Gastkommentar. Obwohl Religion und Religionskultur untrennbar miteinander verbunden sind, ist zwischen beidem zu unterscheiden und beides auf „Kultur“ zu beziehen.

Zunächst sei das Phänomen der Kultur einmal – und vielleicht etwas ungewohnt – soziologisch analysiert: Was wir als Kultur begreifen, ist ein komplexer Zusammenhang von Handlungserwartungen an andere, von der Erwartung, dass auch die anderen dieses Erwarten an sie erwarten und, dass stets von allen Beteiligten damit gerechnet wird und gerechnet werden muss, dass es überhaupt solche „Erwartungserwartungen“ gibt. Denn nur so kann es überhaupt in einem meist durch Sprache und Territorien gebildeten Sozialsystem die Interaktionen geben, die das erfolgreiche (nicht-chaotische) Zusammenleben ermöglichen.

Die Orientierungen dazu, in welchem Rahmen man etwas erwarten darf, werden alltagssprachlich unter dem Begriff der „gesellschaftlichen“, „kulturellen“, „religiösen“ Werte zusammengefasst. Jeder, der einmal sehr plötzlich in eine ihm völlig fremde Kultur und Sprache geraten ist, weiß, wie man sich von fast allem ausgeschlossen fühlt, weil man nicht weiß, was man erwarten darf und welche Erwartungen man erfüllen muss/soll. Im Begriff der Religionskultur nun wird etwas zusammengedacht, was man zugleich unterscheiden muss. Da existiert ein System von Aussagen, zum Beispiel in der Ausdrucksgestalt von „Göttlichen Offenbarungen“ in „Heiligen Schriften“ (Judentum, Christentum, Islam), „Weisheiten“ (Buddhismus, Konfuzianismus). Die Aussagen und ihre Verwendung werden von Theologen auf Traditionskontinuität, Widerspruchsfreiheit und Kommunizierbarkeit hin geprüft, kontrolliert, gelehrt und im Laufe der Jahrhunderte mehr oder weniger vorsichtig sprachlich modifiziert. Diese Modifikationstätigkeit ist auch kulturell beeinflusst – in komplexen Prozessen.

Das zeigt: Weil Religion immer nur im Rahmen einer Kultur praktiziert werden kann, diese Kultur aber von auch anderen Orientierungen als nur von denen aus dem religiösen und theologisch kontrollierten Aussagen-System geprägt ist, kann es eine sozial „rein“ lebbare Religion nicht geben. Das ist nicht nur im Judentum und im Christentum beobachtbar. Auch für den Islam gilt das. So ist in der allgemeinen Kultur der Lebensablaufprägung in Saudi-Arabien von einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden wahabitischen Islam-Auslegungs- und Anwendungs-Kultur zu sprechen. Bei der ist nicht entscheidbar, ob „x“ (der Islam) das „y“ (die Lebensablaufprägung) beeinflusst oder umgekehrt. Das Ganze wird zum konkreten Problem dann, wenn zwei Sachverhalte zusammenstoßen: Wenn weltweite Migrationen ethnischer Gruppierungen auf verfassungsrechtliche Regelungen stoßen und wenn zugleich die Grundrechtszusicherung der „freien Ausübung der Religion“ die vorstehend beschriebene Unterscheidung zwischen Religionskultur und Religion nicht berücksichtigt. Es fragt sich also: Deckt das Grundgesetz den eventuell bestehenden Anspruch eines Migranten, seine Religion mitsamt seiner davon zu unterscheidenden (!) Religionskultur in seinen neuen Lebensraum vollständig importieren zu dürfen und damit möglicherweise eine unübersehbare Diskrepanz zum öffentlichen Erscheinungsbild der (Religions-) Kultur des Gastlandes zu produzieren? Zugespitzt: Hat also die Religionskultur zum Beispiel der wahabitisch-arabischen Auslegungs- und Lebensgestaltungsvariante des Islam einen Anspruch auf auch öffentliche Repräsentanz im Raum der allgemein-christlich geprägten (Religions-) Kultur? Dazu müssen die Verfassungsjuristen in die Diskussion gezogen, notfalls politisch nachdrücklich aufgefordert werden, auch wenn man ihre Zurückhaltung wegen der Gefahr ungewollter Kollateralschäden gut verstehen kann.

Über den Autor: Andreas Feige war Professor am Institut für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig