Braunschweig. Niedersachsen hält sich bei Abschiebungen zurück. Abgelehnte werden oft geduldet, etwa, weil sie krank sind.

Unser Leser Kevin Maurice Michel fragt auf unseren Facebook-Seiten:

Warum wurden denn nicht alle abgelehnten Asylbewerber abgeschoben?

Viele abgelehnte Asylbewerber werden nicht sofort abgeschoben. Ausländerbehörden erteilen den Ausreisepflichtigen eine Duldung, wenn sie nicht über Papiere verfügen oder krank sind.
Viele abgelehnte Asylbewerber werden nicht sofort abgeschoben. Ausländerbehörden erteilen den Ausreisepflichtigen eine Duldung, wenn sie nicht über Papiere verfügen oder krank sind.

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Bei der Regierungsübernahme Anfang 2013 hatte sich die rot-grüne Landesregierung ein Ziel gesetzt: Sie wollte eine humanitäre Ausländerpolitik verfolgen. Das galt besonders als Abgrenzung von der schwarz-gelben Vorgängerregierung, die mit Innenminister Uwe Schünemann (CDU) einen echten Hardliner in ihren Reihen hatte.

An ihrem Ziel hält Rot-Grün auch in Zeiten des stark in den Fokus gerückten Flüchtlingsthemas fest. Diese Maßgabe drückt sich auch bei den Zahlen der Abschiebungen aus. Der Zuwachs von

25 Prozent im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr war unter den Ländern sehr moderat. Das CSU-regierte Bayern verzeichnete mehr als viermal so viele Abschiebungen, das CDU-geführte Hessen mehr als dreimal so viel. Und auch Bundesländer mit einer rot-grünen oder grün-roten Landesregierung wie in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg schoben deutlich mehr ab (siehe Grafik).

Niedersachsen setzt auf andere Schwerpunkte, um die Lage in den Griff zu bekommen. Matthias Eichler, Sprecher des Landesinnenministeriums, sagt: „Freiwillige Ausreisen zu unterstützen, war, ist und bleibt das oberste Ziel der niedersächsischen Landesregierung.“ Laut Ministerium waren dies 5600 im vergangenen Jahr. Darunter zählen nicht nur Abgelehnte, sondern auch Flüchtlinge, die gar keinen Asylantrag gestellt hatten, und Asylbewerber, deren Verfahren noch lief. Vereinzelt waren unter den Freiwilligen auch anerkannte Asylbewerber. Minister Boris Pistorius (SPD) wertete die Zahl der Freiwilligen so: „Wir werden mit Hochdruck daran arbeiten, diese schon sehr gute Quote noch weiter zu erhöhen.“

In der Tat liegt Niedersachsen mit diesem Instrument im Gegensatz zu den Abschiebungen bundesweit mit vorne. 2015 reisten aus ganz Deutschland 40 000 Asylbewerber freiwillig aus.

CDU: Grüne setzen die SPD unter Druck

Für die CDU ist dieses Instrument aber nicht planbar genug. Die innenpolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Angelika Jahns, fordert mehr Abschiebungen. „Rot-Grün muss viel konsequenter vorgehen“, sagt die Wolfsburgerin. Und: „Je mehr Abschiebungen es gibt, desto mehr Menschen reisen zusätzlich freiwillig aus.“

Es gebe Kapazitätsgrenzen in den Flüchtlings-Unterkünften im Land. „Die, die in ihren Heimatländern um Leib und Leben fürchten, für die wollen wir da sein. Diejenigen, deren Antrag abgelehnt wurde, müssen schneller zurückgeführt werden als bisher.“

Die Zahl der Abschiebungen hat sich ja – wie erwähnt – in Niedersachsen leicht erhöht. Von einer härteren Gangart will Ministeriumssprecher Eichler aufgrund des humanitären Ansatzes aber nichts wissen. Gleichwohl habe Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zum Jahreswechsel im Landtag angekündigt, dass auch Niedersachsen dieses Jahr mit Blick auf die enorm hohen Zugangszahlen konsequenter abschieben wird als bisher.

Auf ein Niveau wie in Bayern oder Hessen wird man nie und nimmer kommen. Das schätzt Jahns von der CDU. Sie nimmt Ministerpräsident Weil und Innenminister Pistorius in die Pflicht: „Die beiden zeigen dauernd mit dem Finger nach Berlin. Selbst der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, greift härter durch.“ Für Niedersachsen gelte, dass der grüne Koalitionspartner die SPD in der Flüchtlingsfrage unter Druck setze, meint Jahns. „Pistorius wäre ohne die Grünen sicher viel pragmatischer, nimmt aber Rücksicht.“

Das Innenministerium hält einen Vergleich zu den anderen Bundesländern indes nicht für statthaft. Sprecher Eichler verweist auf eine unterschiedliche Situation. Im Vergleich zu Bayern hätten in Niedersachsen etwa viel mehr Flüchtlinge auf die Kommunen statt in zentralen Unterkünften verteilt werden müssen. Von dort sei eine Abschiebung schwieriger zu stemmen. Tatsächlich gibt es weitere Unterschiede. So gab es in Hessen zum Beispiel mehr Flüchtlinge aus den Balkanländern. Diese hat Hessen im Gegensatz zu Niedersachsen aber konsequenter abgeschoben.

Die Wolfsburgerin Jahns erkennt daher einen Widerspruch im Regierungshandeln: „Weil und Pistorius haben die Asylpakete des Bundes mit ausgehandelt, tun sich aber schwer, sie in Niedersachsen umzusetzen.“

Seit Wochen sind auch die Zahlen wegen des Flüchtlingsstopps in Mazedonien und Österreich in Niedersachsen stark rückläufig. Jahns fordert trotz des Flüchtlings-Pakts mit der Türkei mehr Konsequenz beim Rückführen abgelehnter Asylbewerber. Sie sagt: „Rot-Grün pflegt ein Gutmenschentum. Das ist in der angespannten Situation aber nicht angebracht.“ Gutmenschen? Das sind Vokabeln, die man sonst von der AfD kennt. Die Anstrengungen bei den Abschiebungen sind laut Jahns aber in ganz Deutschland noch ausbaufähig. „Da müssen auch viele andere Länder noch nachziehen“, sagt sie.

Das Asylpaket II soll die Duldung von Abgelehnten minimieren

Ganz so einfach ist es allerdings auch wieder nicht, darauf zielt auch die Frage unseres Lesers ab. Bundesweit haben sich die Abschiebungen 2015 im Vergleich zum Vorjahr (knappe 11 000) fast verdoppelt. Auch daran gemessen, dass es Ende 2014 etwa 150 000 Ausreisepflichtige gab, und 2015 etwa 200 000, ist die bundesweite Verdoppelung der Abschiebungen beträchtlich. Ganz anders sieht es natürlich aus, wenn man die Zahl der neu eingereisten Flüchtlinge heranzieht. Denn die hat sich von 2014 auf 2015 auf etwa eine Million vervierfacht. Die Registrierung und Bearbeitung der Anträge dauern.

Außerdem erhält ein abgelehnter Asylbewerber zwar eine Ausreiseaufforderung. Dazu kommt es aber oft nicht sofort: Krankheiten, fehlende Papiere aus dem Herkunftsland, eine geplante Ehe oder die Geburt von Kindern können zu einer Duldung führen. Die häufigsten Gründe sind Krankheiten oder fehlende Ausweise.

Nicht nur bei den Abschiebungen, auch hier gibt es bundesweit große Unterschiede. In Sachsen werden lediglich 60 Prozent der abgelehnten Asylbewerber als geduldet eingestuft, in Bayern ebenso, in Niedersachsen sind es mehr als 80 Prozent, in Bremen gar knappe 90 Prozent. Kira Gehrmann, Sprecherin des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), sagt: „Die Duldung kann sich über Jahre erstrecken.“ Bundesweit haben drei von vier Ausreisepflichtigen eine Duldung.

Innenpolitiker glauben, dass das vor wenigen Tagen in Kraft getretene Asylpaket II die Duldung erheblich einschränken wird. Künftig sollen nur noch lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebungen verschlechtern würden, für eine Duldung ausschlaggebend sein. Eine Abschiebung kann auch dann durchgeführt werden, wenn die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht gleichwertig mit der Versorgung in Deutschland ist.