Braunschweig. Medienpädagoge Jürgen Schuppe berät Schulen. Die Braunschweiger Raabeschule will zwei Jahrgänge mit Tablets unterrichten.

„Medien rund um die Uhr: Segen oder Suchtgefahr?“. So lautet der Titel der Sendung „Logo – Wissenschaft aus Braunschweig“, die der NDR mit unserer Zeitung am 19. April im Haus der Wissenschaft organisiert. An der Raabeschule in Braunschweig ist die Einführung von Tablet-Computern als Lernmittel in zwei kompletten Jahrgängen mit insgesamt 240 Schülern geplant. Zusammen mit dem NDR hat unser Redakteur Johannes Kaufmann das Gymnasium besucht und mit Schulleiterin Carmen Nasse, den Schülern Maren Wirth und Lorenz Sieben sowie dem medienpädagogischen Berater des Landes Niedersachsen, Jürgen Schuppe, darüber gesprochen, was sich durch den Einsatz neuer Medien an den Schulen ändert.

Was spricht für den Einsatz digitaler Medien in der Schule?

„Unser Ziel ist, dass die Jugendlichen sich von dem Gerät emanzipieren.“
„Unser Ziel ist, dass die Jugendlichen sich von dem Gerät emanzipieren.“ © Jürgen Schuppe, medienpädagogischer Berater an Schulen

Maren Wirth: Man kann viele Dinge schneller erreichen als mit Stift und Papier. Zum Beispiel kann man schnell eine Vokabel nachschlagen, ohne minutenlang in einem schweren Wörterbuch suchen zu müssen. Das macht den Unterricht effektiver.

Lorenz Sieben: Ich kann auch lernen, den Computer dazu zu bringen zu tun, was ich möchte – zum Beispiel eine große Menge Daten zu durchsuchen. Oder ein Experiment auszuwerten. Der Computer kann problemlos jede Zehntelsekunde messen und nicht, wie ich, nur alle paar Sekunden, weil ich nicht schneller notieren kann. Damit erreiche ich eine wesentlich bessere Auflösung. Wir können auch Daten verwenden, die uns früher gar nicht zur Verfügung standen oder die nicht zu überblicken waren. Ich muss nicht stundenlang durch Archive laufen, um eine einzelne Akte zu finden. Ist sie digitalisiert, dann findet der Computer sie in zwei Sekunden.

Jürgen Schuppe: Als medienpädagogische Berater sind wir überzeugt, dass nur eine aktive Mediennutzung die Schüler in die Lage versetzt, Medienkompetenz zu erlangen. Man kann Medien nicht über ein Schulbuch lernen. Das geht nur über die praktische Anwendung. Wir wollen den Schülern zeigen, dass man mit Hilfe digitaler Medien Erfolg erleben und einen Wissensvorsprung erreichen kann. Unser Ziel ist aber, dass die Jugendliche sich von dem Gerät emanzipieren, dass sie erkennen, dass es sich um ein Mittel handelt, mit dem man seine Bildung erweitern und Kompetenzen erwerben kann. Aber auch, dass es für andere Dinge überflüssig ist.

Carmen Nasse: Als Schule sind wir in einem Zwiespalt. Die Geräte werden von den Jugendlichen selbstverständlich genutzt. Schule sollte diese Geräte und die Motivation der Schüler, sich damit zu beschäftigen, für sich nutzbar machen. Eltern erwarten aber umgekehrt, dass Schule einen Schutzraum bietet und die Kinder gerade nicht mit neuen Medien in der Schule zu tun haben, weil sie diese privat schon so viel nutzen. Das kann ich nachvollziehen. Aber Schule hat die Aufgabe, junge Menschen auf das Leben vorzubereiten, und unsere Welt ist nun einmal von Medien durchdrungen. Arbeitgeber erwarten, dass junge Leute mit Medien kompetent umgehen können. Es ist Aufgabe der Schule, diese Kompetenz zu lehren und gleichzeitig die Ängste der Eltern ernstzunehmen.

Ob Kinder lesen, hängt stark davon ab, welche Rolle Bücher im Elternhaus spielen. Das Lernen am Vorbild ist da wichtiger als das, was in der Schule geschieht. Ist das nicht bei neuen Medien genauso?

Nasse: Ganz bestimmt. Aber genau da knüpfen wir an. So, wie wir Leseförderung betreiben, um Kinder zum Lesen zu motivieren, die das nicht von ihren Eltern als Vorbild kennen, fördern wir den verantwortungsvollen Umgang mit neuen Medien. Wenn Kinder aus dem Elternhaus Mediennutzung nur als reinen Konsum kennen, können sie in der Schule den Einsatz neuer Medien als Arbeitsmittel und den kritischen Umgang mit Internetquellen lernen.

Schuppe: Der Vergleich mit den Büchern ist treffend. Aber das Nichtlesen steht in keinem Verhältnis zur jetzigen Mediennutzung in bildungsfernen Schichten. Denn die ist intensiv. Und anders als bei Büchern haben wir dort die Chance, auf eine Technologie und Kultur zurückzugreifen, die auf jeden Fall zu Hause verfügbar ist.

Sieben: Die neuen Medien werden ohnehin genutzt, anders als Bücher. Dadurch entgeht den Nichtlesern vielleicht etwas. Aber Medienkonsum kann schädlich sein.

Schule hängt oft mindestens eine Generation hinterher. Kann der Dinosaurier Schule tatsächlich Schülern etwas beibringen auf einem Gebiet, wo die Schüler den Lehrern weit voraus sind?

Sieben: Das kommt gerade bei den digitalen Medien tatsächlich sehr oft vor. Wenn das Smartboard nicht funktioniert, wird es zumeist von Schülern repariert. Das führt zu der interessanten Situation, dass die Lehrer von den Schülern lernen. So wird Schule zu einem Ort, an dem Lehrer und Schüler gemeinsam lernen. Das ist für manchen Lehrer sicher eine seltsame Situation, weil das womöglich seine gewohnte Autorität in Frage stellt. Andererseits bilden sich aber auch immer mehr Lehrer auf diesem Gebiet fort.

Schuppe: Die Lehrer sind also schon in der Lage, mit der Technik umzugehen, auch die älteren?

Sieben: Nicht alle, aber einige.

Wirth: Es gibt schon jetzt Lehrer, die von sich aus ihre privaten Tablets im Unterricht einsetzen. Gleichzeitig gibt es 20-jährige Referendare, die lieber mit Kreide an die Tafel schreiben.

Nasse: Das ist nicht einfach eine Frage des Alters. Ich habe eine 63-jährige Lehrerin, die noch nie ein Tablet in der Hand hatte und entsetzt war, als sie in einem Pilotprojekt eine Sprachlernklasse mit Tablets unterrichten sollte. Dann hat sie sich in eine Fortbildung gesetzt, und nach fünf Minuten steht sie auf und sagt: „Super! Hätte ich das nur schon vor 20 Jahren gehabt.“ Seither ist sie immer mit Tablet unterwegs.

Schule ist ein lernendes System. Die Vorstellung vom Lehrer als unangefochtener Autorität und einer über allem schwebenden Schulleitung ist nicht meine. Wir lernen in diesem System alle miteinander. Nur so kann Schule in einer sich schnell verändernden Welt funktionieren. Ich glaube, dass viele Kollegen das ganz ähnlich sehen. Auch weil sie als Autorität heutzutage viel schneller und besser hinterfragt werden können. Der Schüler kann eben sofort prüfen, ob es stimmt, was der Lehrer vorn an der Tafel erzählt.

Der Lehrer hat durch sein Studium und seine Ausbildung Kompetenz und Autorität, ist aber fehlbar und begegnet den Schülern auf Augenhöhe, wenn er von ihnen lernen kann. Und solche Lehrer gibt es bereits, oder?

Sieben: Auf jeden Fall. Wenn transparent ist, wie Schüler und Lehrer gemeinsam zu einem Lernerfolg kommen, ist das viel sinnvoller, als frontal unterrichtet zu werden.

Schuppe: Das ist ein Paradigmenwechsel. Ich würde es sogar als kleine Revolution bezeichnen. Es begeben sich traditionelle Gymnasien auf einen Weg, auf dem Grundschulen schon länger sind. Dort kann man seit vielen Jahren mit dem traditionellen Frontalunterricht nicht mehr viel anfangen. Nach meiner Erfahrung sind die Grundschulen am stärksten pädagogisch strukturiert, weil sie ständig reflektieren müssen, welche Methoden bei der Integration von Kindern aus verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen oder bei der Inklusion erfolgreich sind. Die Gymnasien, die traditionell eher fachorientiert waren, beginnen mehr und mehr, diese pädagogische Komponente höher zu bewerten.

Das Lernmittel ändert die ganze Idee von Schule?

Schuppe: Richtig, auch am Gymnasium.

Sieben: Natürlich legt man nicht einfach ein Tablet in die Klasse, und plötzlich läuft der Unterricht völlig anders. Aber die neuen Medien erzwingen ein Umdenken. Und für die Schüler ist das gut, weil wir mehr Gestaltungsmöglichkeiten bekommen.

Schuppe: Ich kenne das Umgestalten von Gymnasien aus einer anderen Zeit: 1968 hat sich das Gymnasium wegen der politischen Umwälzungen massiv verändert. Etwas Ähnliches beobachte ich jetzt auch. Wir haben die Chance, durch den bewussten, gesteuerten und gelernten Umgang mit den neuen Medien den Unterricht und damit die Schule auf ein neues Niveau heben.

Offener Unterricht, neue Pädagogik und dergleichen sind also vergleichbar mit der Entwicklung, welche die neuen Medien auslösen?

Schuppe: Wenn es richtig gemacht wird, ja.

Sieben: Das kommt auf die Nutzung an. Man kann Schülern auch nur dann ein Tablet vorlegen, wenn sie etwas googeln sollen, und es anschließend wieder einkassieren. Aber das ist nicht die Idee an unserer Schule. Und ich glaube schon, dass man so zu einer anderen Art von Unterricht kommt, zu individualisiertem Lernen.

Schuppe: Das ist das Stichwort. Das geht mit neuen Medien viel besser – bis hin zur Inklusion.

Nasse: Deswegen setzen wir auf von den Eltern finanzierte und auch privat genutzte Geräte. Weil wir weg wollten von diesem typischen, aus der Not geborenen Leihsystem mit einem Computerraum, zu dem jede Klasse ab und zu pilgert, um für ein paar Minuten ins Internet zu können. Das Lernmedium soll jederzeit, auch zu Hause, verfügbar sein, sonst bleibt die Mediennutzung auf „Zauberstunden“ begrenzt, die noch dazu häufig als Belohnung eingesetzt werden.

Rolf Maroske: Manche Eltern fordern, dass die Geräte von der Schule zur Verfügung gestellt werden. Doch ein Schulträger wird niemals fragen, was die Schule braucht, sondern nach den Kosten entscheiden. Dann hat die Schule am Ende vielleicht Geräte, mit denen ich gar nicht arbeiten kann. Wir hingegen haben die Möglichkeit, danach zu gehen, was am besten in unser pädagogisches Konzept passt.

LOGO-SENDUNG UND TABLET-SCHULEN

Segen oder Suchtgefahr? Die aktuelle Ausgabe von „Logo – Wissenschaft aus Braunschweig“ beschäftigt sich mit dem Einsatz neuer Medien im Unterricht. Am Dienstag, 19. April, diskutieren ab 19 Uhr im Haus der Wissenschaft in Braunschweig die Sozialpsychologin Catarina Katzer, der medienpädagogische Berater Jürgen Schuppe und der Mediziner Bert te Wildt.

Haben Sie Fragen zum Thema? Dann schreiben Sie eine Mail an: antworten@bzv.de

Auch andere Schulen in unserer Region setzen Tablets im Unterricht ein. Geräte, die von Eltern finanziert werden, nutzen z. B. die Wilhelm-Bracke-Gesamtschule Braunschweig und die Giordano-Bruno-Gesamtschule in Helmstedt seit Jahren.

In Braunschweig gibt es die Möglichkeit, von der Stadt finanzierte Leihgeräte im Unterricht zu nutzen. Davon profitieren zum Beispiel die Schüler der IGS Querum und der IGS Volkmarode. nb