Braunschweig. Braunschweiger Staatsanwälte ermitteln im Abgas-Skandal gegen Top-Manager von VW, Braunschweiger Richter entscheiden über Milliarden.

Unser Leser Manfred Kratschmer aus Salzgitter bemerkt:

In Braunschweig gegen VW zu klagen, ist so erfolgversprechend, wie den Papst im Vatikan zu verklagen.

Zum Thema recherchierten Andre Dolle und Christina Lohner

Der Abgas-Skandal schüttelt den Volkswagen-Konzern seit fast einem Jahr durch. Juristisch wird „Dieselgate“ VW noch eine ganze Weile beschäftigen. Es geht um viel Geld und um das Image des Konzerns. Auf die Braunschweiger Justizbehörden, zu deren Bezirken Wolfsburg gehört, kommt es dabei in Deutschland besonders an.

Unser Leser argwöhnt, dass von der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Landgericht und Oberlandesgericht Braunschweig VW-freundliche Ermittlungen beziehungsweise Urteile zu erwarten sind. Mit diesem Verdacht steht er einerseits sicher nicht allein. Andererseits heißt es in Artikel 97 des Grundgesetzes so nüchtern wie eindeutig: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ In jedem Fall werden die Justizbehörden ihre Entscheidungen begründen müssen. Die Kläger und die Öffentlichkeit werden die Verfahren mit größtem Interesse verfolgen.

Der folgende Überblick soll verdeutlichen, was in den kommenden Monaten bei der Braunschweiger Justiz ansteht.

Staatsanwaltschaft Braunschweig

Dass der Abgas-Skandal die Bürger in Deutschland umtreibt, erkennt man schon an der hohen Zahl an Anzeigen, die bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig eingegangen sind: mehr als 2200.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig bearbeitete bereits andere öffentlichkeitswirksame Fälle, den Betriebsräte-Skandal bei VW etwa. Oder die Pannenserie im Atommülllager Asse. Laut Birgit Seel, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, hat die Behörde aber bisher kein Verfahren so sehr in Atem gehalten wie der Abgas-Skandal: „Wir kommen an die Grenzen unserer Kapazitäten.“

Dabei nehmen die Staatsanwälte offenbar keine Rücksicht auf große Namen. Sie gehen dem Verdacht nach, der Konzern habe Aktionäre zu spät über mögliche finanzielle Risiken der Abgas-Affäre informiert. Die Staatsanwälte ermitteln dabei gegen Ex-Vorstandschef Martin Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess. Beide weisen die Vorwürfe zurück. Sollte sich der Verdacht erhärten, hätten die klagenden Aktionäre gute Chancen auf Schadenersatz. Unter anderem hatte die Finanzaufsicht Bafin Anzeige wegen Marktmanipulation und Verletzung der Informationspflicht bei den Braunschweigern eingereicht.

In dem Betrugsverfahren wegen Manipulation der Stickoxidwerte bestimmter Dieselmodelle hat die Staatsanwaltschaft 21 VW-Manager im Visier. Es gab bereits Razzien im Umfeld verdächtiger Ingenieure und Manager. Unter den Beschuldigten sind bisher keine amtierenden oder ehemaligen Mitglieder des VW-Vorstands.

Insgesamt führen die Braunschweiger Staatsanwälte fünf Verfahren mit 30 Beschuldigten. Das Betrugsverfahren ist der komplexeste Fall mit den meisten Beschuldigten und 2200 Anzeigen. Zum Vergleich: Wegen Marktmanipulation liegen nur 14 Anzeigen vor. Gegen den Konzern selbst haben die Ermittler ein Bußgeldverfahren eingeleitet. Bei den weltweit gut 11 Millionen betroffenen Autos könnte das Bußgeld das eigentlich vorgesehene Höchstmaß von 10 Millionen Euro deutlich übersteigen. Denn es soll höher sein als der aus der Ordnungswidrigkeit erzielte wirtschaftliche Vorteil. Falls der Autobauer tatsächlich gegen Aufsichtspflichten verstoßen hat, würde außerdem der illegal erwirtschaftete Gewinn abgeschöpft.

Das vierte Verfahren richtet sich gegen einen ehemaligen Mitarbeiter aus der VW-Rechtsabteilung, der dazu angestiftet haben soll, Beweise zu vernichten. Das fünfte Verfahren dreht sich um mögliche Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Hier gibt es zehn Anzeigen.

Da VW die CO2-Emissionen bestimmter Fahrzeuge zu niedrig ausgewiesen hat, könnten die Besitzer dieser Autos zu wenig Steuern gezahlt haben.

Im Betrugsverfahren ermitteln die Staatsanwälte bis ins Jahr 2005 zurück. Das ist nach jetzigem Stand der Startpunkt der Betrugs-Software bei den Dieselmotoren gewesen. Damals soll in der Motorenentwicklung in der VW-Zentrale in Wolfsburg die Entscheidung zum Einbau der Software gefallen sein.

Bis zu zehn erfahrene Staatsanwälte ermitteln in den fünf Verfahren. Ihre sonstigen Aufgaben übernehmen zum Teil Staatsanwälte, die sich noch in der Ausbildung befinden – sogenannte Assessoren. Außerdem bleiben die Assessoren länger als geplant bei der Staatsanwaltschaft, bevor sie bei den Gerichten ihre Ausbildung fortsetzen. Der Abgas-Skandal zieht sich also indirekt durch alle Bereiche, auch wenn Sprecherin Seel beteuert, dass keine Fälle liegen blieben.

Oberlandesgericht Braunschweig

Hier ist die Arbeit noch gar nicht so richtig angelaufen. Das Oberlandesgericht (OLG) kümmert sich mit Blick auf den VW-Skandal auch nur um einen einzigen Fall. Der hat es aber in sich. Es geht um die Schadenersatzforderungen von VW-Aktionären. Sie summieren sich auf vier Milliarden Euro. Bereits jetzt zeichnet sich ein langwieriger Musterprozess ab.

Das Landgericht Braunschweig hatte den Weg für die Musterklage erst kürzlich freigemacht. Es bündelte 170 Anlegerklagen zum Musterprozess und reichte diesen per Beschluss an das OLG weiter.

Das OLG legt nun fest, wessen Verfahren repräsentativ entschieden wird. Als Zeitfenster für den Beginn des Musterverfahrens gilt frühestens Ende 2016.

Nicht nur die Kläger sind für ein Musterverfahren, auch VW selbst hat dieses beantragt. Der Konzern äußerte sich Mitte August dazu gegenüber unserer Zeitung: „Volkswagen ist weiterhin der Auffassung, seine kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten ordnungsgemäß erfüllt zu haben“, sagte ein Sprecher.

Die klagenden Anleger hingegen halten dem Konzern vor, dass er seine Informationspflichten verletzt habe. Das OLG könnte also auf die Ergebnisse der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aufbauen – wenn diese dann schon so weit ist.

Die größte einzelne Anleger-Klage gegen VW über 3,25 Milliarden Euro reichte für 277 institutionelle Investoren der Tübinger Rechtsanwalt Andreas Tilp ein. Er kündigte weitere Klagen an, sodass die Schadenssumme seiner Mandanten auf 4,5 Milliarden wachse. Auch das Landgericht rechnet mit einer „Vielzahl weiterer Anleger-Klagen“.

Um das Musterverfahren zu stemmen, soll das OLG ab 2017 drei weitere Richter erhalten – für einen weiteren Senat. „Ferner sind auch weitere Stellen für die Mitarbeiter anderer Dienste zu erwarten“, sagt OLG-Sprecher Michael Schulte. Das OLG geht das Verfahren – zumindest nach außen – ganz nüchtern an. „Ein Musterverfahren mit einem so hohen wirtschaftlichen Gesamtvolumen ist sicherlich nicht alltäglich“, sagt Schulte zu den vier Milliarden Euro an Streitwerten. Er ergänzt jedoch: „Wir werden die Herausforderung meistern.“ Auch sonst gibt sich Schulte juristisch-pragmatisch. Auf die Frage nach dem Druck und der besonderen Aufmerksamkeit sagt er: „Für Richter ist der Umgang mit öffentlichem Druck nichts Ungewöhnliches.“

Landgericht Braunschweig

Von den etwa 600 Klagen, die Autobesitzer wegen des Abgas-Betrugs bei deutschen Gerichten bisher eingereicht haben, sind zwar erst gute 20 Urteile ergangen. Mittlerweile zeigt sich aber, dass nicht alles ganz so glatt für VW und für die Autohändler läuft, wie erwartet. Landgerichte in der Republik urteilten anfangs, dass zwar ein Mangel bei den Diesel-Fahrzeugen mit der Betrugs-Software vorliege, dieser sei aber günstig zu beheben.

Inzwischen kann Volkswagen nicht mehr hundertprozentig sicher sein. Das Landgericht München gestand einem Ehepaar 18 000 Euro Entschädigung für einen Seat zu. Das Landgericht Lüneburg urteilte, dass ein VW-Händler einem Käufer 12 000 Euro zurückerstatten muss. Und beim Landgericht Braunschweig zeichnet sich ein Vergleich ab, wonach ein Skoda-Fahrer von einem freien Händler ein neues Auto bekommen soll.

Händler und Anwalt werden wohl auf den Vergleich eingehen, weil der Braunschweiger Richter eine klare Tendenz erkennen ließ: „Der Mangel am Auto des Klägers ist seit Monaten bekannt, ein Ende ist aber noch nicht abzusehen.“ VW ruft die betroffenen Fahrzeuge erst nach und nach in die Werkstätten zurück.

Die Justiz entscheidet – was in erster Instanz nicht ungewöhnlich ist – mal so und mal so. Das kann sogar für Richter am selben Gericht gelten. Das Landgericht Braunschweig übernimmt mit knapp 70 Verfahren den Löwenanteil der Klagen. 24 Richter aus neun Zivilkammern befassen sich am Landgericht mit dem Abgas-Skandal, zusätzlich 20 Mitarbeiter in den zugeordneten Service-Einheiten. Eine weitere Kammer mit drei zusätzlichen Richtern soll ab 2017 folgen. Wie das OLG geht auch das Landgericht ganz nüchtern an die Fälle heran. Den Kontakt zu den Anwälten auf Klägerseite und auf der Seite von VW beschreibt Vizepräsident Jan-Michael Seidel schlicht als „sachlich“. VW hat die Großkanzlei Freshfields beauftragt.