Brüssel. Bei Anschlägen gibt es viele Tote. Das ganze Land ist schockiert.

Brüssel

Güldener Sonumut hat Glück gehabt. Der Journalist, Korrespondent des türkischen Senders ntv, holt an diesem Dienstag eine Verwandte vom Flughafen Zaventem ab. Als er kurz nach acht Uhr gerade wieder aus dem Parkhaus heraus ist und Richtung Stadt steuert, kracht es in seinem Rücken. Zwei heftige Explosionen erschüttern das Hauptgebäude. Sonumut bleibt unversehrt, ein paar Minuten Vorsprung haben ihm das Leben gerettet. Dutzende andere hat es getroffen, und mit ihnen das ganze Land. Der Ernstfall ist da. Das kleine Königreich Belgien zahlt einen schrecklichen Preis für seine Unfähigkeit, den Terror in seiner Mitte unter Kontrolle zu halten. „Ein schwarzer Tag“, sagt Premier Charles Michel.

„Belgien ist von einem blindwütigen, gewalttätigen und feigen Anschlag getroffen worden.“
„Belgien ist von einem blindwütigen, gewalttätigen und feigen Anschlag getroffen worden.“ © Charles Michel, belgischer Premierminister

Auf dem Handy eines Passagiers ist festgehalten, wie es in der Abflughalle des Terminal nach den Explosionen aussieht, eine davon ausgelöst durch einen Selbstmord-Attentäter: Leblose, zum Teil zerfetzte Körper auf dem Boden, inmitten herabgestürzter Deckenplatten, eine apathische Mutter mit ihrem Kind im Arm, neben Blutlachen, schreiende Menschen, die in Rauch und dichtem Staub den schnellsten Fluchtweg nach draußen suchen. Die Fassade des Flughafengebäudes ist zerstört.

Eine halbe Stunde später schlagen die Attentäter ein zweites Mal zu: Mitten im Europa-Viertel detoniert ein weiterer Sprengsatz. Tatort ist die U-Bahnstation Maelbeek, nur hundert Meter entfernt vom Berlaymont, dem Gebäude, wo EU-Kommissionschef Juncker und sein Team ihren Arbeitsplatz haben. Ein Bautrupp hat seinen Container direkt neben dem Metro-Bahnhof. Ein Arbeiter mit Helm und gelber Weste hat die Explosion erlebt: „Es war eine gewaltige Detonation, die Scheiben flogen aus den Türen ...“ Verletzte? „Viele!“ Tote? „Mit Sicherheit.“ Er habe einen Körper gesehen, sagt der Mann auf flämisch, der war „in twee“ – in zwei Stücke gerissen.

Rauch quillt aus den geborstenen Schwingtüren des Bahnhofs, Menschen fliehen in Panik, einige schleppen Verletzte nach draußen auf den Bürgersteig. Hier herrscht um diese Stunde Hochbetrieb, ein Gutteil des EU-Personals steigt auf dem Weg zum Büro in Maelbeek aus. Die Polizei ist in wenigen Minuten da, hat aber große Mühe, im Gewühl aus rennenden Menschen, Autokolonnen, Schaulustigen und den ersten Kamerateams die Übersicht zu behalten. Nur widerwillig macht der Berufsverkehr eine Schneise für die Notarzt-Wagen frei, die sich mit Sirenengeheul den Weg zum Eingang der U-Bahn bahnen.

Erst nach einer halben Stunde gelingt es der Polizei, den Tatort abzusperren, der Abtransport der Verletzten kommt in Gang. Mehrere müssen zunächst auf dem Trottoir versorgt werden. Eine verstörte Frau versucht vergeblich, durch die Polizeisperre vorzudringen. „Dahinten liegt meine Freundin! Sie ist verletzt und hat mich über Handy angerufen. Aber ich kann nicht hin, die lassen mich nicht durch!“ Ein Polizist versucht, die aufgelöste Frau zu beruhigen: „Die Sanitäter werden sich um Ihre Freundin kümmern...“

Ulrike aus Dresden, Angestellte bei der EU-Kommission, ist mit dem Schrecken davon gekommen. Sie saß im ersten Wagen, als weiter hinten der Sprengsatz explodierte. „Ich wusste nicht, wie das ist, aber ich wusste sofort: Das ist eine Bombe!“ Sie sei durch die Rauchschwaden über einen Seiteneingang ins Freie gekommen, wo Verletzte auf dem Bürgersteig lagen und saßen.

Der Metro-Bahnhof liegt auf der unteren Ebene einer Überführung. Oben verläuft die Rue de la Loi, die sechsspurige Hauptachse von Osten in die Stadt. Dort stehen die großen Burgen der EU: Kommission, Ministerrat, der fast fertige Tempel des Europäischen Rates, wie die Gipfel-Versammlung der Staats- und Regierungschefs offiziell heißt, daneben das „Lex“-Gebäude der Dolmetscher und Übersetzer. Wenn Merkel und Co. tagen, wird die Station Maelbeek geschlossen – die Attentäter haben das Herz der EU getroffen.

Ein paar hundert Meter weiter Richtung Innenstadt hat Premierminister Charles Michel seinen Amtssitz. Der Nationale Sicherheitsrat tagt, kurz vor zwölf Uhr Mittag gibt Michel, begleitet von mehreren seiner Ministern, eine erste Pressekonferenz. „Belgien ist von einem blindwütigen, gewalttätigen und feigen Anschlag getroffen worden“, sagt der Premier. Es handle sich um „eine schwere Prüfung“ für das Land. Wo man die Täter zu suchen habe, darüber mag der Regierungschef zu diesem Zeitpunkt nicht spekulieren. „Wir sind in einer akuten Notsituation, als erstes müssen wir uns um die Opfer kümmern.“

Seit die Spur der Pariser Attentäter im November ins nördliche Nachbarland führte, hatte Belgien sich gegen das Risiko gewappnet, nächstes Ziel islamistischer Bombenleger zu werden. Brüssel, die Hauptstadt, verordnete sich für mehrere Tage die höchste Alarmstufe vier, das öffentliche Leben kam weitgehend zum Stillstand. Auch danach und bis heute sind Polizei und Militär allgegenwärtig. Doppelposten mit Kalaschnikow gehören seither zum Stadtbild. Ungemütlich, aber wirksam, so schien es, obwohl es ein Vierteljahr dauerte, bis Salah Abdeslam, der flüchtige Hauptverdächtige der Pariser Attentate, gefasst werden konnte. Zaventem, hieß es, sei vermutlich derzeit der sicherste Flughafen Europas. Der schwarze Dienstag zertrümmert diese Illusion.

Unmittelbar nach den Attentaten wird der Alarmzustand wieder auf Stufe vier heraufgesetzt, diesmal für das gesamte Land. Der Flugverkehr wird umgeleitet nach Antwerpen, Lüttich und Charleroi. Zaventem stellt bis mindestens Mittwochmorgen den Betrieb ein. Busse und Bahnen in der Hauptstadt bleiben in den Depots. Längere Straßentunnel sind geschlossen. An den Atomkraftwerken Doel bei Antwerpen und Tihange unfern von Lüttich werden die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt.

Die Universitäten schließen, und auch die Schulen in der weiteren Umgebung der beiden Tatorte machen vorsichtshalber am Mittag zu, begleitet von Aufregung und Konfusion. Ein Trupp Schüler macht sich auf den Weg nach Hause – zu Fuß. Haben sie keine Angst? „Erst ein bisschen, aber jetzt nicht mehr – ist ja überall Polizei“, sagt der 16-jährige Pierre.