Berlin. Nach den Terrorangriffen in Brüssel gehen Polizisten in Belgien, Frankreich und auch Deutschland gegen Islamisten vor – dabei detoniert ein Sprengsatz

Tag drei nach den Anschlägen: Spezialkräfte durchsuchen ein Haus in Brüssel, bei einer Razzia im Stadtteil Schaerbeek explodiert ein Sprengsatz. In Belgien, Frankreich und Deutschland werden fast ein Dutzend Terrorverdächtige festgenommen. Der Fahndungsdruck steigt – und mit ihm die Erkenntnisse. So zeigt die Auswertung einer Überwachungskamera, dass ein Mann, der eine große Tasche trug, sich in der U-Bahn-Station Maelbeek mit Khalid el-Bakraoui traf, aber nicht mit dem Selbstmordattentäter in die Metro einstieg, die er in die Luft sprengte. Man geht nun von fünf Tätern aus, drei auf dem Flughafen, zwei in der U-Bahn. Vieles ist unklar, manches widersprüchlich, nicht alles soll bekannt werden – um die Fahndung nicht zu gefährden, zumal die Gefahr weiterer Anschläge keineswegs gebannt ist.

Wie kommen die Ermittler voran?

Außer dem Airport-Attentäter Ibrahim el-Bakraoui ist sein 24-jähriger Komplize Najim Laachraoui tot. Gesucht wird nach dem dritten Mann auf dem Flughafen. Über den zweiten Terroristen in der U-Bahn kursieren unterschiedliche Meldungen, womöglich ist auch er tot. Seit Langem vermuteten die Behörden in Belgien eine Terrorzelle mit bis zu 30 Mitgliedern. Europaweit geht die Polizei gegen Islamisten vor. Allein in Belgien gibt es acht Festnahmen. In Düsseldorf greift man einen Salafisten auf. „Wir hatten ihn im Blick“, verrät ein Fahnder. Offiziell wird der Mann wegen Bandenkriminalität verhaftet. Er war wie einer der Brüsseler Attentäter im Sommer 2015 im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien aufgegriffen worden. Nachdem die Türkei am Mittwoch auf eine frühere Warnung vor dem Mann aufmerksam gemacht hat, sind die deutschen Ermittler in Zugzwang. In Gießen nimmt die Bundespolizei am Mittwoch einen Mann fest, der auf seinem Handy zwei verdächtige SMS vom Tag der Anschläge haben soll.

Ist der Plan der Täter aufgegangen?

Sie haben ihr Ziel erreicht: Mit den Anschlägen – 31 Tote, rund 300 Verletzte – verbreiten sie Schrecken. Es hätte noch schlimmer kommen können. Nach den Berichten der Sender VRT und RTBF scheiterte ein größeres Blutbad, weil die Ermittler Glück hatten. Sie zogen drei Gefährder aus dem Verkehr – Salah Abdeslam, Mohamed Belkaid, Amine Choukri –, die durch Zufall aufgespürt wurden. Belkaid war den Behörden nicht bekannt. Bei einer Routinekontrolle einer Wohnung eröffnete er das Feuer auf Streifenpolizisten. Dort fand man einen Fingerabdruck von Salah Abdeslam. Ihm kam man auch durch Zufall auf die Spur. Beim Abhören einer Wohnung fiel auf, dass viele Pizzen bestellt wurden. Das erinnerte an die Attentäter von Paris. Belgische Polizisten stürmten die Wohnung und fassten prompt Abdeslam sowie Choukri.

Sind Deutsche unter den Opfern?

Eine Frau aus Aachen kam ums Leben. Ihr Ehemann liegt schwer verletzt in einem Krankenhaus in Belgien. Die Opfer der Anschläge sollen aus 40 verschiedenen Nationen kommen. Unter den bisher identifizierten Opfern sind neben den Belgiern viele Ausländer. Auch die junge Peruanerin Adelma Tapia Ruíz war mit ihrem Mann und ihren kleinen Töchtern auf dem Weg in die USA, als sie von einer der Bomben getötet wurde. Ihre drei Jahre alten Zwillinge überleben wohl nur, weil sie kurz vor der Detonation zum Spielen weggelaufen waren.

Ist Belgien ein leichtes Terrorziel?

Die Anschläge zeigen: Geheimdienst und Polizei sind in Belgien dem Kampf gegen Terroristen nicht gewachsen. Terror-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College schreibt: „Die Lücke zwischen der Terrorgefahr und der Ausstattung der belgischen Sicherheitsbehörden ist vermutlich die größte in Europa.“ Seit Jahren würden den Strafverfolgern Ressourcen fehlen, um die Netzwerke der radikalen Islamisten zu verfolgen. Schon nach den Anschlägen von Paris im November beklagte sich ein Mitarbeiter der EU in Brüssel im Gespräch mit dieser Zeitung über die Arbeit der belgischen Sicherheitsbehörden: zu wenig Professionalität, zu wenig Wille zum Austausch mit anderen Diensten. Dabei ist das Land seit Jahren eine Islamisten-Hochburg. Rund 500 Belgier schlossen sich dem IS an. Doch erst nach den Attentaten von Paris wurde der Blick entschieden auf den Brüsseler Stadtteil Molenbeek gelenkt, wo die Islamisten ihre Straftaten vorbereiteten. Und auch zuletzt passierten Fehler: Eine Polizeistation in Mechelen versäumte es schon vor drei Monaten, Informationen über Abdeslam nach Brüssel weiter zu reichen. Und nachdem Abdeslam festgenommen worden war, verhörte die Polizei ihn zunächst nur eine Stunde lang. Außerdem hatte das türkische Außenministerium die niederländische Botschaft am 14. Juli 2015 über die Ausreise von Ibrahim el-Bakraoui per Linienflug nach Amsterdam informiert. „Sehr dringend“, hieß es. Allerdings kontern die belgischen Behörden nun: Die Warnung sei erst gekommen, als er längst gelandet war.

Hängen die Anschlägen von Brüssel und Paris zusammen?

Die wichtigste Verbindung bleibt der festgenommene Abdeslam, der ein Drahtzieher der Pariser Anschläge war und auch den Bombenbastler Laachraoui anwarb. In Frankreich hat die Polizei gestern „fortgeschrittene Vorbereitungen für einen Anschlag durchkreuzt und einen Mann verhaftet“. Allerdings gebe es keine Hinweise auf Zusammenhänge zum Brüssel-Attentat.

Warum schlugen die IS-Terroristen gerade jetzt zu?

Darüber kann man nur spekulieren, die Täter sind entweder tot oder auf der Flucht. Ein „Testament“, das einer von ihnen hinterließ, lässt vermuten, dass der Fahndungsdruck so groß war, dass sie nicht länger warten wollten.

Wie groß ist die Gefahr nach Brüssel?

Sie ist groß, weil Verdächtige noch auf der Flucht sind. Sie könnten erneut zuschlagen, weil sie sich in die Enge getrieben fühlen. Besonders sensibel: Die Gruppe der Attentäter spähte offenbar auch einen belgischen Nuklearexperten aus. Das nährt den Verdacht: Die Attentäter hatten auch Atomkraftwerke im Visier.

Welche Strategie verfolgt der IS?

Der IS verfolgt mehrere Strategien: Aufbau eines Staates in Nahost, Kampf gegen die „Ungläubigen“ in der Welt – und schlicht Terror. Experten erkennen zwei Muster: einerseits der „einsame Wolf“, der sich unabhängig radikalisiert. Andererseits der komplexe Angriff von sogenannten „Hit Teams“ – organisierte Selbstmord-Kommandos. Die Angriffe von Paris, aber auch in Brüssel deuten darauf hin, dass die Strategie der „Hit Teams“ bei den Terroristen an Bedeutung gewinnt. Netzwerke von Islamisten organisieren sich in europäischen Hauptstädten, meist angeführt von einem Drahtzieher, der Kontakt halten kann zu Anführern des IS in Syrien. Der IS hat ein ausgeklügeltes Netzwerk zu organisierten Kriminellen. Sie helfen bei der Beschaffung von Waffen oder gefälschten Papieren. Zudem nutzen IS-Anhänger verschlüsselte Kommunikation etwa über Handy-Apps oder Chaträume bei Computerspielen.

Was droht bei Großveranstaltungen wie der Fußball-EM im Sommer?

Abgesagt wird die EM nicht. „Das wäre eine Niederlage, damit würde man den Terroristen einen Sieg geben“, beteuert der französische Premier Manuel Valls. In einem Turnier kann man kaum Spiele verschieben. Bei Gefahr in Verzug können Partien vereinzelt vor leeren Rängen ausgetragen werden. Die Sicherheitsvorkehrungen sind groß. Die größte Gefahr droht außerhalb der Stadien: in den Fanmeilen oder im Nahverkehr.

Gelingt es Europa, sich besser zu rüsten?

Terroristen agieren grenzüberschreitend. EU-Innenminister plädieren nun wiederholt für eine bessere Zusammenarbeit. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hob hervor, dass sich an einem Informationsaustausch bisher nur fünf oder sechs EU-Staaten beteiligen. Terror-Experte Neumann bringt die fatale Haltung auf den Punkt: „Jeder will Informationen der anderen, aber keine möchte Informationen teilen.“ Bis Mitte des Jahres solle eine Datenplattform zur Terrorismusbekämpfung in Europa entstehen. Erforderlich sei ein „Ein- und Ausreiseregister“ mit dem Ziel, Bürger aus Ländern außerhalb der EU beim Eintreffen und Verlassen des Schengen-Raums zu erfassen. Eine Hürde dabei ist, dass die Behörden gemeinsame Standards definieren müssen: Ab wann gilt ein Islamist als „Gefährder“?

KOMMENTAR

Online-Stimmen unserer Leser

Auf der Flucht: Die Flüchtlinge sind genau vor diesen Fanatikern auf der Flucht, das ist zynisch und verlogen denen Terrorabsichten zu unterstellen. Die Attentäter von Paris und Brüssel haben mehrfach Grenzen überquert und sind dabei kontrolliert worden – ohne Konsequenzen. Fra Kepetry

Angst vor der schmutzigen Bombe: Paris, Brüssel ... who’s next? Irgendwann werden die auch über so eine „Schmutzige Bombe“ verfügen und dann sprechen wir von gänzlich anderen Opferzahlen! Kaputt Nick

Mehr Verständnis für Flüchtlinge: Jene, die vor diesem Terror fliehen, sind die, die wir aufnehmen. Sollten wir nicht grade jetzt – da der Terror in Europa zum Alltag zu werden droht – mehr Verständnis für diese Menschen haben? Nein, stattdessen hetzen wir weiter. Schließlich haben wir ja als Deutsche ein Geburtsrecht auf Wohlstand und Ignoranz. Andrea

Keine Sicherheit: Selbstverständlich habe ich, noch, Vertrauen in unsere Sicherheitskräfte. Aber dass diese uns vor „dem“ Anschlag schützen können, ist reines Wunschdenken. Evtl. kann das Risiko etwas reduziert werden, aber „die“ Sicherheit gibt es nicht. SicherIstSicher

Vernetzte Terrorzellen: Das waren vernetzte Terrorzellen aus Frankreich und Belgien. Anzunehmen, dass es noch „Überlebende“ gibt, und technisch gesehen könnten die sehr wohl nach Deutschland einreisen, sie werden aber wegen der Ortskenntnisse aber eher in Frankreich oder Belgien zuschlagen. Eine Vernetzung nach Deutschland ist anscheinend nicht bekannt. Gast