Berlin. Ankara wird für die Europäische Union und die Nato immer mehr zum Risiko. Das erschwert eine Lösung in der Flüchtlingskrise.

Die Kurdengebiete

Es war die große Stunde der Schuldzuweisungen und Verschwörungen. Der schwere Bombenanschlag in Ankara, bei dem am Mittwochabend mindestens 28 Menschen getötet wurden, geht nach Erkenntnissen der türkischen Ermittler auf das Konto der verbotenen kurdischen PKK und ihrer syrischen Schwesterorganisationen YPG.

Die Miliz ist der militärische Arm der syrischen Kurden-Partei PYD, die der PKK nahe steht. Kaum waren die Untersuchungen des Anschlags vom Mittwochabend angelaufen, gab es eine weitere Bombenexplosion. Bei einer Attacke auf einen Armeekonvoi im Südosten des Landes nahe Diyarbakir wurden gestern mindestens sechs Soldaten getötet.

Am Mittwochabend habe der syrische Staatsbürger Salih Necer das mit Sprengstoff beladene Fahrzeug gesteuert, erklärte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Donnerstag. Die Autobombe explodierte neben einem Konvoi von mehreren Bussen der türkischen Streitkräfte. Der 23-jährige Mann, der sich laut Davutoglu aus Syrien „in die Türkei eingeschlichen“ und „direkte Verbindungen“ zur YPG hatte, wurde bei der Explosion getötet. Er soll 2014 als Flüchtling getarnt in die Türkei gekommen sein. Hinter beiden Attentaten vermutet die Regierung die PKK.

Sowohl die PKK als auch die YPG wiesen eine direkte Beteiligung an den Attacken zurück. Der PKK-Kommandeur Cemil Bayik räumte allerdings ein: „Es könnte ein Vergeltungsschlag für die Massaker in Kurdistan gewesen sein.“ Ein Hinweis auf die seit Monaten andauernde und mit brutaler Härte durchgeführte Militär-Offensive der Türken im Südosten des Landes.

Die Anschläge passen ins Muster der PKK. Schon in der Vergangenheit hatten die PKK und die aus ihr hervorgegangenen Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) Terroranschläge auf Polizei- und Armeekonvois verübt. Erst vor wenigen Wochen drohte die TAK, sie werde auf die Armeeoffensive mit einer „neuen Kampfinitiative“ antworten. Die Terrorgruppe warnte: „Jede Institution und Einrichtung des Staates ist ein Ziel für uns, unser Aktionsbereich umfasst die gesamte Türkei.“

Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte massive Vergeltungsangriffe an. Und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu machte gestern eine weitere Front auf: „Die YPG ist eine Marionette des syrischen Regimes, und das syrische Regime ist direkt verantwortlich für diesen Anschlag. Wir behalten uns das Recht vor, jede Art von Maßnahme gegen das syrische Regime zu treffen.“

Ankara mauert sich zunehmend in ein fundamentalistisches Freund-Feind-Denken ein. Gegner sind die Kurden im eigenen Land – vor allem die PKK und deren Ableger in Syrien und im Nordirak, die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), ferner Syrien und dessen Schutzmacht Russland sowie der schiitische Mullah-Staat Iran.

Die Türkei begibt sich in eine Spirale aus Offensive, Vergeltung und Eskalation. Es kommt zu einer weiteren Ausdehnung der Kampfzone. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dem Nato-Partner fast reflexhaft die deutsche Solidarität im Anti-Terror-Kampf zugesichert. Das Risiko, dass die westliche Militär-Allianz eines Tages Teil des türkischen Konflikt-Szenarios wird, steigt.

Vor diesem Hintergrund ist die Türkei ein höchst instabiler Partner. Das Land befindet sich in einem Sechs-Fronten-Krieg.

Front 1: Die Kurden in der Türkei

Bis zum vergangenen Sommer hatte alles danach ausgesehen, als ob Erdogan einen historischen Ausgleich mit der PKK anstreben würde. Doch dann vermasselte die pro-kurdische Partei HDP der islamisch-konservativen AKP bei der Parlamentswahl im Juni die absolute Mehrheit. Erdogans Projekt einer Präsidialdemokratie mit weitreichenden Befugnissen war damit zunächst auf Eis gelegt.

Für den machtbewussten Staatschef war dies ein bitterer Rückschlag. Er ließ daraufhin seine Muskeln spielen und bombardierte kurdische Gebiete im Südosten des Landes – unter dem Vorwand, gegen Terrorkommandos der PKK vorzugehen. Die PKK, die 2013 eine Waffenruhe ausgerufen hatte, rächte sich mit Anschlägen gegen türkische Soldaten und Polizisten.

Front 2: Die Kurden in Syrien

Die YPG-Milizen haben bisher die größten Erfolge gegen den IS in Syrien erzielt. Die USA liefern Waffen an die YPG, einen der wichtigsten Bundesgenossen im Kampf gegen die Dschihadisten. Allerdings haben PYD und YPG auch mit den Einheiten des syrischen Machthabers Baschar al-Assad paktiert. Das bringt die Türkei auf die Palme. Seit einer Woche fliegt Ankara Luftangriffe auf YPG-Stellungen in Nordsyrien und greift diese mit Artilleriebeschuss über die türkisch-syrische Grenze hinweg an. Damit brüskiert Erdogan die Amerikaner, die auf die YPG bauen.

Front 3: Die Kurden im Nordirak

Die türkische Luftwaffe bombardiert immer wieder Stellungen der PKK im Nordirak. Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi hat die Angriffe scharf kritisiert.

Front 4: Der IS

Von 2011 bis 2015 fuhr die Türkei einen Kuschelkurs gegenüber dem IS, es gab eine Art Nichtangriffspakt. Die Terrormiliz war Erdogans Werkzeug im Kampf gegen die Truppen des verhassten Assad-Regimes. Seit dem blutigen Anschlag am 20. Juli 2015, den Ankara dem IS zuschrieb, bekämpft die Türkei die Islamisten. Diese revanchierten sich mit einer Serie von Terrorattacken, zuletzt im Januar 2016 auf eine deutsche Touristengruppe in Istanbul.

Front 5: Syrien

Die Türkei und Saudi-Arabien sind die größten Feinde Assads. Sie unterstützen zum Teil radikalsunnitische Rebellen wie die Gruppe „Ahrar al-Scham“ im Kampf gegen die syrische Armee. Beide Länder haben signalisiert, Bodentruppen nach Syrien zu schicken, wenn die US-geführte Anti-IS-Koalition sich ebenfalls dazu entschließen sollte.

Front 6: Russland

KURDISCHE ORGANISATIONEN IN SYRIEN UND DER TÜRKEI

Die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) kontrollieren in Nordsyrien den größten Teil der Grenze zur Türkei. Im Nordwesten sowie im Norden und Nordosten haben die Kurden eine Selbstverwaltung errichtet. Die YPG-Einheiten sind im Kampf gegen den IS der wichtigste Partner der USA und des Westens. Bei der YPG handelt es sich um den bewaffneten Arm der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Diese wiederum ist der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Die Arbeiterpartei PKK wird neben der Türkei auch von den USA und Europa als Terrororganisation eingestuft. Ihr Konflikt mit der türkischen Regierung dauert schon mehr als 30 Jahre an. Ihr Ziel ist ein Autonomiegebiet im Südosten der Türkei. dpa