Braunschweig. Am Montag beginnt das Reformationsjahr. Im nächsten Jahr feiern die Christen in Deutschland die von Martin Luther formulierten 95 Thesen.

Unser Leser Dirk Volkmann aus Königslutter fragt:

Hätte es eine Reformation auch ohne Luther gegeben?

Die Antwort recherchierte Andreas Berger

Darüber lässt sich trefflich streiten. Klar ist: Die Welt war reif für Veränderung, politisch, religiös, sozial. Reformatorische Bewegungen hat es ja auch innerhalb der katholischen Kirche schon vorher gegeben. Etwa die des Franz von Assisi, auf den sich der heutige Papst so oft beruft und der in Bezug auf Spiritualität und sozialem Engagement auch Grundzüge reformatorischer Bestrebungen vorwegnimmt.

Die von Luther später ausgegrenzten „Schwärmer“ um Andreas Karlstadt oder Thomas Müntzer mit seinen sozialrevolutionären Ideen, der die Bauernaufstände unterstützte, bezogen Gottes Wort direkt auf die gesellschaftliche Realität, und die war korrupt bis in die höchsten Kirchenämter hinein und unsozial.

Ablass machte Seelennot zu Geld

Während sich der Einsiedler Franz von Assisi aber weiter dem Gehorsam gegenüber seinen geistlichen Oberen verpflichtet fühlte, wagte Luther die Diskussion, denn nichts ging ihm über sein Gewissen. Seine Thesen zur Kirchenreform, ob nun an die Kirchentür geschlagen oder per Rundbrief versandt, trafen den Nerv der Zeit.

Der Ablasshandel machte zu deutlich, dass die Kirche aus der Seelennot der Gläubigen Profit erzielte, um Macht und Prunk auszubauen. Die ohnehin schon Armen wurden ausgebeutet und in Abhängigkeit gehalten, weil angeblich nur durch die Weihehandlungen der Kirche das Himmelreich zu erringen sei.

Schon vor Luther hatten Humanisten daran Kritik geübt. Und mit Luther traten Melanchthon und die Schweizer Calvin und Zwingli gegen den Machtmissbrauch der Kirche auf. Sie betonten die durch Christus geschenkte Gnade, die sich durch gute Werke oder Almosen nicht erkaufen ließ.

Und sie betonten die Unabhängigkeit jedes einzelnen Gläubigen, der allein vor Gott sich rechtfertigen müsse; das eigene Glaubensbekenntnis, aus der deutschen Bibellektüre gewonnen, machte frei, nicht Priestersegen und Heiligenfürbitten.

Das kam dem schon in der Renaissance ausgebildeten Selbstbewusstsein der handeltreibenden Stadtbürger ebenso entgegen wie den eben erst zu geistig-religiöser Autonomie gelangenden Bauern. Auch ohne Luther hätte sie die katholische Kirche wohl nicht mehr lange als Unmündige behandeln können. Die antirömische Stimmung unter den deutschen Fürsten tat ein Übriges.

Aber der Reformatoren waren viele, die Ausformungen waren so vielfältig wie die neue Auslegungsfreiheit. Die charismatische Gestalt Luthers, seine Fähigkeit zu drastisch klaren Worten, seine plastische Sprache in der Bibelübersetzung, seine Bodenständigkeit bei aller Bildung, sein instinktsicherer Umgang mit den neuen Medien gaben aber der Reformation ein Gesicht. Cranach malte und vervielfältigte es.

Gutenbergs Pressen druckten Luthers Streitschriften und die Bibel. Reformation wollte Diskussion, jeder konnte mitreden, man sprach Deutsch. Und Luther selbst dichtete die neuen Erkenntnisse auf eigene oder schon bekannte Melodien, die sie unters Volk trugen. Das wäre wohl des klugen Humanisten Melanchthon Sache nicht gewesen.

Ohne diesen volkstümlichen Anteil, den gerade Luther einbrachte, wäre die Reformation vielleicht ein Gelehrtenstreit geblieben. Die politischen und sozialen Umwälzungen wären trotzdem gekommen, vielleicht weniger an Glaubensfragen gebunden, wer weiß.