Region. Immer zum Jahresende sagen Fachleute aus unserer Region die Zukunft voraus. Lesen Sie hier, wie verlässlich die Prophezeiungen für 2016 waren.

Auf welche Vorhersage sind Sie stolz?

Wolf-Michael Schmid: Ich habe die Risikofaktoren korrekt beschrieben. Dazu zählen die Terrorgefahr, die Instabilität innerhalb der EU, die besonders im Brexit ihren Ausdruck fand, und die allgemeine Verunsicherung in der deutschen Wirtschaft aufgrund fehlender Perspektiven. Auch die prognostizierten Fortschritte beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in unserer Region sind eingetreten.

Susanne Pfleger: Auch wenn ich nicht den richtigen Namen weisgesagt habe, so habe ich bei der Verleihung des Nobelpreises für Literatur doch geahnt, dass die Auszeichnung 2016 unbedingt wieder einmal an einen Lyriker vergeben werden muss – und mit Bob Dylan wurde ja, wie die Jury mitteilte, „ein großer Dichter für seine poetischen Neuschaffungen“ geehrt. Mein Favorit Adonis, der als Symbol für die arabische Welt hätte gelten können, war zwar hochgewettet, aber wohl zu umstritten für den Nobelpreis.

Dr. Alexander Thiele: Ich freue mich, dass die Folgen der Flüchtlingskrise für den deutschen Arbeitsmarkt tatsächlich nicht so dramatisch waren, wie das von anderer Seite oftmals befürchtet wurde. Die Integration der hier angekommenen Flüchtlinge bleibt gleichwohl eine Mammutaufgabe, da will ich gar nichts klein reden. Ich denke aber, dass die Kanzlerin mit ihrer umstrittenen Aussage Recht hatte: „Wir schaffen das“. Außerdem ist meine Prognose eingetroffen, dass die EZB die Zinsen im Jahr 2016 nicht erhöhen wird.

Hildegard Schooß: Ich hatte Recht mit meiner Vorhersage zu den Flüchtlingsfragen. Auch wenn wir weniger Zugewanderte bei uns haben, müssen wir uns um die kümmern, die geblieben sind oder noch kommen werden. Die Eingliederung konnte nur gelingen durch die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger. Die Ämter haben zu lange versagt und ich wundere mich, dass unsere sonst so tüchtige Bürokratie derartige Schwierigkeiten damit hatte. Aber schließlich hat auch das geklappt.

Wolf-Rüdiger Umbach: Stolz ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich lag richtig mit meiner Einschätzung, dass Eintracht Braunschweig 2016 den Aufstieg nicht schafft. Dafür sieht es in dieser Saison richtig gut aus. Außerdem habe ich richtig vorhergesagt, dass unsere Fußball-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft nicht über das Halbfinale hinauskommt. Und bei der Wahl zum neuen DFB-Präsidenten lag ich ebenfalls richtig. Reinhard Grindel ist es, wie von mir prophezeit, geworden. Ich denke, dass das auch eine gute Wahl für einen gelungenen Neuanfang beim DFB ist.

Professor Ulrich Menzel: Sie sind bis auf eine alle eingetroffen. Insofern könnte ich auf die hohe Trefferquote meiner Vorhersagen stolz sein. Stolz ist aber nicht der richtige Ausdruck, da es sich überwiegend um Entwicklungen in der Welt wie in Deutschland handelt, die uns nicht gefallen können.

TU-Präsident Professor Jürgen Hesselbach: Ich hatte gesagt, die TU werde 2016 rund 20 000 Studierende haben. Es sind 20 167. Man könnte also von einer Punktlandung sprechen. Bei den Forschungszentren muss ich zugeben, dass es da nicht viel seherische Weisheit für die Prognose brauchte. Das ist letztlich ja eine Frage der Bauplanung, und bei den Neubauten stimmt die meistens. Außerdem war ich davon ausgegangen, dass der Abgas-Skandal die TU nicht allzu stark treffen würde. Mittlerweile sehe ich sogar Chancen, die durch die Fokussierung auf Batterieforschung und die Digitalisierung entstehen.

Welche Voraussage ist Ihnen nicht so gelungen?

Wolf-Michael Schmid: Nach meiner Erinnerung lag ich in keinem Bereich daneben.

Susanne Pfleger: Beim Kaiserring Goslar habe ich mich wie immer verschätzt. Aber Tony Cragg hat meines Erachtens immer noch Chancen auf diesen renommierten Preis.

Dr. Alexander Thiele: Da ich mich mit Prognosen insgesamt eher zurückgehalten habe, kann ich sagen, dass ich mich bei meinen wenigen Vorhersagen tatsächlich nicht geirrt habe. Ich war aber wie gesagt insgesamt auch eher vorsichtig. Nach dem Brexit wurde ich im letzten Jahr etwa nicht gefragt…

Hildegard Schooß: Mein Wunsch an die Politik ist mir zwar gut gelungen, aber im Laufe des Jahres hat sich gezeigt, dass um die Willkommens-Haltung immer noch heftig gekämpft werden muss. Bei uns, aber auch um uns herum in den Ländern der EU, haben sich Abwehr und Ausgrenzung mit Mauern und geschlossenen Grenzen ziemlich breitgemacht. Hier bleibt noch immer viel zu tun.

Wolf-Rüdiger Umbach,: Beim VfL Wolfsburg lag ich leider völlig daneben. Ich hätte gedacht, dass sich die Mannschaft trotz aller Probleme noch ein weiteres Mal für die Champions League qualifizieren würde. So kann man sich irren. Das ist ein Starensemble par excellence, aber sie haben es nicht auf den Platz bekommen. Das hat mich schon überrascht. Ich dachte, dass die Wolfsburger nur eine kleine Krise durchmachen würden. Aber diese Entwicklung hat sich in dieser Saison fortgesetzt und sogar verschlimmert. Für den Fußball in unserer Region ist das natürlich eine Katastrophe.

Professor Ulrich Menzel: Dass Hillary Clinton auch im zweiten Anlauf keine Präsidentin geworden ist, obwohl sie etwa 2,5 Millionen Stimmen mehr als Donald Trump erhalten hat. Das amerikanische Mehrheitswahlrecht lässt das zu. Nach deutschem Verhältniswahlrecht hätte sie gewonnen.

TU-Präsident Professor Jürgen Hesselbach: Ich hatte gedacht, dass Emmanuelle Charpentier den Nobelpreis bekommt. Ich halte sie noch immer für nobelpreiswürdig, vermute aber, dass das Nobelpreiskomitee wegen des Patentstreits um das CRISPR-Cas-Verfahren kneift. Und völlig daneben war ganz offensichtlich meine Einschätzung, dass 2016 mein letztes Orakel-Jahr sein würde. Ich hatte ja die Absicht, am 30. September 2016 aus dem Amt zu scheiden. Zu meinem Bedauern und dem meiner Frau war das eine Fehlprognose.

Welche Entwicklung hat Sie 2016 überrascht?

Wolf-Michael Schmid: Überrascht hat mich dasVotum in Großbritannien zum Brexit, ebenso der Ausgang der Wahlen in den USA. Nach dem in Europa aufgezeigten Bild war ich überzeugt, dass weder Frauen noch US-Bürger mit Migrationshintergrund Donald Trump würden wählen können. Aber hier waren meine Vorstellungen zu vordergründig, ich kannte die tatsächlichen Befindlichkeiten in England ebenso wenig wie in den USA, wo die Unzufriedenen die Meinungsführerschaft übernehmen konnten und eine Möglichkeit gesucht haben, auf dem Stimmzettel ihre Gemütslage zu artikulieren.

Susanne Pfleger: Der Brexit hat mich schon sehr überrascht – und der Austritt bleibt mit Sicherheit nicht folgenlos für die britische Kulturlandschaft. Der Direktor des Victoria & Albert Museums Martin Roth, einer der schärfsten Kritiker des Brexit, hat sein Amt im Herbst niedergelegt. Das Phänomen der Kleinstaaterei und des Nationalismus ist ein europaweites Problem und betrübt mich außerordentlich.

Dr. Alexander Thiele: Zwei Dinge, die aber – wie ich glaube – auch miteinander verknüpft sind: Brexit und die Wahl Trumps zum Präsidenten. In beiden Fällen habe ich die Wucht der Frustration in vielen Bevölkerungsschichten schlicht unterschätzt. Beide Ereignisse zeigen die Notwendigkeit sich darüber klar zu werden, warum viele demokratische Verfassungsstaaten gegenwärtig nicht in der Lage sind, die gesamte Bevölkerung mitzunehmen. Es zeigen sich hier erhebliche Legitimitätsprobleme, die schnell angegangen werden müssen.

Hildegard Schooß: Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise haben im Jahr 2016 Menschen mit einem rechtspopulistischen Weltbild, das oft eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen Frauen, Homosexuelle, Muslime oder Geflüchtete einschließt, den politischen Diskurs in der Gesellschaft geprägt. Nicht nur durch ihre Sprache, von der man gedacht hatte, dass so etwas in Deutschland nicht mehr öffentlich ausgesprochen werden könnte – sondern auch durch Handlungen, die den verbalen Grenzüberschreitungen folgten.

Wolf-Rüdiger Umbach: Das war für mich der Sieg von Laura Ludwig und Kira Walkenhorst im olympischen Beachvolleyball-Turnier von Rio. Das war die Geschichte der Spiele schlechthin. Dieser Erfolg war nicht zu erwarten. Zweimal im Turnier sind sie auf Brasilianerinnen getroffen, die eigentlich als unschlagbar galten und beide Male haben sie gewonnen. Und gleichzeitig haben sie eine sympathische Lockerheit ausgestrahlt, das sah alles so spielerisch aus. Ich bin selber bis 1 Uhr nachts aufgeblieben, um mir ihre Spiele anzusehen. Es war ein Genuss, diese beiden Mädels spielen zu sehen.

Professor Ulrich Menzel: Erstens: Trump! Zweitens: Dass der seit 9/11 weltweit geführte asymmetrische Krieg, auch eine Form der Globalisierung, jetzt auch im Herzen Deutschlands angekommen ist. Und, dass die sogenannten Pullfaktoren, die es für Flüchtlinge attraktiv macht, nach Deutschland zu kommen, auch innerhalb unseres Landes wirken. Niemand will in dezentrale Flüchtlingsunterkünfte in der Provinz ohne kurzfristige Perspektive. Gerade die vielen jungen Männer unter den Flüchtlingen zieht es in die großen Städte, wo sich andere Möglichkeiten bieten.

TU-Präsident Professor Jürgen Hesselbach: Da gibt es eine ganze Menge. Die Wahl Trumps zum Präsidenten der USA macht mich einigermaßen fassungslos. Aber dazu wird Professor Menzel sicher mehr sagen können. Außerdem schockiert mich, wie in der Türkei mit Wissenschaftlern umgegangen wird. Dass Wissenschaftler aus dem Amt entfernt werden, nicht mehr reisen dürfen – all das hat es in Deutschland schon mal gegeben. Da müsste es eigentlich einen Aufschrei geben. Dass derart massive Repressionen gegen Wissenschaftler möglich sind, hätte ich auch in einem Land wie der Türkei nicht für möglich gehalten.

Mit welchem Ereignis wird 2016 immer verknüpft sein?

Wolf-Michael Schmid: 2016 wird für mich immer mit dem „Brexit“ verknüpft bleiben – als Einstieg in den Abschied von der idealtypischen Vorstellung eines politisch geeinten Europas. Und in der Region ist 2016 für mich natürlich „das Jahr des Säbelzahntigers“.

Susanne Pfleger: Die Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA. Sie bedeutet eine tiefe Zäsur und ist eine Mahnung an alle, denn das Entscheidende ist nicht die Person Trump selbst, sondern seine Anhänger und Wähler. Das Gefühl, nicht mehr überblicken zu können, was sich in der Welt tut, und keinen Einfluss mehr zu haben, treibt viele Menschen in die Arme von Populisten.

Dr. Alexander Thiele: Brexit und Trump, einschließlich des bisweilen geradezu widerwärtigen amerikanischen Wahlkampfs.

Hildegard Schooß: 2016 wird das Jahr der Skandale bleiben: Lügen, unrechtes oder unehrenhaftes Verhalten von VW, Franz Beckenbauer, die Enthüllung von Briefkastenfirmen, die falschen Versprechungen und Lügen im amerikanischen Wahlkampf... Solche Ereignisse haben eine verheerende Wirkung auf die Bürgerinnen und Bürger und lösen entsetzliche Enttäuschungen aus.

Wolf-Rüdiger Umbach: Aus deutscher Sicht mit der Reform der Spitzensportförderung. Daran haben unglaublich viele Experten mitgearbeitet, und ich denke schon, dass das große Konsequenzen für den deutschen Sport haben wird. Wenn man auf den Fußball schaut, ist aber auch der Auftritt von RB Leipzig in der Bundesliga sensationell. Endlich gibt es wieder eine Mannschaft, die den Bayern Paroli bieten kann.

Professor Ulrich Menzel: Zwischen der Kölner Silvesternacht und dem Berliner Weihnachtsmarkt ist es zu einem Paradigmenwechsel gekommen von der weltoffenen Gesellschaft, in der die Freiheit das höchste Gut ist, zu einer, in der die persönliche Sicherheit wieder eingefordert wird. Die Globalisierung ist nicht nur bei den Verlierern, sondern bis tief in die Mitte der Gesellschaft an die Grenze der Akzeptanz gestoßen.

TU-Präsident Professor Jürgen Hesselbach: Vermutlich wird es die Wahl von Trump sein. Ich halte das für eine Zäsur für die Welt, in der ich aufgewachsen bin. Ich glaube, dass die freiheitlich-westliche Demokratie, aber auch die Idee des immer weiter zusammenwachsenden Europas, vor einem Wendepunkt stehen. Dafür ist Trump mit seinen isolationistischen Tendenzen ein Symptom.

Die Experten:

  • Wolf-Michael Schmid, Ehrenpräsident der Industrie- und Handelskammer Braunschweig.
  • Susanne Pfleger, Direktorin der Städtischen Galerie Wolfsburg, spricht über die Themen Kunst und Kultur.
  • Dr. Alexander Thiele von der Universität Göttingen ist Experte für Fragen zu Europa, der EU und dem Euro.
  • Hildegard Schooß, Gründerin des bundesweit ersten Mütterzentrums in Salzgitter.
  • Wolf-Rüdiger Umbach, Präsident des Landessportbundes Niedersachsen, ist unser Experte für den Sport.
  • Professor Ulrich Menzel, langjähriger Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften an der TU Braunschweig.
  • TU-Präsident Professor Jürgen Hesselbach ist Experte für die Themen Wissenschaft und Bildung.