Salzgitter. Mitarbeiter aus Salzgitter reisen in die Sperrzone in der Ukraine, um Messungen unter realistischen Bedingungen zu üben.

Unser Leser Günter Löffel meint:

Wenn man Tschernobyl als Beispiel nimmt, müssten alle Atomkraftwerke bis zu 1500Kilometer ab der deutschen Grenze abgeschaltet werden.

Zum Thema recherchierte Johannes Kaufmann

„Der Notfallschutz nach einem ‚Ereignis’ in einer kerntechnischen Anlage ist eine der Aufgaben des BfS.“
Dr. Daniel Esch, Physiker

Die Katastrophe von Tschernobyl war das größte Unglück in der Geschichte der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Am 16. April 1986 explodierte Block 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Strahlung und radioaktive Partikel wurden damals vom Wind bis nach Deutschland getragen. Unsere Region liegt tatsächlich, wie unser Leser anmerkt, nicht ganz 1500 Kilometer von Tschernobyl entfernt.

Auch heute noch sind in manchen Regionen Deutschlands die Nachwirkungen der Katastrophe messbar. Allerdings geht davon keine Gefahr mehr für die Bevölkerung aus. Die Sperrzone in der Ukraine umfasst einen Radius von 30 Kilometern um das havarierte Kraftwerk. Mitarbeiter des Bundesamts für Strahlenschutz in Salzgitter (BfS) befinden sich derzeit in dieser Sperrzone, um bis zum 29. September für den Ernstfall in Deutschland zu üben.

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„Der Notfallschutz nach einem ‚Ereignis’ in einer kerntechnischen Anlage ist eine der Aufgaben des BfS“, sagt der Physiker Dr. Daniel Esch, der an der Übung in der Ukraine teilnimmt. Eine Grundlage dafür sei es, die Radioaktivität in der Umwelt möglichst genau zu messen. Das ermögliche es, die Ausbreitung von radioaktiven Stoffen zu berechnen.

Zu diesem Zweck betreibt das BfS in ganz Deutschland 1800 stationäre Messstellen, die permanent die Ortsdosisleistung (ODL), also die Strahlendosis pro Zeiteinheit an einem Ort, überwachen. Die Einrichtung dieses ODL-Netzes war eine Konsequenz, die man aus der Tschernobyl-Katastrophe gezogen hatte. Denn 1986 habe sich gezeigt, „dass die Vorbereitungen auf eine großräumige Kontamination der Umwelt mangelhaft waren“, heißt es auf der Internetseite des BfS.

„Wenn mehrere benachbarte Sonden höhere Werte messen, bekommen wir das sofort mit“, sagt Esch. Darüber hinaus verfüge das BfS aber auch über mobile Messinstrumente. Mit denen könnten die Radioaktivität kleinräumig untersucht und lokale Ablagerungen von radioaktiven Partikeln ermittelt werden. Das helfe bei der Entscheidung über weitere Katastrophenschutzmaßnahmen.

Die Verteilung des Bundesamts über die gesamte Republik sei in diesem Fall hilfreich: Nicht nur in Salzgitter, auch an anderen Standorten des BfS wie in Berlin, München, Freiburg oder Rendsburg in Schleswig-Holstein stehen mit Messinstrumenten ausgestattete Fahrzeuge bereit.

Mit an Bord ist unter anderem auch ein In-situ-Gammaspektrometer, wie Esch es mit in die Ukraine nehmen wird. „Damit lässt sich nicht nur die Höhe der Strahlung messen, sondern auch ermitteln, von welchen Radionukliden sie stammt“, erklärt der Physiker. So sei in den Spektren noch immer das Cäsium aus den Kernwaffentests aus der Mitte des 20. Jahrhunderts nachweisbar. Bisher kam das Gerät bei den jährlichen Notfallschutzübungen im Bayerischen Wald oder auf dem Gelände der Wismut GmbH zum Einsatz.

Doch welchen Sinn hat es, die teure und sperrige Ausrüstung in die Ukraine zu verfrachten? „In der Sperrzone können wir unter realistischeren Bedingungen üben“, sagt Daniel Esch. Sie müssten die Strahlenschützer in der Sperrzone beispielsweise darauf achten, keine radioaktive Partikel zu verschleppen, die an Kleidung und Fahrzeugen haften bleiben. „Das erfordert spezielle Verhaltensregeln. Wir dürfen zum Beispiel nichts auf dem Boden ablegen, nicht im Freien essen, müssen Gummistiefel und Arbeitskleidung tragen, die möglichst wenig Haut freilässt. Die Kleidung wird separat gelagert und darf beispielsweise nicht mit in unser Hotel genommen werden“, erklärt der Physiker. Außerdem würde bei der Ausfahrt aus der Sperrzone alles gesäubert und die Folien, mit denen der Innenraum der Fahrzeuge ausgekleidet wird, entsorgt.

Vier Tage verbringen die insgesamt 26 BfS-Mitarbeiter, von denen fünf in Salzgitter arbeiten, mit ihren zwölf Fahrzeugen in der Ukraine. Unterstützt werden sie dabei von der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde. Heute stehen genaue Messungen auf zwei kleinen Messflächen an, auf denen seit dem Unfall 1986 nichts geändert wurde. „Das ermöglicht uns, das Verhalten von Radionukliden über einen langen Zeitraum zu bestimmen“, sagt der Physiker. So sinke langlebiges Cäsium-137 langsam im Boden ab. Ein Experte vom BfS in Berlin werde ein Bodenprofil erstellen. Die Übung dient also nicht nur der Ausbildung der Mitarbeiter, sondern auch der Forschung.

An den folgenden Tagen werden die Strahlenschützer auf festgelegten Routen längere Strecken abfahren und dabei ein großes Gebiet vermessen. Mit diesen Untersuchungen würden die radiologischen Karten der Region aktualisiert, erklärt Esch. „Der letzte Tag dient der radiologischen Erkundung in urbanem Gebiet“, sprich: Die BfS-Mitarbeiter fahren in die Geisterstadt Prypjat, die nach der Reaktorkatastrophe evakuiert wurde. Sie ist gerade einmal vier Kilometer von der Kraftwerksruine entfernt.

„Da werden wir auch erstmals den Einsatz in voller Schutzausrüstung üben“, sagt Dr. Esch. Auch aus Sicht des Strahlenschutzes ist die Erkundung der Stadt interessant. Denn dort gibt es große versiegelte Flächen: „Die werden schnell von Regen abgewaschen, was dazu führt, dass sich an manchen Orten wie etwa Gullideckeln sogenannte Hotspots mit erhöhter Strahlung bilden“, erklärt der Physiker aus Salzgitter.

Deswegen sei die Belastung auf betonierten Straßen auch relativ gering. Die liege in der Sperrzone im Durchschnitt bei etwa einem Mikrosievert pro Stunde und damit etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. Auf den Feldern und an Hotspots würden aber auch mal bis zu mehreren Hundert Mikrosievert pro Stunde erreicht.

„Pro Tag dürfen wir eine Dosis von 80 Mikrosievert ansammeln, insgesamt 0,3 Millisievert bei der gesamten Übung“, sagt Esch. Zum Vergleich: Die Pilotenvereinigung Cockpit schätzt die jährliche Strahlenbelastung für Piloten durch Flüge in großer Höhe auf drei bis fünf Millisievert.