Hannover. Der Landtag lässt Uni-Spitzeleien und Mordaufträge erforschen.

Unsere Leserin Gisela Kamp aus Braunschweig fragt:

Wieso erst jetzt?

Die Antwort recherchierte Michael Ahlers

„Das wundert mich auch“, erklärte Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU) auf die Leserfrage, warum erst jetzt eine Kommission des Landtags die Verbrechen der Stasi in Niedersachsen aufarbeite. Aber besser jetzt als gar nicht, ergänzte Busemann. Und für die wissenschaftliche Aufarbeitung könne ein gewisser Abstand vielleicht durchaus förderlich sein.

„Verrat an der Freiheit – Machenschaften der Stasi in Niedersachsen aufarbeiten“ lautete der Titel eines Symposiums, das am Freitag im Landtag begann. Eingesetzt hatte der Landtag eine Enquete-Kommission zu den Stasi-Verbrechen mit den Stimmen aller Fraktionen, angeschoben aber hatte die CDU das Thema. „Niedersachsen ist das erste westliche Bundesland, das eine Enquete-Kommission zu diesem Zweck ins Leben gerufen hat“, erklärte ein Sprecher der CDU-Landtagsfraktion. In den neuen Bundesländern und auf Bundesebene habe es solche Kommissionen schon gegeben.

Nachdem Daniela Münkel von der Stasi-Unterlagenbehörde des Bundes und Mitglied der Enquete-Kommission des Landtags, einen Überblick über Methoden, Ziele und Strategien der Stasi gegeben hatte, berichtete Klaus Oberdieck von der TU Braunschweig über ein Forschungsprojekt zu Stasi-Aktivitäten, das gerade angelaufen ist. Es habe ein „dezidiertes Interesse der Stasi an Forschung gegeben“, so Oberdieck. Zudem habe die Staatssicherheit versucht, unter jungen Uni-Angehörigen „Perspektiv-IM“ anzuwerben. Rund 30 Personen berichteten aus dem TU-Innenleben an die Stasi, sagte Oberdieck unter Verweis auf andere Forschungen.

Für das Top-Ziel TU Braunschweig war die Abteilung 13 der Hauptverwaltung Aufklärung zuständig, im besonderen Fokus standen laut Oberdieck der Sonderforschungsbereich Flugführung sowie die chemische Forschung. Das „Institut für Chemie“, das im MfS-Handbuch als Ziel auftauchte, gab es allerdings gar nicht, sondern eine ganze Reihe von Instituten.

Wie infam die Stasi vorging, machte die Wissenschaftlerin Jutta Braun anhand von geflohenen Sportlern und des Falls Lutz Eigendorf deutlich. Braun arbeitet derzeit an einem Projekt zum DDR-Fußball. „Die Umstände konnten nie lückenlos geklärt werden“, sagte Braun zum Tod des Fußballers Eigendorf, auch sie könne die Antwort nicht geben. Eigendorf war im März 1983 bei einem schweren Unfall in Braunschweig gestorben. Braun hatte zunächst berichtet, wie die Staatssicherheit aus der DDR geflüchtete Sportler zur Rückkehr drängte und deren Alltag ausspionierte – wohl auch für mögliche Entführungen zurück in die DDR. Zwar gestand ein früherer Stasi-IM 2010 bei einem Prozess in Düsseldorf, einen Mordauftrag für Eigendorf gehabt zu haben. Er habe das aber nicht umgesetzt, so der Mann. In Stasi-Unterlagen zu Eigendorf finden sich Hinweise, dass der Fußballer unmittelbar vor seinem Autounfall geblendet wurde („verblitzen“). Die Notizen sind aber laut Braun nicht eindeutig genug.

Die Forscherin hält für wahrscheinlich, dass ein als „Unfall“ getarnter, nicht aufzuklärender Anschlag der Stasi als effektiver erschien als eine aufsehenerregende Entführung mit politischen Verwicklungen. In Stasi-Akten fanden sich untere anderem Fotos von Eigendorfs Haustürklingel. „Jedes Detail wurde festgehalten“, so Braun. Im Fall des ebenfalls aus der DDR geflohenen Fußballers Falko Götz fanden sich Zeichnungen des Hauses – und der kürzesten Wegstrecke zurück in die DDR. Jede Erinnerung an Eigendorf in der DDR sollte getilgt werden – so wurden 1000 Gläser mit seinem Konterfei zertrümmert.

Ein besonderes Ziel der Stasi in Niedersachsen war die „Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter“. Die „Rechtsstelle“ des Ministeriums für Staatssicherheit sorgte für Prozesse gegen die „völkerrechtswidrige“ Arbeit. „Sie galt immer als feindliches Objekt“, so Claudia Fröhlich von der Leibniz-Universität Hannover.

„Unsere Aufgabe war es, bestimmte Gewaltakte der DDR zu erfassen“, betonte Hans-Jürgen Grasemann, Ex-Sprecher der Erfassungsstelle. Dabei sei es nicht nur um Todesfälle an der Grenze, sondern auch politische Justiz, Misshandlungen in DDR-Haft und Entführungen gegangen. Ein früherer Stasi-Mann erzählte ihm später, einen Spion habe man dort nie einschleusen können.