspolitischen Gegenstücks des Westens dazu geführt, dass auch dessen Identität brüchig wurde. Dazu habe die Industrialisierung in Ost- und Südostasien beigetragen, die Länder wie Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur zu Kandidaten für die OECD und damit für den Kern des „Westens“ machten. Auch die „Versüdlichung des Nordens“, zum Beispiel durch einen stark wachsenden Bevölkerungsanteil von Latinos in den USA, Nordafrikanern in Frankreich, Indern und Pakistanern in Großbritannien und Türken in Deutschland, sei ein Aspekt gewesen.

Vor allem aber habe es Befürchtungen einer „Auflösung des atlantischen Kerns des Westens“ gegeben. Je nach Schwerpunktsetzung habe man darunter „die Schnittmenge aus der Sicherheitsgemeinschaft der Nato, der Industriegemeinschaft der OECD, der Wertegemeinschaft der durch die Aufklärung geprägten Länder und gegebenenfalls sogar der Glaubensgemeinschaft des Christentums, bestehend aus den Ländern beiderseits des Nordatlantiks“ verstanden, so Menzel.

Speziell die voranschreitende Integration der EU, die auf dem Weg zu einer Art Vereiniger Staaten von Europa die Konstruktion einer neuen europäischen Identität anregte, habe den Atlantizismus in Frage gestellt. Die USA wiederum öffneten sich wirtschaftlich Lateinamerika und Asien, was Diskussionen einer „pazifischen Identität“ aufkommen ließ.

US-Präsident Trump stellt den Atlantizismus in Frage

Trotz alledem habe es 1990 aber keinen grundsätzlichen Wandel gegeben, sondern lediglich einen Ausbau des Vertrauten, antwortete Menzel auf die verblüffte Frage einer Zuhörerin. „Heute hingegen wird das Vertraute, die idealistische Nachkriegsordnung, massiv in Frage gestellt – und zwar von allen Seiten.“

Anders als 1990 drohe der Einheit des Westens die größte Gefahr nun von der anderen Seite, wenn „Trump den Atlantizismus, die Sinnhaftigkeit der Nato, das liberale Welthandelsregime oder den kooperativen Ansatz der EU in Frage stellt“, erklärte Menzel. Und viele EU-Staaten reagierten nicht mit mehr Geschlossenheit, sondern mit Rosinenpickerei innerhalb der Union.

Die Konsequenz: „Nicht die Neukonstruktion westlicher Identität, sondern deren Auflösung steht auf der Agenda“, so Menzel.

Trump sei dabei lediglich Ausdruck, nicht Ursache einer bedenklichen Entwicklung zu einem neuen Nationalismus. „An die Stelle der Idee, dass durch Kooperation alle gewinnen können, tritt das von Trump favorisierte realistische Nullsummen-Denken, das auf die Selbsthilfe setzt. Was das Eigene gewinnt, muss das Fremde verlieren“, analysiert der Politologe. Aus dem Universalismus werde ein „Wir“ gegen „Die“. „,Make America great again‘ geht in Trumps Logik nur auf Kosten der anderen.“

All dies sei die Begleitmusik zum Rückzug der USA als globale Hegemonialmacht. Und bei aller Kritik, die er selbst stets an dieser Rolle geübt habe, werde nun deutlich, „wie wir alle davon profitiert haben“. Deutschland und Europa hätten über Jahrzehnte die Vorzüge des US-amerikanischen Atomschilds und des durch die USA garantierten freien Handels genossen. „Die USA haben die internationalen öffentlichen Güter zur Verfügung gestellt. Das ist vorbei. Bisher ist keine internationale Ordnungsmacht in Sicht, die notfalls Flugzeugträger in den persischen Golf entsendet, um die Ölversorgung für die Welt sicherzustellen.“

China werde womöglich einmal diese Rolle übernehmen, sei aber militärisch noch weit davon entfernt. Und in der Übergangsphase wachse durch das entstehende Machtvakuum das Risiko für kriegerische Auseinandersetzungen. Menzel sieht gar die Gefahr eines neuen Weltkriegs, wenngleich in anderer Form: nicht mehr als zwischenstaatlicher Krieg, sondern als substaatliche Konflikte überall auf der Welt.

Die düsteren Prognosen des Politikwissenschaftlers lieferten jede Menge Diskussionsstoff. Ein Zuhörer wollte von Menzel wissen, was es denn jetzt zu tun gebe, welche Gegenkräfte zu der beschriebenen Entwicklung existierten.

„Wir müssen diesen EU-Laden unbedingt zusammenhalten“, appellierte Menzel, der nun in der Diskussion die kühle Analyse des Vortrags hinter sich ließ. Voraussetzung sei allerdings, dass Marine Le Pen nicht die Wahl in Frankreich gewinne. „Wenn das geschieht, ist die EU am Ende“, fürchtet Menzel. Es sei aber wahrscheinlich, dass dies durch ein Bündnis aller anderen politischen Kräfte in Frankreich verhindert werde – ähnlich wie beim Sieg Hindenburgs über Hitler bei der Wahl des Reichspräsidenten 1932.

„Der Ausbau des deutschen Sozialstaats ist am Ende“

Bei einem Verbleib Frankreichs könne die EU erhalten werden. „Das läuft dann allerdings auf eine deutsche Hegemonie hinaus“, ist Menzel überzeugt. Deutschland werde noch deutlich mehr Verantwortung schultern müssen, finanziell und auch militärisch. Doch das werde Konsequenzen haben: „Der Haushalt wird sich dramatisch ändern: mehr fürs Militär, mehr für die EU, mehr für Frontex.“

Heute sei das Budget für das Soziale dreimal so groß wie für die Rüstung. Das sei unmöglich weiter durchzuhalten. „Wir werden das Ende des Ausbau des Sozialstaates erleben“, ist Menzel überzeugt. Sicherheit werde eine neue Priorität werden, und die sei teuer.

Dass Trump einen positiven Einfluss auf den Zusammenhalt Europas haben könnte, wie unser Leser andeutet, sieht Menzel nicht. Seine Politik stärke eher die nationalistischen Populisten auch in Europa. Eine solche Rolle könne aber ein anderer Politiker vom gleichen Schlage spielen: „Der Putinismus hält Europa zusammen, inklusive Osteuropas und sogar Großbritanniens.“