Wolfsburg. Der Terror-Experte Peter Neumann spricht über den Anschlag in Frankreich, IS-Terroristen unter den Flüchtlingen und Wolfsburger IS-Mitglieder.

Eigentlich ist es traurig. Aber Terrorismusexperten gehören notwendigerweise zu den gefragtesten Interviewpartnern weltweit. Der geborene Würzburger Peter Neumann, der seit 2008 am Londoner King’s College das Problem der islamistischen Radikalisierung erforscht, ist einer der renommiertesten. Hendrik Rasehorn sprach mit Neumann über die Herausforderung Terrorismus und sein Buch „Der Terror ist unter uns“, das am 14. Oktober im Ullstein-Verlag erscheint.

Herr Neumann, welche Lehre ist aus dem verhinderten Anschlag in Sachsen zu ziehen? Wie groß ist die Gefahr, dass sich IS-Terroristen als Flüchtlinge getarnt ins Land schmuggeln?

Unter den Flüchtlingen gibt es in einigen – sehr wenigen – Fällen Radikalisierung. Auch ist mittlerweile klar, dass der IS die Flüchtlingsströme, besonders im Jahr 2015, genutzt hat, um Anhänger nach Europa zu schleusen. Das ist eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, die den Hintergrund von vielen, die zu uns gekommen sind, nicht richtig einschätzen können.

Deswegen ist es besonders wichtig, dass Helfer und Angestellte von Flüchtlingsunterkünften für dieses Thema sensibilisiert werden, Training stattfindet, und dass man die Selbstkontrolle von Flüchtlingen fördert. Denn die allermeisten Flüchtlinge haben kein Interesse daran, dass ihr Ansehen und ihre Chancen auf Integration durch einige, wenige Terroristen gefährdet werden. Dass dieses Bewusstsein existiert, beweist ja letztlich der Fall von Chemnitz, wo Flüchtlinge selbst dafür gesorgt hatten, dass ein mutmaßlicher Terrorist dingfest gemacht wurde.

Die Gruppe der Wolfsburger Dschihadisten ist eine der größten aus Deutschland, die nach Syrien ging. Der Großteil reiste 2014 aus. Laut LKA Niedersachsen sind 21 Ausreisen gesichert bekannt. Der letzte Fall datiert allerdings aus April 2015 – seitdem ist kein neuer bekanntgeworden. Hat der IS demnach seine Anziehungskraft verloren?

All die Leute, die nach Syrien in den Bürgerkrieg ausreisen wollten, sind längst gegangen. Der Zuzug aus allen europäischen Ländern ist aktuell stark eingebrochen, im Vergleich zu 2014 mindestens um 90 Prozent. Es gibt seit Anfang des Jahres mittlerweile Monate, in denen aus Deutschland nicht ein einziger mehr nach Syrien geht. Ein Grund ist natürlich, dass es schwieriger geworden ist. Die Nachrichtendienste und die Polizei in Europa, aber auch in der Türkei sind viel aktiver geworden.

Der Hauptgrund aus meiner Sicht ist allerdings: Es ist nicht mehr attraktiv, zum IS zu gehen. 2014 wollten die europäischen Dschihadisten Teil eines neuen, aufregenden und erfolgreichen Projekts sein. Der IS wirkte damals stark und dank der zahlreichen Eroberungen unaufhaltsam. Nun wird immer offensichtlicher, dass der Islamische Staat nicht hält, was er versprochen hat. Die Leute glauben nicht mehr an diese Utopie. Das lässt sich auch an den Propaganda-Videos des IS ablesen: 2014 gab sich der IS siegesgewiss. Heutzutage versucht er in den Filmen zu erklären, warum manche Projekte immer noch nicht so fortgeschritten sind.

Wie ist es aktuell um die Moral der ausländischen Kämpfer bestellt?

Von der großen Euphorie, die 2014 herrschte, ist nichts mehr übrig. Da macht sich vielmehr eine Torschlusspanik breit. Wir wissen von europäischen Kämpfern, die versuchen, den IS zu verlassen und sogar die Unterstützer in ihrer Heimat warnen, bloß nicht nach Syrien zu kommen. Sie haben realisiert, dass der Islamische Staat nicht mehr funktioniert, und niemand möchte der letzte Soldat sein, wenn die Kurden, die Iraker und die US-Amerikaner anrücken. Bei unserem Institut melden sich sogar IS-Kämpfer, mit denen wir vorher noch nie in Kontakt gestanden haben, die uns nun fragen, wie sie rauskommen können.

Helfen Sie diesen Leuten?

Ich leite solche Mails an die jeweiligen Regierungen in deren Heimatländern weiter. Möglicherweise werden von dort Kontakte zu Verbindungsleuten vor Ort aufgebaut. Ob und wenn ja wie diesen IS-Kämpfern geholfen wird, weiß ich nicht. Ich bin schließlich auch kein Geheimagent. Ich bin Forscher. Und es gibt Grenzen, bei dem was wir tun können und wollen.

Wenn die Soldaten bereits fahnenflüchtig werden, ist zu erwarten, dass der IS bald besiegt wird?

Der IS ist militärisch auf dem Rückzug und igelt sich ein. Seit mehr als einem Jahr hat er keine bedeutende Schlacht mehr gewonnen, keine neuen Territorien an sich gerissen, sondern im Gegenteil Gebiete verloren. Dadurch verbucht ihre Beuteökonomie auch immer weniger Einnahmen, die Gehälter für die Kämpfer mussten gekürzt werden, Straßen werden nicht mehr repariert, die Energieversorgung wird immer instabiler. Das Projekt eines islamischen Staates ist nur zwei Jahre nach seiner Gründung deutlich am ächzen, wir erleben sozusagen den Anfang vom Ende der großen Illusion. Aber das Problem IS hört damit nicht auf, weiter relevant zu sein, denn es gibt weder für Syrien und auch für den Irak eine überzeugende politische Lösung.

Halten Sie es denn für wahrscheinlich, dass die irakische Armee mit Unterstützung der Amerikaner noch vor den Präsidentschaftswahlen in den USA die Stadt Mossul (Anmerkung: seit Juni 2014 befindet sich die zweitgrößte Stadt des Irak in der Hand des IS) angreifen wird?

Es gibt vonseiten Barack Obamas ein starkes Interesse, noch vor dem Ende seiner Amtszeit dort etwas zu unternehmen. Die Chancen, dass da etwas passiert, sind auch besser als irgendwann in den vergangenen zwei Jahren. Die US-Regierung macht in jedem Fall ganz viel Druck, dieses Ziel voranzutreiben. Allerdings bin ich skeptisch, wenn es heißt, Mossul oder auch die IS-Hauptstadt Rakka in Syrien werden bald fallen. Das wird wohl noch länger dauern.

Ist durch die Intervention Russlands die Lage noch viel unübersichtlicher geworden?

Das ist letztendlich die Crux. Wenn man den IS militärisch besiegt, hat man aber bislang keine Antwort auf die Frage, wie es am Tag darauf weitergehen soll: Wer regiert die befreiten Gebiete in Rakka oder Mossul? Zu wessen Staatsteil gehören die dann? Wer trägt dafür die Verantwortung? Auch mit der Zerstörung des IS wäre der syrische Bürgerkrieg nicht gelöst, die Perspektive ist düster. Die vielleicht beste Lösung wäre wohl noch, wenn es dann verschiedene Landesteile gibt, die mehr oder weniger autonom regiert werden von einem schwachen Zentralstaat, der alles zusammenhält – so wie in Bosnien. Der Konflikt in Syrien wird in jedem Fall nicht schnell gelöst werden.

Wenn der IS zerstört wird, was bedeutet dies für die Türkei?

Der IS hat aktuell schätzungsweise 10 000 Kämpfer, die noch am Leben sind, darunter circa 2000 aus Westeuropa. In vielen europäischen Hauptstädten wird befürchtet, dass die Kämpfer in die Heimatländer zurückkehren. Einige werden das versuchen. Die allermeisten IS-Kämpfer werden sich aber für einige Jahre in den Grenzgebieten der Türkei zur Syrien niederlassen. Ähnliches haben wir schon Ende der 1990er Jahre nach der Niederlage von Al-Kaida in Afghanistan gesehen, wo die Kämpfer ins benachbarte Pakistan gegangen sind und dort zur Destabilisierung des Landes beigetragen haben. Das befürchte ich auch für die Türkei, wo die Situation ohnehin instabil ist. Ich erwarte außerdem nach dem Fall des IS einen erneuten großen Flüchtlingsstrom mit immensen Konsequenzen zunächst für die Türkei, aber längerfristig auch für uns in Europa.

Aus Deutschland sind rund 150Frauen nach Syrien gegangen. Werden die zu den Waffen greifen, wenn es hart auf hart kommt?

Der IS schließt es prinzipiell aus, Frauen an die Front zu schicken. Nur in bestimmten Notsituationen wäre es erlaubt. Das könnte zutreffen, wenn es zu den entscheidenden Schlachten auf dem IS-Gebiet kommt. Wahrscheinlich werden wir dann Frauen als Selbstmordattentäterinnen erleben, das geschah auch im Tschetschenien-Krieg. Nach dem Zusammenbruch des IS werden die überlebenden Frauen wohl die ersten Opfer sein. Die Iraker und die Kurden werden sich womöglich an ihnen rächen. Da werden wir noch von schlimmen Dingen hören. Für die Männer ist es einfacher, sie können bis zum Tod kämpfen oder fliehen. Für Frauen ist es nicht so einfach möglich, sich frei durchs IS-Gebiet zu bewegen.

Und man muss bedenken, dass viele Frauen – die meisten sind ja deutlich jünger als die Männer, die nach Syrien gegangen sind –, mittlerweile Mütter geworden sind. Die Frage ist, wenn sie es schaffen, nach Europa zurückzukehren, was mit ihren Kindern geschieht. Das bereitet vielen Regierungen Kopfzerbrechen.

Die Anschlagsserie im Sommer hat Westeuropa schockiert. In Ihrem neuen Buch räumen Sie mit dem Mythos auf, dass die größte Gefahr durch einsame Wölfe droht, die ohne Zutun von anderen sich selbst radikalisieren und Anschläge begehen.

Nehmen Sie Mohamed Bouhlel, der im Juli mit einem LKW in Nizza 86 Menschen getötet hat. In den Medien wurde er in den ersten beiden Tagen nach der Tat als einsamer Wolf dargestellt, der sich blitzradikalisiert habe. Später stellte man allerdings fest, dass er gar nicht so einsam war, dass er Unterstützer hatte und einen Anschlag seit 2015 plante. Einen Täter als einsamen Wolf zu bezeichnen, geschieht meist, wenn man keine Informationen hat.

Ist der einsame Wolf also tatsächlich ein Terror-Märchen?

Es gibt eine neuere Entwicklung wie den Anschlag in einer Regionalbahn bei Würzburg, der vier Tage nach Nizza geschah. Der Attentäter Muhammed Riyad hatte sich zwar nach allem, was man bislang weiß, alleine radikalisiert. Aber kurz vor dem Anschlag chattete er mit einem mutmaßlichen Mitglied des IS in Saudi Arabien, der ihm Vorschläge für mögliche Ziele gemacht haben soll. Ist Riyad ein einsamer Wolf? Er ist zumindest ein Einzeltäter, der jedoch ferngesteuert wurde. Mir sind zwei weitere Fälle bekannt, in denen das in ähnlicher Weise versucht wurde, Täter über Messenger-Dienste anzuleiten. Ich bin mir fast sicher, dass wir von solchen Terrorakten noch mehr erleben werden.

Wie müssen Staat und Sicherheitsbehörden darauf reagieren?

Wenn sich zwei Terroristen über WhatsApp unterhalten, ist es für die deutschen Sicherheitsbehörden vorbei. Die Verschlüsselung ist so gut, da kommen selbst die Amerikaner nicht hinein. Ich bin ganz sicher niemand, der den Sicherheitsbehörden jede mögliche Technik an die Hand geben will.

Aber die Kommunikation der Terroristen läuft immer mehr über Messenger-Dienste. Es müssen deshalb Regeln definiert werden, unter welchen Bedingungen es Zugang zu verschlüsselten Kommunikationsmitteln geben muss.

In Ihrem Buch erläutern Sie ausführlich, was Bausteine für die Radikalisierung junger Muslime in Westeuropa sind. Interessant ist Ihr Beispiel, Sie könnten sich vorstellen, ein Andreas Baader hätte sich heutzutage womöglich einen langen Bart wachsen lassen und wäre auch nach Syrien gegangen.

Wenn man sich die Mitglieder der terroristischen Organisationen anschaut, stellt man fest, dass viele gar nicht so ideologisch gefestigt sind. Viele suchen häufig nur ein Ventil für ihre Frustrationen, sie haben ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Abenteuer, Strukturen, Orientierung. Sie wollen ihrem Leben Bedeutung verleihen. All das wird durchaus von den islamistischen Terrorgruppen befriedigt. Womöglich wären die Mitglieder des IS in den 1970er Jahren Marxisten geworden.

Sie schreiben auch, dass sich die Bewegung der Dschihadisten neuerdings demokratisiert hat – Al Kaida schlossen sich nur die Intellektuellen an, beim IS finden sich Gebildete genauso wie Verlierer, die im Dschihad ihre große Chance sehen oder vormals Kriminelle, die ihre früheren Missetaten wiedergutmachen wollen.

Letztendlich fordern Sie, dass bei der Deradikalisierung jeder Fall für sich allein betrachtet werden muss. Wie kann das funktionieren?

Er gibt bei den Personen, die sich radikalen Dschihad-Gruppen anschließen, viele Muster, die sich vergleichen lassen. Aber es gibt eben nicht die eine Formel. Wenn man diesen Personen helfen möchte, benötigt man individuelle Programme. Man kann auch nicht alle Personen ins Gefängnis stecken.

Das ist auch deshalb schon nicht möglich, weil die Strafverfolger oft nicht genügend Beweise gegen die Verdächtigen haben. Man hat vielleicht noch Informationen, dass diese Personen in Syrien waren, aber ob sie dort an Straftaten beteiligt waren, dafür gibt es dann keine Beweise – denken Sie an den Fall der Wolfsburger IS-Mitglieder Ayoub B. und Ebrahim H. B.. Deshalb gehen die Prozesse gegen viele IS-Mitglieder oft mit geringen Haftstrafen aus.

Darüber hinaus benötigen wir aber auch mehr Instrumente als die Strafverfolgung, etwa für Personen, die sich reintegrieren wollen, ohne dass sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.

Wenn wir über Radikalisierung sprechen, müssen wir auch über Inhalte im Internet reden. „Counter Speech“ (zu Deutsch: „Gegenrede“) wird als Maßnahme diskutiert. Ist dies erfolgsversprechend?

Es ist wichtig, dass im Internet den Extremisten etwas entgegengesetzt wird. Wenn Nutzer zum Thema Islam etwas bei Youtube eingeben, landen sie zum Beispiel bei Pierre Vogel. Es ist legal, Salafist zu sein, und man kann auch nicht alles zensieren. Es müssen deshalb Inhalte geschaffen werden, die sich mit Extremismus auseinandersetzen, die vor allem auch gut gemacht sind.

Genauso wichtig ist das Thema Hassrede: Wir haben auf der einen Seite Salafisten, auf der anderen Seite Flüchtlingsgegner, die im Internet sehr aktiv sind. Wir müssen Leute, die moderatere Positionen vertreten, motivieren, sich in die Diskussionen einzuschalten. Darüber müssen sich die Betreiber der Plattformen Gedanken machen, genauso aber auch die gesamte Zivilgesellschaft.

Klammern Sie die muslimischen Gemeinden und die Moschee-Vereine dabei aus?

Ich bin keiner der Fraktion, der sagt, der Islam hat mit Radikalisierung und Dschihadismus nichts zu tun. Natürlich hat das mit dem Islam zu tun. Die muslimischen Organisationen sollten sich verpflichtet fühlen, sich aktiv und aggressiv mit diesen Themen zu beschäftigen. Das ist ja in ihrem eigenen Interesse. Sie müssen sich mit den Jugendlichen mehr beschäftigen.

Viele Gemeinden haben den jungen Deutschen mit migrantischem Familienhintergrund nichts anzubieten. Das ist mein Vorwurf. Wenn ein junger Muslim in Neu-Köln in die Moschee geht und dort fragt, was der Koran zu Drogen oder Sexualität sagt, dann wird er vom Iman rausgeschmissen, weil diese Gemeinden so sehr konservativ und altmodisch sind. Meist werden die von alten Männern geleitet, die sich nicht für Jugendliche engagieren und auch überhaupt nicht verstehen, was im Internet passiert.

Was macht dann der Jugendliche aus Neu-Köln? Der geht auf Youtube und landet bei einem Video von Pierre Vogel. Die deutschen Moschee-Gemeinden haben es noch nicht geschafft, jemanden zu produzieren, der prominent ist und die Sprache der Jugendlichen spricht.