Wolfsburg. 32 Verdächtigen in Niedersachsen wurden 2014 bis 2016 die Ausweisdokumente entzogen. Einige klagten dagegen – meist ohne Erfolg.

Unser Leser Klaus Richter aus Wolfsburg fragt:

„Ich verstehe nicht, warum es Ausreiseverbote für gefährliche Islamisten gibt? Effektiver wäre es doch, Ihnen die Wiedereinreise zu verwehren.“

Die Antwort recherchierte Hendrik Rasehorn

Dieser Gedanke liegt nahe – ist aber nicht mit unseren Gesetzen vereinbar. Eine Ausbürgerung ist gemäß Artikel 16 Absatz 1 Grundgesetz grundsätzlich verboten. Zum anderen dürfen Behörden nicht tatenlos zuschauen, wenn es Hinweise gibt, dass sich ein Verdächtiger im Ausland einer Terrororganisation anschließen könnte. Beispielhaft lässt sich dies am Fall eines Wolfsburger Salafisten erklären. Dieser wollte im Dezember 2014 nach Syrien zum IS – waren sich die Sicherheitsbehörden sicher. Die Bundespolizei verhinderte seine Ausreise in die Türkei am Flughafen Hannover und die Stadt Wolfsburg entzog ihm im Januar 2015 dauerhaft den Reisepass.

Gegen die Maßnahme klagte der Mann. Das Verwaltungsgericht Braunschweig urteilte, dass die Entscheidung der Stadt rechtens war. Gemäß Paragraf 7 Absatz 1 Satz des Passgesetzes sind Ausweisdokumente zu versagen, wenn es Hinweise gibt, dass der Passbewerber „die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.“ Dazu zählen Terroranschläge im Ausland. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat außerdem 2014 in der Resolution 2178 alle Mitgliedsstaaten verpflichtet, Terroristen an Ausreise, Transit und Einreise zu hindern.

Zwischen 2014 und 2016 wurden 34 Personen in Niedersachsen die Reisepässe, Personalausweise oder Passersatzdokumente eingezogen beziehungsweise mit einem Sperrvermerk für Auslandsreisen versehen (Stand Oktober 2016). Diese Maßnahmen sind stets zeitlich befristet, meist auf ein Jahr, es sei denn, sie werden aus Gefahrenabwehrgründen verlängert. Wie eine Abfrage unserer Zeitung bei den Kommunen ergab, handelte es sich in 32 der 34 Fälle um (mutmaßliche) Islamisten. Sie wurden verdächtigt, sich im Ausland Terrorgruppen wie dem „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen oder Anschläge zu begehen.

Hildesheim

Rund 75 Personen aus Niedersachsen sind in den vergangenen Jahren in die Kriegsgebiete im Nahen Osten ausgereist – viele nehmen am Dschihad teil. Ein Drittel stammt aus dem Raum Hildesheim. Die Stadt geriet in die Schlagzeilen im Zusammenhang mit Razzien und Festnahmen im Umfeld des „Deutschsprachigen Islamkreises Hildesheim“ (DIK). Die Moschee gilt als „Hotspot“ der Islamisten-Szene. Die Stadt Hildesheim handelte: Zehn Personen wurden zwischen 2014 und 2016 Ausweisdokumente entzogen. Zu den Verdächtigen, die allesamt der Salafisten-Szene zugehörig sein sollen, zählen zwei Frauen. Aufgrund der Erkenntnisse des LKA und des Verfassungsschutzes wurde man tätig, erklärte ein Sprecher der Stadt.

Der erste Passentzug erfolgte 2014, zwei weitere Fälle gab es 2015 und in diesem Jahr sieben Fälle. „In neun Fällen wurden Dokumente entzogen. In einem Fall wurde die Ausreise untersagt, weil ohnehin kein Dokument vorhanden war“, so der Sprecher. Vier Personen klagten gegen die Maßnahme. In einem Fall gab es bereits eine Entscheidung durch das Verwaltungsgericht Hannover. Die Klage eines 31-Jährigen aus dem „DIK“-Umfeld wurde im Juli abgewiesen. Dieser soll geplant haben, unter dem Deckmantel eines Hilfskonvois nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschließen. Eine Person hat mittlerweile ihr Ausweisdokument zurückerhalten.

Salzgitter

Auf der Grundlage von Haftbefehlen des Bundesgerichtshofs wurden Anfang November fünf Mitglieder eines islamistischen Netzwerks verhaftet. Sie sollen Personen an den IS vermittelt haben. Die Verdächtigen bewegten sich im Umfeld der DIK-Moschee in Hildesheim, so auch die Freundin von einem der Verhafteten. Sie lebt in Salzgitter. Die Stadt bestätigte auf Nachfrage lediglich den Entzug des Reisepasses einer Frau. „Es gab einschlägige Hinweise des LKA und des Staatsschutzes, dass sie im Bereich des Salafismus aktiv ist und zum Zweck ihrer Radikalisierung auszureisen plante. Der dringenden Empfehlung auf passentziehende Maßnahmen sind wir gefolgt“, teilte die Sprecherin mit.

Peine

Im Kreis Peine geriet in diesem Jahr ein Asylbewerber in den Verdacht, sich im Nahen Osten einer islamistischen Terrorgruppe anzuschließen. Aufgrund polizeilicher Ermittlungen wurde die Stadt eingeschaltet, so ein Sprecher. „Als wir davon erfuhren, wurde umgehend eine entsprechende Ausreiseuntersagung verfügt.“ Weitere Ermittlungen führten zum Ergebnis, dass der Ausreiseverdacht verworfen wurde. Der Pass der Person befindet sich im Zuge des laufenden Asylverfahrens jedoch weiterhin in Verwahrung der Stadtverwaltung.

Wolfsburg

Neben dem erwähnten Fall des Wolfsburger Salafisten, dessen mögliche Ausreise in Hannover endete, regten die Sicherheitsbehörden 2015 in einem weiteren Fall den Passentzug an. Die Stadtverwaltung entschied sich dagegen – ihre Informationen waren nicht ausreichend. Bereits im Jahr 2011 nahm die Stadt von vier jungen Männern die Reisepässe mit. Die Mutter eines Verdächtigen hatte sich verraten: So sollen sie geplant haben, in den Jemen in ein Terrorcamp von Al-Qaida zu reisen. Mindestens einer dieser Personen soll sich später nach Syrien abgesetzt und dort einer Terrorgruppe angeschlossen haben. Gerüchteweise soll er tot sein.

Stadt und Region Hannover

Der Verfassungsschutz hatte Mitte 2015 konkrete Erkenntnisse, dass ein afghanischer Asylbewerber Kontakte zu militanten Netzwerken unterhält und einen Selbstmordanschlag in seiner Heimat angekündigt haben soll. 2008 kam er nach Deutschland, 2012 wurde sein Asylantrag abgelehnt. In Hannover nahm er zuvor an der Koran-Verteilaktion „Lies“ teil. In seiner Wohnung sollen radikale Landsleute gewohnt haben.

Die Stadt Hannover nahm dem 22-Jährigen den Flüchtlings-Reiseausweis ab und verhängte ein Ausreiseverbot. Darüber hinaus wurde verfügt, dass sich der Mann dreimal wöchentlich bei einem bestimmten Polizeikommissariat melden sollte. Als US-Präsident Barack Obama im April in Hannover zu Besuch war, wurde der Verdächtige durchgehend observiert.

Im Prozess vor dem Verwaltungsgericht Hannover im September 2015 räumte der Afghane ein, er sei „Salafist“, jedoch kein Dschihadist und wolle in der Heimat nur die kranke Mutter besuchen. Das Gericht glaubte ihm kein Wort und bestätigte alle Maßnahmen der Stadt Hannover. Im Sommer wurde das Ausreiseverbot noch verlängert, kurz danach tauchte er ab. Aktuell wird nach ihm gefahndet.

Zwei weiteren Personen entzog die Stadt Hannover 2016 Reisepässe sowie Personalausweise. Darunter war die Freundin (23) des gesuchten Afghanen, eine gebürtige Türkin. Die Sicherheitsbehörden befürchten, sie möchte an der Seite ihres Mannes in den Krieg ziehen. Ihre Klage lehnte das Verwaltungsgericht ab.

In der Region Hannover wurden 2015 sowie 2016 außerdem je einem Asylbewerber, die als Islamisten bekannt sind, die Reispässe abgenommen. „In einem Fall handelte es sich um Erkenntnisse der Polizei, im anderen um eigene Erkenntnisse, so dass die Region von sich aus tätig geworden ist“, erklärte eine Sprecherin.

Göttingen, Northeim

Die Göttinger Islamistenszene rekrutiert sich noch aus Anhängern des „Kalifenstaats“. Diese Organisation wollte in Deutschland einen islamischen Staat gründen. 2001 sprach das Bundesinnenministerium das Verbot aus. Sicherheitsbehörden schätzen aktuell die Anzahl der Islamisten und Sympathisanten im mittleren zweistelligen Bereich. 2015 geriet ein Mann ins Visier der Stadt. „Der Entzug seines deutschen und des türkischen Passes war notwendig, um eine mögliche Ausreise zur Unterstützung des Kampfes des IS sinnvoll zu verhindern“, so ein Sprecher. Laut Medienberichten soll es sich um einen 20-Jährigen handeln. Von ihm soll es Fotos beim Basteln von Molotowcocktails geben. Darauf soll auch ein weitere Göttinger zu sehen sein, der 2015 zum IS ausgereist und bei einem Selbstmordanschlag im Irak gestorben sein soll.

In Göttingens Nachbarstadt Northeim gibt es 2016 einen weiteren Fall eines mutmaßlichen Islamisten, dem der Personalausweis entzogen wurde.

Oldenburg, Landkreis Ammerland, Lohne (Kreis Vechta)

Die Oldenburger Stadtverwaltung wollte die Anfrage unserer Zeitung lange Zeit nicht beantworten. Schließlich räumte ein Sprecher ein, dass 2015 einer Person vor dem „Hintergrund eines IS-Zusammenhanges“ der Personalausweis entzogen wurde. Offenbar klagte eben dieser Betroffene dagegen vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg. „Nachdem sich dieser Verdacht nicht erhärtet hatte, hat die Ausländerbehörde den entsprechenden Bescheid wieder aufgehoben. Die Verfahrensbeteiligten haben den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt“, erklärte ein Sprecher des Gerichts.

Im an Oldenburg angrenzenden Landkreis Ammerland gab es 2015 zwei Fälle, in den Reisepässe nach aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen entzogen wurde. Es handelte sich um Brüder. Sie sollen ins Visier der Behörden aufgrund von Äußerungen bei Facebook geraten sein. In einem Fall wurde der Reisepass-Entzug jedoch wieder zurückgenommen. Einen weiteren Fall gab es in diesem Jahr in Lohne. „Dieser Person wurde sowohl der Reisepass als auch der Personalausweis entzogen. Wir sind damit einem entsprechenden Hinweis der Abteilung Staatsschutz der Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta gefolgt“, erklärte ein Sprecher der Stadt Lohne.

Osterholz-Scharmbeck

Eine der größten Islamisten-Szenen in Niedersachsen existiert in Bremen, die auch ins Umland herüberschwappt. In der angrenzenden Kleinstadt Osterholz-Scharmbeck wurde im Januar 2016 einer jungen Frau der Personalausweis abgenommen. „Es bestand die Gefahr, dass die in die Kampfgebiete im Nahen Osten reisen will. Die Sicherheitsbehörden hatten Hinweise“, so ein Sprecher. Wie in allen Fällen ist der Entzug eines Ausweises immer zeitlich begrenzt, so auch in diesem Fall. „Die Befristung endet am 31. Dezember. Eine Verlängerung ist nicht beabsichtigt, das bedeutet, die Frau kann ihren Ausweis wieder abholen.“

Weitere Fälle

In Osnabrück wurden 2015 einem Verdächtigen sowohl Reisepass als auch Personalausweis entzogen. 2016 wurden zwei weiteren Bürgern die Personalausweise abgenommen. In allen Fällen soll es sich um Islamisten handeln, die sich im Ausland angeblich Terrorgruppen anschließen wollten.

Im Landkreis Emsland gab es zwei Verdachtsfälle, weshalb die zuständigen Behörden handelten. 2016 betraf dies eine Person in der Samtgemeinde Dörpen. Der Verdächtige plante aber angeblich nicht auf der Seite des IS, sondern gegen die Terrormiliz zu kämpfen, so ein Sprecher der Samtgemeinde. „In dem betreffenden Fall ist der Entzug der Dokumente durch die Samtgemeinde Dörpen wieder zurückgenommen worden.“

In der Samtgemeinde Spelle wurde 2016 einer Person der Reisepass sowie der Personalausweis entzogen. Auch in diesem Fall soll eine Ausreise geplant gewesen sein. „Der Person wurde ein Ersatz-Personalausweis ausgehändigt, mit dem eine Ausreise nicht möglich ist“, so ein Sprecher der Samtgemeinde. Der Betroffene hat gegen diese Maßnahme im Juli Klage eingereicht vor dem Verwaltungsgericht Osnabrück.

In Schaumburg wurde 2015 einem Asylbewerber vor dem Hintergrund des Islamismus-Verdachts der Reisepass entzogen. Dies betrifft auch einen Mann und seinen Personalausweis aus der Samtgemeinde Marklohe im Landkreis Nienburg/Weser. „Nach weiterer Prüfung reichten die Verdachtsmomente nicht aus. Der Mann hat seinen Ausweis zurückerhalten“, so ein Sprecher.