Braunschweig. Cornelia Rundt spricht über Kinderarmut, Hilfe für Alleinerziehende, das Teilhabegesetz und die neue Rolle der Mutter.

fragt Kristina Löchner aus Salzgitter. Sie ist alleinerziehend und studiert in Wolfenbüttel.

„Warum ist die Hilfe für Geringverdiener so kompliziert?

Wenn ein Angehöriger krank oder pflegebedürftig wird, wenn der Partner auch die Kinder verlässt, dann stehen Familien vor besonderen Problemen. Vier Leserinnen kennen die Notlagen aus ihren eigenen Erfahrungen und sprechen darüber mit der niedersächsischen Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Cornelia Rundt. Rundt sitzt seit 2013 im niedersächsischen Kabinett von Stephan Weil. Vorher war sie lange im Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Niedersachsen.

Kristina Löchner: Alleinerziehende sind für ihre Kinder Mutter und Vater und kümmern sich gleichzeitig um das Geld verdienen. Wieso gibt es nicht mehr Arbeitsplätze, die elternfreundlich sind?

Um Eltern grundsätzlich zu entlasten und dem hektischen Arbeitsmarkt entgegenzuwirken, diskutiert der Bund momentan über die Familienzeit. Damit die Eltern im ersten Lebensjahr ihres Kindes die Arbeitszeit reduzieren können – finanziert vom Bund. Und einen von Land und Bund finanzierten Unterhaltsvorschuss, wenn der andere Elternteil, meist der Vater, nicht zahlt, diskutieren wir als Länder aktuell mit dem Bund.

In Niedersachsen sprechen wir gezielt mit der Agentur für Arbeit: Kommen die Arbeitsplätze auch für Alleinerziehende infrage? Wir versuchen außerdem, die Ausbildung in Teilzeit zu stärken. Gerade haben wir einen neuen Gesetzesentwurf zu einem Teilzeit-Referendariat von Juristinnen und Juristen auf den Weg gebracht, bundesweit einmalig. Das sind zumindest kleine Schritte in die richtige Richtung.

Antje Böhl: Ich bin alleinerziehend und habe zwei Jungen. Mein Ältester macht in Bayern eine Ausbildung. Aber er hat immer wieder gesundheitliche Probleme. Wenn es ihm nicht gut geht, kann ich mir von den Arbeitslosengeld-II-Bezügen die Fahrt nach Bayern aber nicht leisten. Wie kann man mir helfen?

Der Regelsatz für ALG-II-Bezüge berücksichtigt Sondersituationen nicht, wenn etwa ein Familienmitglied krank ist und Reisen nötig sind. Armut ist ein großes Thema. Wir sind ein reiches Land, auf der anderen Seite ist aber jeder sechste Erwachsene und jedes fünfte Kind von Armut bedroht. Die Leistungen sind ausreichend genug, dass keiner hungern muss. Um am Leben in der Gesellschaft wirklich teilzuhaben, reicht es aber nicht.

Kristina Löchner: Die Kinder von Geringverdienern sollen mit Hilfe finanzieller Leistungen am kulturellen Leben teilnehmen können. Aber warum reichen die Gelder dafür nie?

Als das Bildungs- und Teilhabe-Paket beschlossen worden war, hat das Bundesverfassungsgericht die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen gerügt, weil ihr Gesetz verfas- sungswidrig war. Es hat die Würde der Kinder verletzt. Von der Leyen hat dann diesen Zehn-Euro-Gutschein entwickelt, mit dem zum Beispiel Musik- oder Sportunterricht finanziert werden sollte. Doch das hat nicht gereicht. Mit einem Zehn-Euro-Sachgutschein kann die Würde der Kinder nicht wieder hergestellt werden. Sie hätte den Regelsatz für Kinder erhöhen müssen.

Kristina Löchner: Immer, wenn ich für meine Kinder eine Leistung beantrage, muss ich jeden Antrag einzeln stellen, das ist so viel Bürokratie. Warum ist die Hilfe so kompliziert?

Wir haben rund 150 einzelne Familienleistungen, die Eltern jedes Mal neu beantragen müssen. Die Regelungen gehen immer mehr ins Detail. Und die Eltern müssen sich bei jeder Beantragung wieder als Geringverdiener outen. Ich würde die Leistungen gerne in einer Kindergrundsicherung zusammenfassen. Doch diese Entscheidung liegt beim Bund und nicht beim Land. Im Bundesrat versuche ich, meine Kollegen für die Kindergrundsicherung zu begeistern. So langsam wächst das Verständnis dafür. Aber da eine geeignete Gesetzesform zu finden, ist schwierig. Denn fasst man an der einen Ecke an und kratzt die Gelder dafür zusammen, muss man an der anderen wieder kürzen.

Fast die Hälfte der Alleinerziehenden ist in Niedersachsen von Armut bedroht. Mit der Kindergrundsicherung könnte eine Last von ihren Schultern genommen werden. Und das würde auch dem zweiten Problem entgegenwirken: das ungerechtfertigte Misstrauen der Behörden gegenüber Alleinerziehenden, dass die ihr Geld nicht wirklich ihren Kindern zugute kommen lassen. Die Wahrheit ist aber, dass gerade Alleinerziehende alles nur Erdenkliche tun für ihre Kinder, meist sogar durch eigenen Verzicht auf das Nötigste.

Valentina Schmierer: Ich konnte als Krankenschwester arbeiten und so für meine Rente heute vorsorgen. Glauben Sie, dass junge Familien es leichter oder schwerer haben als früher?

Junge Menschen heute haben es gleichzeitig leicht und schwer. Für sie wird es später weniger Rente geben als bei den heutigen Rentnern. Trotzdem erleben wir in Niedersachsen wegen des Fachkräftemangels die besten Voraussetzungen, um einen Job zu bekommen. Das sah in meiner Generation noch ganz anders aus.

Valentina Schmierer: Mein Mann und ich haben drei Kinder. Wir haben uns gegen ein viertes Kind entschieden, weil wir ihm finanziell keine Zukunft bieten konnten. Und zur Adoption wollte ich es auch nicht weggeben.

Ich kann gut verstehen, dass Sie sagen, sie könnten kein Kind bekommen und es dann in fremde Hände geben. Ich möchte aber für Adoptiveltern eine Lanze brechen. Da ich selbst neben zwei leiblichen Kindern auch Adoptivmutter bin, weiß ich, wie viel Herzensblut dabei ist. Bei den Adoptionen haben wir auch deutlich mehr Wünsche, Kinder anzunehmen, als dass Kinder zur Adoption gegeben werden. In den Adoptionsfamilien sind die Kinder meistens sehr gut aufgehoben.

Valentina Schmierer: Gerade als Frau überlegt man sich doppelt, ob man Kinder haben möchte, denn wie sieht es dann mit der Arbeit aus? Wer erst die Kinder großzieht, ist später zu alt für den Einstieg.

Als ich in den 70er Jahren während meines Studiums zwei Kinder bekommen habe, war die Rollenverteilung anders als heute. Als Frau wurde von mir erwartet, dass ich zu Hause blieb. Praktisch war das auch gar nicht anders möglich. Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz gab es nicht. Schließlich war ich Ende Dreißig, als ich in das Berufsleben einsteigen wollte. Nach vielen Wechseln bin ich dann aber irgendwann im Job angekommen. Das hat sich heute deutlich verändert, da sind beide Elternteile gleichermaßen verantwortlich für die Betreuung der Kinder. Trotzdem funktioniert im Alltag die Gleichberechtigung nicht immer einwandfrei.

Einmal habe ich mich mit jungen Feministinnen unterhalten. Die waren ungefähr Mitte Zwanzig und frauenpolitisch ganz engagiert. Aber als sie Kinder bekamen, ging der Mann dann doch arbeiten und die Frauen versorgten die Kinder. Im Kopf haben sich die Rollenvorstellungen verändert, ebenfalls bei jungen Männern. Aber in der Realität bleiben wir doch bei den alten Bildern.

Marlis Wiedemann: Woanders müssen wir die Bilder aber auch noch verändern. Als Angehörige eines psychisch Kranken war ich entsetzt, als das Bundesteilhabegesetz Ende September verabschiedet wurde. Es verändert sich viel zu wenig, um Menschen mit Behinderung wirklich in die Mitte unserer Gesellschaft zu bringen. Können Sie Nachbesserungen gerade bei der Pflegeversicherung vorantreiben?

Das jetzige Bundesteilhabegesetz tut zum Beispiel für einen akademisch ausgebildeten Rollstuhlfahrer mit Einkommen und Vermögen viel Gutes, mit Recht, denn es gab vorher große Ungerechtigkeiten für diesen Personenkreis. Für den Rest der Betroffenen passiert aber viel zu wenig. Mit diesem Hinweis habe ich mich in der Diskussion im Bundesrat auch geäußert.

Bei der Pflegeversicherung wird es besonders schwierig. Wenn ein Mensch mit Behinderung eine Pflegestufe hat, bekommt er teilweise keine Leistungen mehr, um ihn wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das steht so nicht im Gesetz, doch gibt es ein Misstrauen, dass die Kommunen die Eingliederungshilfe dann überhaupt nicht mehr zahlen, wenn die Pflegeversicherung einen kleinen Anteil übernimmt.

Das liegt an einem grundsätzlichen Fehler: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU ist auf Bundesebene vereinbart worden, dass die Kommunen um 5 Milliarden Euro von der Eingliederungshilfe entlastet werden sollen. Das Geld geht jetzt zwar an die Kommunen, ist aber nicht mehr an die Eingliederung gebunden. Und genau an dieser Stelle krankt das Gesetz, weil es nicht mehr mit Geld hinterlegt ist. In Teilen kann das Gesetz aber noch bis 2020 nachgeschärft werden. Gerade haben wir im Bundesrat ein neues Entgelt-System in den Psychiatrien verhindert. Damit wäre es wie im Krankenhaus zugegangen: Alles schneller und mehr Patienten in weniger Zeit.