Wolfsburg. Der Konzern besänftigt US-Kunden, juristisch ausgestanden ist der Abgas-Skandal damit längst noch nicht. Eine Zwischenbilanz.

Unser Leser Dirk Volkmann aus Königslutter fragt:

Sind die strafrechtlichen Ermittlungen der US-Justiz der nächste Brandherd für VW?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Es ist noch nicht das Ende des Abgas-Skandals, aber ein wichtiger Schritt dorthin: Der für Hunderte Zivilklagen zuständige US-Richter Charles Breyer gab am Dienstag seine Zustimmung zum Vergleich, der VW bis zu 15,2 Milliarden Euro kosten kann. Der Bezirksrichter in Kalifornien sorgte für den Durchbruch im größten US-Vergleichsverfahren. 480 000 Kunden können teilnehmen, es handelt sich um knapp 85 Prozent aller manipulierten Fahrzeuge in den USA.

Der Vergleich sieht unter anderem vor, dass VW das 9,2 Milliarden Euro schwere Paket zu Rückkauf oder Reparatur von betroffenen Diesel-Autos schnürt. Breyer gab auch grünes Licht für die Einigung von VW mit seinen US-Händlern. Sie sieht eine Entschädigung von 1,2 Milliarden Euro vor. Enthalten sind auch 4,6 Milliarden für US-Umweltfonds sowie 160 Millionen für an der Sammelklage beteiligte US-Juristen. Die Gesamtsumme von 15,2 Milliarden Euro ist die höchste Wiedergutmachung, die ein Autobauer in den USA je leisten musste.

Bei VW bedeutet der erste Vergleich, so schmerzhaft er auch sein mag, vor allem: mehr Planungssicherheit. US-Sprecher Pietro Zollino gab sich gegenüber unserer Zeitung erfreut: „Das ist ein Meilenstein. Wir wollen jetzt liefern.“ VW hofft darauf, dass möglichst viele US-Kunden ihr Auto umrüsten lassen, statt es zurück zu geben. Das wäre für den Konzern günstiger. Zollino sagte: „Wir wollen die Dinge nun in Ordnung bringen.“

Allerdings ist VW auf einen Schlag den Großteil seiner Rücklagen für den Abgas-Skandal in Höhe von 17,8 Milliarden Euro los. Dabei schätzen Analysten, dass die Aufarbeitung zwischen 25 und 35 Milliarden Euro kosten wird. Der Konzern hat auf weiteren juristischen Baustellen zu kämpfen. Ein Überblick:

Oberklasse-Diesel in den USA

Ungelöst ist in den USA die Bereinigung des Abgasproblems bei den Fahrzeugen mit 3-Liter-Motor von VW, Audi und Porsche. Zwar handelt es sich dabei „nur“ um 85 000 Fahrzeuge, der Konzern verhandelt aber immer noch mit den Umweltbehörden über einen Vergleich, der weitere Milliarden kosten wird. Von bis zu zwei Milliarden Euro ist die Rede. Erst in dieser Woche reichte VW ein technisches Konzept zur Lösung des Problems ein. Daran arbeiteten die Ingenieure des Konzerns monatelang fieberhaft. Am 3. November wird sich zeigen, ob die von VW vorgeschlagene Lösung trägt. Richter Breyer setzte für diesen Tag eine Anhörung an. Breyer drängt die Parteien zu einer Einigung, will auch die Oberklasse-Diesel mit der Betrugs-Software von den Straßen holen, weil sie die „Umwelt verpesten“.

Klagen der US-Bundesstaaten

Obwohl die US-Bundesstaaten in der Milliarden-Einigung, über die Richter Breyer am Dienstag entschieden hat, mit einbezogen werden, wollen einige einen Sonderweg einschlagen: Die Staaten versuchen zivilrechtlich, einen noch höheren Schadenersatz durchzusetzen, weil sie mit dem ausgehandelten Milliarden-Vergleich nicht zufrieden sind. VW strebt auch hier einen Vergleich an, am 1. November sollen die Verhandlungen beginnen. Unter anderem Vermont, Maryland, Massachusetts, New York, Washington und Pennsylvania wollen den Konzern wegen Verstößen gegen Umweltgesetze zur Rechenschaft ziehen. Bisher handelt es sich um 17 Staaten. Alleine der Bundesstaat Washington hatte wegen der Verletzung von Luftreinheitsgesetzen ein Bußgeld von 176 Millionen Dollar verhängt. Hier drohen VW weitere Forderungen in Milliardenhöhe.

Ermittlungen der US-Justiz

Unser Leser nennt die strafrechtlichen Ermittlungen der US-Justiz einen „Brandherd“. Das trifft es. Nachdem im September der erste in den Skandal involvierte VW-Ingenieur im Zuge einer Strafanzeige ein Geständnis abgelegt und Kooperation mit den US-Behörden versprochen hat, bleibt abzuwarten, wen der langjährige Mitarbeiter noch alles belastet. Das US-Justizministerium prüfe bereits, welches Strafmaß man dem Konzern wegen krimineller Vergehen zumuten könnte, berichtete der Finanzdienst Bloomberg vor wenigen Wochen unter Berufung auf Eingeweihte. VW und das Ministerium wollten sich dazu nicht äußern. Die Strafe soll hoch genug ausfallen, damit kein anderer Autokonzern wieder auf die Idee kommt, Abgaswerte seiner Autos zu manipulieren. VW soll aber auch nicht an den Rand seiner Existenz gedrängt werden. Experten rechnen mit einer einstelligen Milliardenstrafe.

Aktionärs-Klagen in Deutschland

Die VW-Vorzugsaktie stürzte innerhalb von vier Handelstagen nach dem Bekanntwerden des Abgas-Betrugs im September 2015 um 40 Prozent ab. Davon hat sich die Aktie bis heute nicht ganz erholt. Viele Aktionäre wollen sich den Kursverlust vom Konzern erstatten lassen. Ihr Argument: Der VW-Vorstand hätte die Anleger deutlich früher informieren müssen. Am 3. September gab VW offenbar gegenüber US-Behörden zu, betrogen zu haben. Die entsprechende Ad-hoc-Mitteilung kam aber erst am 22. September. VW ist dagegen nach wie vor der Überzeugung, alle Regeln des Kapitalmarkts erfüllt zu haben.

Derzeit liegt das gesamte Schadensvolumen der 1400 eingereichten Anlegerklagen bei acht Milliarden Euro. Die Anlegerklagen gegen VW werden vor dem Oberlandesgericht Braunschweig gebündelt verhandelt. Zuvor muss das Gericht aus den vielen Verfahren einen Musterkläger bestimmen. Das Musterverfahren soll für die anderen Verfahren bindend sein. Es wird wohl Jahre dauern.

Klage eingereicht haben auch Großinvestoren wie der US-Branchenriese Blackrock oder die Sparkassen-Fondstochter Deka. Zudem die Länder Bayern, Hessen und Baden-Württemberg.

Klagen deutscher Kunden

Auch in Deutschland wollen viele Autobesitzer auf zivilrechtlichem Weg Schadenersatz einklagen. Anders als in den USA sind bei uns Sammelklagen aber nicht möglich. So kommt ein Vergleich wie der, der am Dienstag in San Francisco beschlossen wurde, in Deutschland nicht infrage. Hierzulande muss jeder einzelne Kunde für sein Recht kämpfen. In vielen Fällen dürfte es laut Verbraucherschützern aber problematisch werden, einen konkreten Schaden zu beziffern – und ihn auch zu beweisen.

Alleine am Landgericht Braunschweig sind derzeit gut 80 Verfahren anhängig, darüber hinaus an vielen Gerichten der Republik. Die Rechtsprechung ist bislang uneinheitlich. Derzeit liegen VW etwa 50 Urteile vor. In 39 Fällen wurden Klagen von Käufern abgewiesen, in zehn Fällen bekamen sie Recht. Zu einer Gesamtzahl der Klagen von Autobesitzern gegen VW wollte sich der Konzern bisher nicht äußern. Gemessen an den insgesamt 2,5 Millionen betroffenen Dieselautos in Deutschland dürfte die Zahl der Klagen jedoch gering sein. VW hatte zuletzt angekündigt, bis spätestens Herbst 2017 alle manipulierten Diesel-Wagen umzurüsten.

Die Klagen von Autokäufern gegen VW und seine Händler gehen in die höheren Instanzen. VW sieht keinen Anhaltspunkt für einen durch den Abgas-Betrug entstandenen Schaden an den betroffenen Autos und will bei entsprechenden Entscheidungen jeweils in Berufung gehen. Das Oberlandesgericht Celle verhandelt am 7. November im Berufungsverfahren über die Klage eines Passat-Käufers zur Rückabwicklung des Kaufvertrages. Es ist das bisher erste Verfahren, für das in zweiter Instanz ein Verhandlungstermin angesetzt ist. Auch ein unterlegener Händler aus dem Landkreis Wolfenbüttel zählt zu den ersten, die in Berufung gehen. Das Landgericht Braunschweig entschied, dass er den Skoda Fabia des Klägers zurücknehmen muss. Nun muss das Oberlandesgericht Braunschweig entscheiden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die nächste Instanz, der Bundesgerichtshof, ein richtungsweisendes Urteil spricht.

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Klagen gegen den VW-Konzern. Die EU-Kommission forderte mehrfach mehr Kulanz für Kunden.

Ermittlungen in Deutschland

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen Verantwortliche und Ex-Mitarbeiter des VW-Konzerns. Insgesamt laufen Verfahren gegen 30 mutmaßlich Beteiligte – bei 21 davon wegen der Software-Manipulation, etwa wegen Betrugsverdachts. Gegen sechs Personen ermitteln die Staatsanwälte wegen vermeintlich falscher CO2-Angaben, unter anderem wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Hinzu kommen Ermittlungen gegen einen Mitarbeiter, der zum Löschen von Daten aufgerufen haben soll.

Besonders pikant sind zwei der Verfahren: Die Ermittler gehen dem Verdacht nahe, Ex-Konzernchef Martin Winterkorn und der amtierende VW-Markenchef Herbert Diess hätten die Finanzwelt zu spät über den Skandal ins Bild gesetzt. Hier berühren sich die Zivilklagen der Aktionäre mit den strafrechtlichen Ermittlungen der Staatsanwälte. Diese könnten das Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht Braunschweig also maßgeblich beeinflussen. Wann und ob es überhaupt zu Anklagen kommen wird, ist noch offen.

Die juristische Aufarbeitung des Skandals wird VW noch Jahre beschäftigen – und unsere Region in Atem halten.