Braunschweig. Der frühere Braunschweiger Propst hat hohe Geldgeschenke angenommen. Ob er das durfte, müssen auch die Medien hinterfragen.

Die Landeskirche hat es abgelehnt, mehr Details im Fall des früheren Propstes und Spendenbeauftragten der Stadt Braunschweig, Armin Kraft, bekanntzugeben. Sie sei in Disziplinar- und Personalangelegenheiten zur Vertraulichkeit verpflichtet.

Unsere Zeitung hat der Landeskirche am Freitag elf Fragen zu Erkenntnisstand, Tiefe und Zeitdauer der Untersuchungen und über neue Erkenntnisse der Redaktion vorgelegt. Danach handelt es sich nach schriftlicher Erklärung der Testamentsvollstreckerin Ellen Hora gegenüber unserer Zeitung bei der Hälfte von 10 erbenden Parteien laut Testament der verstorbenen Charlotte W. um Mitglieder der Familie Kraft.

Nach Kirchenrecht wäre dies nur zulässig, „soweit die Pfarrerin oder der Pfarrer zu den gesetzlichen Erben gehört“. Das ist bei Armin Kraft nicht der Fall. Das Testament sei im November 2014 eröffnet worden, so Ellen Hora.

Im Beschluss der Kirchenregierung vor zweieinhalb Wochen, das Disziplinarverfahren gegen Armin Kraft einzustellen, war auf eine Verjährung hingewiesen worden. Am Freitag bekräftigte die Landeskirche: „Sind seit der Vollendung einer Amtspflichtverletzung mehr als vier Jahre vergangen, darf ein Verweis, eine Geldbuße oder eine Kürzung der Bezüge nicht mehr ausgesprochen werden.“

Auch die Frage der Redaktion, ob die Landeskirche neue Erkenntnisse habe, die sie zu neuen Untersuchungen veranlassen könnten, wurde mit der allgemeinen Erklärung beantwortet.

Mehrere Leser fragen auf unseren Internetseiten:

Wann geht die Berichterstattung weiter über Armin Kraft? Was unterdrückt die Zeitung?

Die Antwort recherchierte Henning Noske

Der Mann am Telefon klingt krank, gebrochen, verbittert. „Ich habe Herzprobleme. Es ist auf die Lunge übergegangen“, sagt er. Eine geplante Herz-Operation musste offenbar verschoben werden. „Ich kann keine Fragen beantworten, ich bin in ärztlicher Behandlung. Ich habe im Moment keine Kraft, mich zu den Vorwürfen zu äußern“, sagt Armin Kraft. Und dann kommt ein erschütternder Satz: „Ich weiß nicht, ob ich das überlebe.“

Unterlagen und Aufzeichnungen der verstorbenen Charlotte W. werden gesichtet. Archiv-Unterlagen und Aufzeichnungen der verstorbenen Charlotte W. werden gesichtet.
Unterlagen und Aufzeichnungen der verstorbenen Charlotte W. werden gesichtet. Archiv-Unterlagen und Aufzeichnungen der verstorbenen Charlotte W. werden gesichtet. © Henning NoskeHenning Noske

Warum berichten wir so etwas? Es geht um Vorwürfe, der frühere Braunschweiger Domprediger und Propst und Spendenbeauftragte der Stadt, Armin Kraft, habe hohe Geldgeschenke einer mittlerweile im Alter von 90 Jahren verstorbenen Frau für sich und seine Familie angenommen.

Gegenüber unserer Zeitung hat Kraft Zuwendungen in Höhe von 100 000 Euro bereits eingeräumt. Dabei war eine Ferienhausbeteiligung im Harz in Höhe von 60.000 Mark. Es habe sich um eine Art Familienmitgliedschaft der tiefgläubigen Charlotte W. gehandelt, die den Kirchenmann beim Gottesdienst im Braunschweiger Dom kennenlernte, aktiv am Gemeindeleben und den Bibelstunden teilnahm. Kraft: „Das alles war privat-familiär.“

Doch immer mehr Details dieser Geschichte lassen aufhorchen – und haben zu einer heftigen und sehr emotional geführten Diskussion in der Öffentlichkeit geführt.

So konnte unsere Redaktion Unterlagen sichten, nach denen Armin Kraft 14 Jahre lang über eine Kontovollmacht für Charlotte W. verfügte. Eine Vermögensaufstellung der Nord-LB weist „Metallwerte“ in Höhe von 800.000 Mark aus – offenbar Goldbarren und Münzen. Nach Auskunft der Testamentsvollstreckerin Ellen Hora sind diese nicht mehr vorhanden.

Ellen Hora, Großnichte von Charlotte W., und ihr Mann Guido sind es auch, die den Fall in die Öffentlichkeit getragen haben. 2015 informierten sie den Norddeutschen Rundfunk (NDR). Jetzt berichtete der Sender in seinen TV-Magazinen „Markt“ und „Hallo Niedersachsen“ umfänglich. Zuletzt fragten die Fernsehmacher: „Wo ist das Gold?“

Unsere Redaktion formulierte die Frage so: „Wie äußert sich Herr Kraft zu dem Umstand, dass Frau W. Edelmetall im Wert 800.000 Mark im Bank-Tresor hatte und diesen leer vorfand? Hat Herr Kraft Goldbarren von Frau W. erhalten?“ – und richtete diese Frage schriftlich am 16. November an den Braunschweiger Rechtsanwalt Frank Nichterlein, der die Interessen von Armin Kraft vertritt. Am 21. November richtete die Redaktion an Armin Kraft persönlich und an die Kanzlei eine weitere Anfrage: Diese und weitere Fragen der Redaktion könnten auch mit einer Stellungnahme „in einer Ihnen zumutbar erscheinenden Form“ beantwortet werden: schriftlich, mündlich, in jedem Falle autorisiert, das heißt, in einem von Armin Kraft freigegebenen Wortlaut.

Darauf erhalten wird keine Antwort. Bis gestern. Am gestrigen Freitag, 2. Dezember, dann der Griff zum Telefon, Anruf bei Armin Kraft. Er ist dran. „Ich kann keine Fragen beantworten. Es war eine private und familiäre Angelegenheit.“ Da ist viel Bitterkeit in der Stimme, wenn er sagt: „Die ganze Stadt ist auf meiner Seite. Ich werde überschüttet mit Blumen und Mails.“

Die Redaktion hat eine etwas andere Wahrnehmung. Ja, etliche Braunschweiger machen sich in Mails, Leserbriefen und Posts auf unseren Internet- und Facebook-Seiten für Armin Kraft stark. Sie sind entsetzt und erschüttert über die Berichterstattung, sie stehen zu dem Mann, der wie vielleicht nur eine oder zwei weitere Persönlichkeiten das Gesicht der Kirche in dieser Stadt ist.

Doch ebenso viele Menschen sind auf den gleichen Kanälen ganz anderer Meinung. Sie kritisieren nicht nur den früheren Propst extrem hart, sondern gehen auch mit der Landeskirche und ihrem Kurs in dieser Sache unerbittlich ins Gericht.

Und auf beiden Seiten gibt es Übertreibungen, wie sie die Redaktion selten erlebt hat. Die Zeitung habe sich einer „psychologischen Mordtat“ an Armin Kraft schuldig gemacht, heißt es in einer Zuschrift. Auf der anderen Seite wird hemmungslos auf die Kirche eingeprügelt: So verdorben wie der eine, so seien sie alle.

Typisch sind Fragen dieser Art: Warum lässt die Zeitung Armin Kraft nicht in Ruhe? Warum schont die Zeitung Armin Kraft? Warum werden Nachrichten unterdrückt? Warum lügt die Zeitung? Wer hindert die Zeitung an der Berichterstattung? Ist die Zeitung verstrickt?

Es ist die Gelegenheit, fast wie im Lehrbuch klarzumachen, was der Auftrag einer Redaktion ist. Sie hat im Rahmen der ihr aufgegebenen Sorgfaltspflicht stets die jeweils andere Seite zu hören. Sie ist auch gehalten, Informationen sorgfältig zu prüfen. Informationen vom Hörensagen können daher unter Umständen ein Stimmungsbild vermitteln, sie reichen jedoch bei schweren Vorwürfen für eine Veröffentlichung nicht aus.

Warum gehört dieser Fall überhaupt in die Zeitung? Maßgeblich ist hier das öffentliche Interesse, das umgekehrt zu einer Informations-Pflicht der Redaktion wird. Das öffentliche Interesse wird indes nicht vom persönlichen Interesse der Journalisten definiert. Es muss nachvollziehbar sein. Im Fall Kraft ist es die Frage, ob der frühere Propst gegen Kirchenrecht verstoßen hat. Das ist nicht die einzige Frage von öffentlichem Interesse. Dazu gehört auch die öffentliche Anfrage nach der ethisch-moralischen Dimension, wie sie jetzt 56 Pfarrer und Kirchenvorstände an die Landeskirche richteten.

Hinzu kommt, dass es sich beim früheren Propst und Spendenbeauftragten der Stadt um eine Person im Blickpunkt des öffentlichen Interesses handelt. Kraft selbst hat stets bewusst die Öffentlichkeit gesucht, gerade auch in seinem Einsatz für die Einwerbung von Spenden zur Bekämpfung der Kinderarmut.

Das Recht und die Pflicht zur Berichterstattung hat jedoch seine Grenze dort, wo die besonders geschützte rein persönliche Sphäre beginnt. Dies gilt nicht nur für Armin Kraft selbst, sondern vor allem für seine Familie. Wenn sich die Redaktion hier besonders zurückhält, dann verschweigt sie nichts vorsätzlich. Und sie lügt auch nicht, wenn sie so lange mit einer Veröffentlichung wartet, bis ihr gesicherte, bestätigte Informationen vorliegen.

Wie schwer es ist, diese zu bekommen, zeigt die Informationspolitik der Evangelisch-lutherischen Landeskirche. Gestern richtete unsere Zeitung elf konkrete Fragen an sie.

Dabei geht es im Kern darum, wie gründlich der Fall Kraft geprüft wurde, welche Zeiträume und Fristen maßgeblich sind, auch für eine Verjährung, ob alle Informationsmöglichkeiten genutzt wurden, ob Armin Kraft selbst oder ein Vertreter gehört wurde. Im Zentrum die Frage: „Hat die Landeskirche neue Erkenntnisse zum Fall Armin Kraft, die sie veranlasst sehen könnten, neuerliche Untersuchungen anzustellen?“

Die Kirche antwortet, doch sie beantwortet keine einzige Frage. Sie sieht sich außerstande und verweist auf ihre bisherigen Mitteilungen ähnlichen Inhalts. Und hängt noch einmal die Rede von Landesbischof Christoph Meyns bei der Landessynode in Goslar in der vergangenen Woche an, wir berichteten.

Hier beschreibt Meyns ein landeskirchliches Dilemma zwischen öffentlichem Interesse an Transparenz, ethisch-moralischer Herausforderung, Verschwiegenheitspflichten in Personalangelegenheiten und auferlegten Fürsorgepflichten. Es heißt aus mehreren Quellen, der Kirche sei anderenfalls Klage angedroht worden – und sie fürchte diese.

Die Fragen der Öffentlichkeit wird dies nicht zum Verstummen bringen. Mit Armin Kraft haben wir verabredet, dass wir uns um 16 Uhr wieder melden, vielleicht einen Besuchstermin vereinbaren. Es gilt: Wir warten auf eine Erklärung und räumen jeden Platz dafür ein. Doch um 16 Uhr wird der Hörer nicht mehr abgenommen.

Mittlerweile hat der Fall Kraft die überregionalen Medien erreicht. Die „taz“ berichtete umfänglich und mit großer Phantasie. Magazine steigen in diesen Braunschweiger Fall ein. Die Chance, ihn mit Transparenz zu beenden, wurde bislang versäumt.

Diese Fragen stellte am Freitag die Redaktion an die Landeskirche:

  1. Wann genau ist die disziplinarrechtliche Prüfung des Falles Kraft durch die Landeskirche erfolgt? Wer hat sie vorgenommen?
  2. Über welchen Zeitraum erstrecken sich die Vorgänge bezüglich Herrn Kraft, die von der Landeskirche untersucht wurden? Wann setzte also demnach eine „Verjährung“ ein?
  3. Woher bezog die Landeskirche die exakten Informationen, die der disziplinarrechtlichen Prüfung zugrunde lagen?
  4. Ist Herr Kraft im Zuge der disziplinarrechtlichen Prüfung gehört worden bzw. ein von ihm bestimmter Vertreter?
  5. Hat die Landeskirche die umfänglichen Unterlagen der Klage führenden Eheleute Hora eingesehen? Sind diese für den Beschluss der Kirchenregierung von Belang gewesen?
  6. Entspricht es den Tatsachen, dass die Landeskirche bei den Eheleuten Hora eine Übergabe der Originaldokumente anfragte?
  7. Entspricht es den Tatsachen, dass ein Besuch von Vertretern der Landeskirche bei den Eheleuten Hora schriftlich abgelehnt wurde?
  8. Entspricht es den Tatsachen, dass die Landeskirche die Einsicht der Dokumente bei einem von den Eheleuten Hora beauftragten Anwalt abgelehnt hat?
  9. Sind gleichwohl der Landeskirche die Vorwürfe über einen Anwalt der Familie Hora bekanntgemacht worden, zum Beispiel das Verschwinden von Edelmetallen? Ist es richtig, dass daraufhin ein Hinweis der Landeskirche auf die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft erfolgte? Wenn dies richtig wäre, welche Konsequenzen sind daraus für die disziplinarrechtliche Untersuchung des Falles durch die Landeskirche gezogen worden?
  10. Ist der Landeskirche bekannt, dass die Erbengemeinschaft der verstorbenen Charlotte W. zu 50 Prozent aus Mitgliedern der Familie Kraft besteht? Falls ja, wie bewertet die Landeskirche dies im Lichte ihrer disziplinarrechtlichen Untersuchungen und in Bezug auf eine möglicherweise eingetretene „Verjährung“?
  11. Hat die Landeskirche neue Erkenntnisse zum Fall Armin Kraft, die sie veranlasst sehen könnten, neuerliche Untersuchungen anzustellen?

Und so beantwortete die Landeskirche am Freitag diese Fragen der Redaktion:

„Zu Ihren Fragen nimmt die Landeskirche wie folgt Stellung:

„Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig hat gegen Propst i.R. Armin Kraft ein Disziplinarverfahren wegen des Verdachts der unberechtigten Annahme von Geschenken und Vorteilen geführt. Es erfolgte nach den Regelungen, die im Disziplinargesetz der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorgesehen sind. Die Kirchenregierung hat am 14. November 2016 entschieden, das Verfahren einzustellen (siehe Pressemitteilung vom 14.11.2016).

Disziplinaraufsichtsführende Stelle für Personen in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis (also Pfarrerinnen und Pfarrer) ist die zuständige oberste Dienstbehörde, also das Landeskirchenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche in Braunschweig. Disziplinarrechtliche Ermittlungen und Bewertungen beziehen sich stets auf alle bekannt gewordenen Vorwürfe, unabhängig von der Frage, wie lange sie zurückliegen.

Die Gründe für eine Einstellung finden sich in Paragraph 38 des Disziplinargesetzes der EKD. Ein Verfahren wird eingestellt, wenn Vorwürfe nicht erwiesen sind oder eine Disziplinarmaßnahme nicht ausgesprochen werden kann. Gründe dafür können neben dem Ausscheiden aus dem Dienst, dem Verlust von Ordinationsrechten oder dem Tod des Beschuldigten in der sogenannte Verjährung liegen. In § 22 des Disziplinargesetzes heißt es dazu: „Sind seit der Vollendung einer Amtspflichtverletzung mehr als vier Jahre vergangen, darf ein Verweis, eine Geldbuße oder eine Kürzung der Bezüge nicht mehr ausgesprochen werden.“

Über diese allgemeinen Aussagen hinaus kann die Landeskirche zu Einzelheiten, die das Disziplinarverfahren gegen Propst i.R.

Kraft betreffen, nicht Stellung nehmen. Disziplinarangelegenheiten sind sowohl nach staatlichem wie nach kirchlichem Recht Personalangelegenheiten und unterliegen der Vertraulichkeit. Wir bitten, den damit verbundenen Schutz der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen zu respektieren und verweisen in diesem Zusammenhang auf das beiliegende Statement vor der Landessynode vom 24.11.2016.“

Und hier das Statement des Landesbischofs vor der Landessynode vom 24.11.2016 noch einmal in voller Länge:

„Ergänzende Informationen zur Arbeit von Kirchenregierung und Kollegium durch Landesbischof Dr. Christoph Meyns am 24.11.2016

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder,

Ich möchte in Ergänzung der Berichte über einen Sachverhalt informieren, der aufgrund seiner Aktualität nicht mehr in das einfließen konnte, was Ihnen über die Arbeit von Kirchenregierung und Kollegium schriftlich zugegangen ist. Es geht um die öffentliche Berichterstattung zu den Vorwürfen gegen den ehemaligen Braunschweiger Propst Armin Kraft.

Unsere Kirche hat den Auftrag, das Evangelium von der Liebe Gottes in Jesus Christus zu bezeugen. Sie lebt davon, dass alle, die an diesem Auftrag mitwirken, sei es als hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sei es neben- oder ehrenamtlich, diesen Auftrag integer und glaubwürdig wahrnehmen. Menschen messen den Wahrheitsgehalt dessen, was wir predigen, mit Recht daran, wie wir leben. Wie es im 1. Johannesbrief heißt: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ (1. Joh 4,20f) Ich bedaure es außerordentlich und es trifft mich persönlich sehr, wenn Äußerungen oder Verhalten kirchlicher Mitarbeitender Anlass bieten, daran zu zweifeln, dass wir diesem Auftrag nach Kräften zu entsprechen suchen.

Kirchenleitende Instanzen auf Ebene von Propsteien und Landeskirchen haben im Rahmen ihrer Aufsicht die Aufgabe, entsprechende Vorwürfe zu überprüfen, aufzuklären und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Dabei sind sie an staatliches und kirchliches Recht gebunden. Besteht der Verdacht, dass Pfarrerinnen und Pfarrern gegen ihre Amtspflichten verstoßen haben, wird ein Disziplinarverfahren auf Grundlage des Disziplinarrechts der EKD eingeleitet. Ein solches Verfahren folgt rechtsstaatlichen Prinzipien. Beschuldigte dürfen sich durch einen Rechtsbeistand vertreten lassen. Dabei müssen sowohl belastende als auch entlastende Umstände ermittelt werden. Die rechtliche Würdigung hat auf Grundlage der Unschuldsvermutung zu erfolgen: Nicht Behauptungen oder Verdächtigungen, sondern nur zweifelsfrei, im Rahmen eines ausführlichen Ermittlungsverfahrens erhobene Tatsachen bilden die Grundlage für eine disziplinarische Bewertung und Ahndung des Verhaltens von Pfarrerinnen oder Pfarrern. Die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen müssen dabei gewahrt werden. Dem wird durch die Vertraulichkeit des Verfahrens Rechnung getragen; weder Verlauf noch Ergebnis eines Disziplinarverfahrens dürfen im Detail öffentlich gemacht werden. Es gilt die Fürsorgepflicht des Dienstherren, auch in einem solchen Verfahren. Gegen die Entscheidungen nach Beendigung des Verfahrens können Rechtsmittel eingelegt werden.

Werden Äußerungen oder Verhaltensweisen von Pfarrerinnen und Pfarrern, gegen die ein Disziplinarverfahrens geführt wird, Gegenstand medialer Berichterstattung, müssen Leitungsorgane bei der öffentlichen Kommunikation abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an Transparenz, dem Schutz der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Handelns und der Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten. Eine solche Abwägung führt Leitungsorgane in ein ethisches Dilemma, das sich nicht auflösen lässt.

Berücksichtigen sie einseitig den Schutz der Persönlichkeitsrechte des Beschuldigten und verweigern Stellungnahmen zum konkreten Fall, könnte der Eindruck entstehen, sie wollten Verfahren verschleppen oder Fehlverhalten gar vertuschen. Auf diese Weise würde die Glaubwürdigkeit der Kirche beschädigt, die davon lebt, dass infrage stehende Verhaltensweisen oder Äußerungen kirchlicher Mitarbeitender überprüft und gegebenenfalls geahndet werden.

Folgen Leitungsorgane dagegen einseitig dem Wunsch der Öffentlichkeit nach Transparenz, drohen Rechtsgrundsätze verletzt zu werden, an die sie gebunden sind.

Ich habe in den vergangenen Tagen immer wieder den Wunsch wahrgenommen, die Kirchenleitung möge deutlich erklären, dass das mögliche Fehlverhalten eines Einzelnen zu trennen sei vom grundsätzlichen Verhalten kirchlicher Amtsträgerinnen und Amtsträger. Aber auch hier gibt es eine Ambivalenz: Erklären Leitungsorgane, es handle sich um einen Einzelfall, insgesamt würde die überwiegende Mehrheit der kirchlichen Mitarbeitenden ihrem Auftrag jedoch gerecht - was sicherlich richtig ist - kann ihnen vorgeworfen werden, sie wollten die Sachlage beschwichtigen und müssten das Selbstverständliche nun offenbar als Besonderheit betonen. Sagen sie nichts, kann in der Mitarbeiterschaft der Eindruck entstehen, unter Generalverdacht zu stehen und von der Leitung nicht genügend geschützt zu werden.

Bewertet die Leitung den konkreten Fall über die rechtlichen Aspekte hinaus in den Medien auch moralisch, mag das den Bedürfnissen der Öffentlichkeit nach einem klaren Urteil entsprechend. Damit verletzt sie jedoch die Fürsorgepflicht, die sie auch gegenüber Mitarbeitenden hat, die einem Disziplinarverfahren unterliegen.

Nur in extremen Fällen wird man einem dieser Aspekte den Vorrang geben. In der Regel muss zwischen ihnen abgewogen werden. Damit wird es jedoch zugleich unmöglich, ihnen allen vollständig gerecht zu werden.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich zum konkreten Fall so viel sagen: Wir kennen die im NDR und in der Braunschweiger Zeitung öffentlich gemachten Vorwürfe gegen Propst i. R. Armin Kraft seit gut einem Jahr. Die Kirchenregierung hat nach ihrem Bekanntwerden unverzüglich ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Im Rahmen dieses Verfahrens hat sie die erhobenen Vorwürfe sachgerecht und professionell untersucht, um eine angemessene rechtliche Bewertung vorzunehmen. Liegen disziplinarische Verfehlungen nicht klar auf der Hand, sondern muss erst ermittelt werden, ob Vorwürfe berechtigt sind, brauchen derartige Verfahren Zeit. Zugleich sind Ermittlungsführer dabei in der Lage, Hintergründe zu untersuchen und zu bewerten, die der breiten Öffentlichkeit unzugänglich bleiben und auch bleiben müssen. Im Ergebnis hat die Kirchenregierung das Disziplinarverfahren eingestellt, weil eine Disziplinarmaßnahme aus rechtlichen Gründen nicht mehr ausgesprochen werden kann. Die Stimmung war in den vergangenen Wochen aufgeregt. Ich möchte deshalb an dieser Stelle noch einmal alle, die an der öffentlichen Diskussion mitwirken, um Augenmaß und um Respekt vor der Würde aller Beteiligten, auch des Beschuldigten, bitten.

Äußerungen und Verhalten kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zur Botschaft des Evangelium im Widerspruch stehen, müssen rechtlich überprüft, bewertet und ggf. geahndet werden. Sie können jedoch für uns in der Kirche kein Anlass für Häme gegenüber den Betroffenen oder für moralische Überlegenheitsgesten sein. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, sagt Jesus in der Überlieferung des Matthäusevangeliums (Mt 7,1). Sie sind vielmehr Anlass zur kritischen Selbstprüfung. Das betrifft nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern alle haupt-, neben- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Diese Selbstprüfung bezieht sich nicht nur auf Dienstpflichten, sondern beginnt bereits mit dem alltäglichen Verhalten. Das Vertrauen in die Botschaft des Evangeliums wird etwa auch dort erschüttert, wo in Pfarrerschaft und im Kreise der Mitarbeitenden geringschätzig übereinander geredet wird, wo man in einer Kirchengemeinde im Konfliktfall nicht die Lösung von Problemen, den Ausgleich und die Beilegung von Streitigkeiten sucht, sondern in Dauerstreit und gegenseitiger Abwertung verharrt. Vertrauensverlust beginnt auch dort, wo Kirchengemeinden den Ängsten und Nöten der ihnen anvertrauten Menschen gleichgültig gegenüber stehen.“