Wolfsburg. Eine Frau aus Wolfsburg klagt ihren aus Algerien stammenden Ex-Mann an, den Jungen vor anderthalb Jahren nach Syrien gebracht zu haben.

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Yasin aus Wolfsburg ist heute neun Jahre alt. Vor eineinhalb Jahren wurde der Junge vom Vater, einem Algerier, nach Syrien entführt. Dort schloss sich der heute 38-Jährige dem Islamischen Staat (IS) an, so wie es rund zwei Dutzend weitere Männer aus der VW-Stadt getan haben. Zurück blieb Yasins Mutter. Um ihr Kind zurückzubekommen, versuchte die 36-Jährige sogar, ins IS-Gebiet zu gelangen.

Erstmals wendet sich die Frau an die Öffentlichkeit. Sie hat die Hoffnung, dass Yasins Vater in Syrien diesen Artikel liest und das Kind zu ihr zurücklässt. Im Gespräch mit Hendrik Rasehorn berichtet die Mutter vom Verlust des Sohnes und über Rückschläge, die sie bei der Suche nach ihm erlitten hat. Die Mutter bittet um die Wahrung ihrer Anonymität.

Sie haben mit Yasin das letzte Mal vergangenen November gesprochen. Gibt es einen Tag, an dem Sie nicht an Ihr Kind denken?

In Gedanken bin ich jeden Tag, ja, jede Minute bei ihm. Meine kleine Nichte hat ein Video mit Aufnahmen von ihm zusammengeschnitten, das ist schön. Natürlich denke ich an seinem Geburtstag noch mehr als sonst an Yasin – oder an Weihnachten, wenn die ganze Familie mit allen Kindern zusammenkommt. Die Kleineren fragen mich immer, wann ich Yasin endlich mitbringe, sie wollen mit ihm spielen. Die älteren Kinder wissen, was los ist. Yasin fehlt überall.

Wissen Sie, wo sich Ihr Sohn derzeit aufhält?

Nicht genau. In einem Telefonat sagte mir mein Ex-Mann, dass er in Syrien in Ar-Raqqa (Anmerkung: die Hauptstadt des IS) ist.

Wie nah lassen Sie Nachrichten über Syrien an sich heran?

Wenn ich lese, dass der IS bombardiert wird, insbesondere, wenn es dabei um Raqqa geht, bekomme ich Panik. Ich habe Angst, dass das dort geschehen könnte, wo Yasin sich gerade aufhält. Wenn tatsächlich Bodentruppen in den Islamischen Staat einmarschieren sollten, was machen die dann mit meinem Sohn? Es steht ihm nicht auf der Stirn geschrieben, dass er in Deutschland eine Mutter hat, die sich um ihn große Sorgen macht und jeden Tag auf ein Lebenszeichen von ihm wartet.

Sollten Sie die Gewissheit bekommen, dass Ihr Sohn tot ist – könnten Sie das verkraften?

Das ist eine schwierige Frage. Bis heute habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Yasin noch lebt und mein Ex-Mann mir meinen Sohn zurückgibt – auch wenn ich in manchen Situationen befürchtete, das Kind könnte tatsächlich tot sein. Daran musste ich vor allem in den ersten acht Monaten nach seiner Entführung oft denken, in denen ich überhaupt keine Informationen über seinen Verbleib hatte. Wenn Yasin tot sein sollte, muss ich damit fertig werden. So hart das jetzt klingt, aber das ist das Schicksal. Dagegen kann niemand was machen, außer hoffen.

Möchten Sie erzählen, wie Sie Ihren Ex-Mann kennengelernt haben?

Es war die erste große Liebe. Ich war 18, er 20. Es hat damals einfach gepasst. Wir wollten eine Familie gründen. Eigentlich ist er ein herzensguter Mensch.

Dass Ihr Ex-Mann Algerier ist und als Asylbewerber nach Deutschland gekommen war, stellte für Sie kein Problem dar?

Nein. Im Jahr 2000 heirateten wir in Algerien. Mein Ex-Mann wollte mich noch früher heiraten, jedoch steckte ich damals mitten in der Ausbildung. Ich wollte ihn immer motivieren, dass er auch eine beginnt. Doch er wollte lieber schnell viel Geld verdienen.

Warum kam er nach Wolfsburg?

Der Traum vieler junger Algerier ist Deutschland. Sein Vater hat es ihm ermöglicht, hierherzukommen. Mein Ex-Mann kaufte Autos in Deutschland, die er nach Algerien überführte. Deswegen war er ständig unterwegs. Viel hatte ich nicht von ihm, und der Erlös aus den Autoverkäufen blieb bei seinen Angehörigen in Algerien. Das war das größte Problem in unserer Beziehung: Ich wollte einfach, dass er einer geregelten, normalen Arbeit nachgeht.

Welche Rolle spielte Religion?

Als wir uns kennenlernten, hat er nie gebetet und trank auch mal Alkohol. Erst eineinhalb Jahre später, nachdem wir ein Paar waren, begann er mit dem Beten und trank seitdem keinen Schluck Alkohol mehr. Auf sein Äußeres legte er viel Wert. Er ging ins Fitnessstudio und liebte es, Parfüm aufzutragen. 2006 veränderte er sich: Das Beten nahm er ernster, er wurde mir gegenüber abweisend und benutzte nur Parfüm ohne Alkohol. Doch nach zwei Monaten war wieder alles wie vorher. Ich tat das als Phase von ihm ab.

Sind Sie Konvertitin?

Ich wurde von meinen Eltern christlich erzogen, bin aber nicht in der Kirche. Mein Ex-Mann sprach mich mal an, ob ich zum Islam konvertieren möchte, doch er konnte mich nie überzeugen. Im Gegenteil mochte er es, Weihnachten mit meiner Familie zu feiern.

Wie war das bei Yasin – auf welche Religion hatten sie beide sich bei dem Kind verständigt?

Das war nie ein großes Thema zwischen mir und meinem Ex-Mann. Er durfte Yasin in die Moschee mitnehmen.

Woran scheiterte Ihre Ehe?

2005 machte sich mein Ex-Mann mit einem Internetcafé selbständig. Das lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, und nach zwei Jahren verlor er die Lust daran. Von da an hatten wir immer häufiger Streit. Jeden Tag musste er – sei es nur für eine halbe Stunde – in die Stadt. Wenn ich ihn bat, ob wir wenigstens an einem Tag am Wochenende nur was mit der Familie unternehmen wollten, lehnte er das meistens ab. „Ich fühle mich wie im Knast“, meinte er einmal. Verantwortung für das Kind wollte er kaum übernehmen. Ich wollte die Ehe nicht so einfach aufgeben, doch wir hatten uns auseinandergelebt. 2008 habe ich mich von ihm getrennt und 2013 die Scheidung beantragt. Im November 2014 wurde die Scheidung rechtskräftig.

Den Familiennamen Ihres Ex-Mannes tragen Sie bis heute. Warum?

Weil mein Sohn auch so heißt. Solange mein Kind klein ist und es keinen anderen Grund gibt, war der Name zweitrangig.

Wie verkraftete Ihr Ex-Mann die Trennung?

Weil Yasin nicht mehr zu ihm wollte, warf er mir vor, ich würde den Jungen manipulieren – was nicht stimmt. Als wir noch zusammen waren, wurde er mir gegenüber nie handgreiflich. Nach der Trennung wurde sein Verhalten aggressiver. Wenn ihm was nicht passte, beschimpfte er mich, oder er spuckte mich an, auch vor unserem Kind. Ich habe ihn schließlich nicht mehr ins Haus gelassen.

Wissen Sie, ab wann er sich für Salafismus und den IS interessierte?

Nach seiner Ausreise habe ich von der Polizei erfahren, dass mein Ex-Mann seit 2013 in Kontakt zu Salafisten in Frankfurt stand. Zu dieser Zeit hatte er sich auch von alten Freunden distanziert. Er war in Wolfsburg auch oft in der Ditib-Moschee, wo sich viele trafen, die später nach Syrien ausgereist sind. Das war eine Clique von jungen Tunesiern, darunter Bilel H. (Anmerkung der Redaktion: ein Wolfsburger IS-Kämpfer, der wohl im Frühjahr 2015 in Syrien getötet wurde) und Mouhannid M. (Anmerkung: wohl einer der wenigen noch lebenden Wolfsburger IS-Kämpfer, soll in Raqqa sein).

Als Ihr Ex-Mann noch in Wolfsburg war, also vor der Ausreise, bemerkten Sie da Veränderungen an ihm?

Äußerlich gar nicht. Im Nachhinein erinnere ich mich aber an einen Vorfall: Mein Sohn hatte mir erzählt, Papa habe ihm ein Video gezeigt, in dem auf einen Menschen geschossen wird. Damit konfrontierte ich meinen Ex-Mann, mein Sohn war bei dem Gespräch dabei. Er schaute Yasin an und sagte: „Ich hab dir so was gezeigt? Das stimmt doch gar nicht!“ Yasin meinte: „Doch!“ Ich habe meinem Ex-Mann gesagt, hört er damit nicht auf, bekommt er das Kind nicht mehr.

Vielleicht hat er Yasin gesagt, dass er mir nicht alles erzählen soll. Er nahm ihn sonntags regelmäßig mit in die Ditib-Moschee. Zu Hause lief bei ihm immerzu arabisches Fernsehen, wo mein Sohn doch lieber Zeichentrickfilme sehen wollte. Beim Betreten der Wohnung sollte Yasin immer das arabische Gebet aufsagen. Wenn er nicht mochte, knallte mein Ex-Mann die Tür zu.

Im August 2014 fuhr Ihr Ex-Mann mit Yasin in den Urlaub nach Algerien zu seinen Eltern. Wahrscheinlich brach er von dort aus mit dem Kind nach Syrien auf. Was geschah damals?

Wie erwähnt wollte mein Sohn gar nicht mehr so gern zu seinem Papa, schon gar nicht zusammen in den Urlaub reisen. Aber mein Ex-Mann lockte Yasin mit dem Versprechen, sie würden zusammen angeln gehen. Das hatte mein Kind im Jahr davor mit seinem Onkel gemacht. Die Rückreise aus Algerien war für den 17. August geplant.

Am Tag vorher fragte ich am Telefon meinen Ex-Mann, wann sie in Wolfsburg ankommen. Er behauptete, er hätte keine Flugtickets bekommen und sie würden später fliegen. Am Abend telefonierte ich mit meinem Sohn. Yasin sagte mir, in drei Tagen käme er zurück. Danach meldete sich mein Ex-Mann nicht mehr und reagierte nicht auf Anrufe oder SMS. Am 21. August reiste er wohl mit Yasin in die Türkei und von dort aus wahrscheinlich weiter nach Syrien.

Am 24. August, das war ein Sonntagvormittag, hielt ich es nicht mehr aus und fuhr mit meiner Schwester zur Polizei nach Wolfsburg. Auf dem Weg dorthin sah ich auf sein „WhatsApp“-Profil. Dort hatte er ein Bild hochgeladen von einem Mann mit einer schwarzen Lederjacke, der ein Maschinengewehr hält. Obwohl der Kopf auf dem Bild abgeschnitten war, bin ich mir sicher, dass das auf dem Foto mein Ex-Mann war.

Konnte die Polizei Ihnen helfen?

Auf der Polizeiwache in Wolfsburg sprachen wir mit einem Beamten. Ich berichtete ihm, dass mein Sohn nicht aus Algerien zurückgekommen ist. Davon zeigte sich der Polizist unbeeindruckt, das Profilbild meines Ex-Mannes wollte er sich erst gar nicht anschauen. „Klären Sie Ihre Familienverhältnisse beim Jugendamt“, servierte der Mann mich ab, „danach können Sie wiederkommen.“ Am Montag riet mir meine Anwältin, dass ich an meinem neuen Wohnort sofort zur Polizei fahren und Anzeige erstatten soll.

Was haben Sie gedacht, als Sie dieses Profil-Foto Ihres Ex-Mannes gesehen haben?

Weil er nicht erreichbar war, hatte ich schon die ganzen Tage vorher so ein ungutes Gefühl. Aber in dieser Situation war ich schockiert. „Damit beschäftigt er sich also“, war ein erster Gedanke. Dass es bei ihm um den IS geht, wusste ich nicht. Vom Krieg in Syrien hatte ich zwar mitbekommen, doch das war zu dieser Zeit noch kein so großes Thema in den Medien wie heute. Dass zahlreiche Wolfsburger im Frühjahr und Sommer 2014 nach Syrien ausgereist waren, wusste ich gar nicht.

Zunächst habe ich mir noch eingeredet, mein Ex-Mann könnte immer noch in Algerien sein und hätte einfach den Urlaub verlängert. Er war halt unzuverlässig. Aber ich hatte eben auch immer dieses schlechte Gefühl. Danach fing ich an zu recherchieren.

Was haben Sie herausbekommen?

Ich meldete mich bei Facebook an und fand dort unter dem Namen meines Ex-Mannes sein Profil. Dort war ein Bild von einer schwarzen Flagge mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis zu sehen. Außerdem das Foto eines vermummten Jungen – möglicherweise Yasin. Die Profile von Mouhannid M. und Bilel H. habe ich auch bei Facebook entdeckt. Beide waren offensichtlich in Syrien. Auf mehreren Fotos posierte H. mit Waffen. Einige Wochen später schrieb ich sie bei Facebook an. Beide konnten oder wollten mir nicht sagen, wo sich Yasin und mein Ex-Mann aufhalten. Außerdem ging ich zur Ditib-Moschee. Die Leute dort taten so, als ob sie meinen Ex-Mann nicht kennen würden. In den Gesprächen merkte ich aber deutlich, dass sie genau wussten, um wen es geht.

Wann haben Sie das erste Lebenszeichen von Ihrem Sohn und Ihrem Ex-Mann bekommen?

Monatelang bin ich nicht weitergekommen. Ich wusste nicht, ob mein Sohn noch lebt. Die Deutsche Botschaft in Algerien erklärte mir zum Beispiel, es passiere oft, dass Kinder von einem algerischen Elternteil nicht nach Deutschland zurückgelassen werden. Deshalb beschloss ich im November 2014, zu den Eltern meines Ex-Mannes zu reisen. Dort verlor sich schließlich die Spur.

Leicht war das nicht, weil ich ein Visum – und dafür wiederum eine Einladung von der Familie meines Ex-Mannes – benötigte, die ich zunächst nicht bekam. Erst im April 2015, nachdem ich diese Einladung vorlegen konnte, durfte ich nach Algerien einreisen. Nach meiner Ankunft berichtete mir eine Schwester meines Ex-Mannes, dass er sich regelmäßig bei der Familie meldet. Vier Tage später war es so weit. Mein Ex-Mann rief abends an. Sein Vater redete mit ihm, der dann sagte: „Hier ist jemand, der dich sprechen möchte.“ Als mein Ex-Mann meine Stimme hörte, blieb er erst stumm, dann meinte er: „Mit dir habe ich gar nicht gerechnet.“

Konnten Sie mit Yasin sprechen?

Erst beim zweiten Telefonat am nächsten Morgen. Die ersten Sätze meines Sohnes lauteten: „Ich bin im Islamischen Staat. Ich habe ein Haus und einen Garten. Mir geht es besser als in Deutschland. Und alles, was du gemacht hast, kriegst du zurück.“ Das klang, als habe man ihm eine CD eingeschoben. Vermutlich stand sein Vater direkt neben ihm und hörte zu. Deshalb sprach ich ganz kindlich mit ihm. Hätte ich Yasin gesagt, dein Papa hat dich mit allem angelogen, hätte der wohl noch mehr auf ihn eingeredet.

Haben Sie noch länger mit Yasin sprechen können?

Ich habe gesagt: „Sag Papa, er soll dich zu mir lassen. Was Papa macht ist nicht richtig, und das weiß der Papa auch.“ Yasin fragte: „Wann kommst du? Was machst du in Algerien?“ Ich antwortete, ich weiß doch nicht, wo du bist, ich suche dich. Du musst noch ein bisschen warten, wir werden uns bald sehen. Papa soll dich in die Türkei bringen, habe ich ihn versucht zu trösten.

Hatten Sie den Eindruck, das Kind hat sich Ihnen entfremdet?

Ich habe gemerkt, dass mit ihm eine Art Gehirnwäsche gemacht wurde. Yasin war immer ein offenes Kind, aber am Telefon erkannte ich ihn zunächst kaum wieder, seine Stimme klang so kühl. Anfangs antwortete er nur wie ein Roboter mit „ja“ oder „nein“. Je länger wir telefonierten, umso offener wurde er mir gegenüber.

Wann kam das Gespräch darauf, dass Sie nach Syrien reisen?

Bei einem Telefonat zwei Wochen später. Ich wollte Yasin unbedingt in der Türkei treffen. Mein Ex-Mann ließ sich nicht drauf ein und stellte klar: „Wenn du ihn sehen willst, musst du hierher kommen.“ Schließlich willigte ich ein. Mein Ex-Mann sagte, wo er sich mit dem Kind aufhält, könne er mir am Telefon nicht sagen. Weiter erklärte er mir, er müsse meine Einreise anmelden, und er warnte mich davor, beim IS zu spionieren, „die kontrollieren hier alles“. Eigentlich wollte ich, dass seine Mutter und sein Bruder mitkommen, damit ich mich sicherer fühle. Darauf entgegnete mein Ex-Mann: „Wenn mein Bruder mitkommt, werden sie ihn umbringen. Du kommst alleine.“

Wie verlief diese Reise?

Mein Ex-Mann erklärte mir, ich soll von Algerien nach Istanbul fliegen. Am Donnerstag, 7. Mai, landete ich dort. Er meldete sich nicht. Weil ich auf weitere Anweisungen warten musste, blieb ich im Flughafen und schlief dort auch. Erst Sonntag telefonierten wir. Er wies mich an, eine Handy-Simkarte zu kaufen und schickte mich in ein Hotel. Dort meldeten sich nacheinander zwei Schleuser. Zwei Tage später bekam ich den Anruf: Es geht los. Ich sollte mich in ein Taxi setzen. Der Schleuser erklärte am Telefon dem Fahrer, dass er mich zu einer Busstation in Istanbul bringen sollte.

Vom Busbahnhof ging die Reise 16 Stunden über Land. Unterwegs rief der Schleuser an und wollte wissen, wo ich bin. Weil ich das nicht wusste, reichte ich das Telefon an einen Mitreisenden weiter. Der und der Schleuser unterhielten sich länger, dann bekam ich das Telefon wieder und der Schleuser sagte, dass ich gemeinsam mit dem Mann an der letzten Station aussteigen soll und es gemeinsam mit dem Taxi weitergeht. Der wollte also auch zum IS.

Was war das für ein Mann?

Ein junger Araber. Er sprach gebrochen englisch und war ganz normal gekleidet. Mir ist jedenfalls nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Später im Taxi wollte ich ihn darauf ansprechen.

Wie ging es weiter?

Die letzte Station war Sanliurfa (Anmerkung: Die Stadt im Süden der Türkei liegt 50 Kilometer von der Grenze zu Syrien und 160 Kilometer von Ar-Raqqa entfernt). Hier sollte ich aussteigen. Plötzlich wurde ich von türkischen Zivilpolizisten kontrolliert. Als ich meinen deutschen Pass zeigte, wurde ich im Polizeiauto sofort mit zur Wache genommen. Auf der Fahrt rief der Schleuser an. Ich wollte ihm noch mitteilen, dass die Reise für mich wohl vorbei ist. Aber die Polizisten ließen mich nicht mehr telefonieren.

Was passierte auf der Wache?

Gegenüber den Beamten räumte ich ein, dass ich nach Syrien will, um meinen Sohn dort rauszuholen. Die Polizei steckte mich in Abschiebehaft. Nun war ich so nahe dran, vielleicht hätte mein Ex-Mann meinen Sohn sogar in die Türkei gebracht. Ich bettelte die Beamten an, ich kann hier nicht weg. Wenigstens einmal wollte ich mit meinem Ex-Mann sprechen. Aber drei Tage später wurde ich ins Flugzeug gesetzt. Ich musste unterschreiben, dass ich in den nächsten zwei Jahren nicht in die Türkei einreisen werde. Wenn ich mich an all das zurückerinnere, ist das für mich wie in einem Film.

Wie haben Sie sich das vorgestellt: Wollten Sie nach Syrien rein, das Kind mitnehmen und wieder raus?

Ich hatte mir schon überlegt, wenn ich zum Islamischen Staat gehe, werden die mich nicht ohne Weiteres rauslassen. Aber dort wäre ich erst einmal bei meinem Sohn. Natürlich hätte ich mich an die strengen Regeln halten müssen – also in Schwarz verschleiern –, aber das wäre kein Problem für mich gewesen. In Deutschland konnte ich mit meinem Ex-Mann immer reden. Also hatte ich die Hoffnung, ihn vielleicht auch in Syrien überreden zu können, damit er über seine Kontakte mich und Yasin rausschleust. Ohne seine Hilfe hätte ich es auf eigene Faust versucht. Zwei Monate gab ich mir, in denen ich es schaffen musste, mit meinem Kind rauszukommen. Das war der Plan.

Wie denken Sie heute darüber?

Wäre ich selbst nicht in dieser Situation, in der ich bin, würde ich diese Reise wahrscheinlich ganz anders beurteilen. Keinen Moment habe ich jedoch an meinem Vorhaben gezweifelt. Bis heute meine ich, es hätte funktionieren können. Der IS hätte mich nicht umgebracht, offiziell war ich damals ja noch verheiratet. Mein Ziel war es, meinen Sohn wiederzusehen, ihn bei mir zu haben.

Als im Oktober 2015 der Staatsbesuch von Angela Merkel in der Türkei anstand, haben Sie das Büro der Kanzlerin angeschrieben. Was erhofften Sie sich davon?

Ich dachte, vielleicht könnte Frau Merkel meinen Fall in der Türkei vortragen und ein Wort für mich einlegen. Es war eine Verzweiflungstat, weil ich nicht mehr weiterwusste. Rückmeldung habe ich nie bekommen.

Ende Oktober sind sie wieder nach Algerien zur Familie Ihres Ex-Mannes gereist. Dort telefonierten Sie zum letzten Mal mit Ihrem Sohn. Wie verlief dieses Gespräch?

Mein Ex-Mann hatte zuvor seine Familie gewarnt, würde er Yasin zurück zu mir nach Deutschland lassen, könnten die Familie und er das Kind nie wieder sehen. Bei unserem letzten Gespräch hat Yasin mir anvertraut, dass er zu mir will. Ich habe ihn getröstet, dass das noch dauern wird. Mein Sohn hörte sich traurig an, auch wenn er das am Telefon nicht eingestehen wollte, wahrscheinlich, weil sein Vater neben ihm stand. Yasin berichtete mir, dass er jetzt zwei Wellensittiche besitzt. Er liebt ja Tiere, auch zu Hause in Wolfsburg hat er drei Vögel: Tweety, Piep und Piepmatz. Seinen neuen Sittichen durfte er keine Namen geben. Von meinem Ex-Mann bekam ich noch drei Fotos von Yasin zugeschickt: Auf einem ist er in einem Kampfanzug zu sehen und hebt den Zeigefinger. Das war das letzte Lebenszeichen. Seitdem hat sich mein Ex-Mann auch nicht mehr bei seiner Familie gemeldet.

Was haben Sie gedacht, als Sie dieses Foto gesehen haben?

Ehrlich gesagt hatte ich längst mit so was in der Art gerechnet. Ich vermute, dass Yasin auf dem Foto eine Waffe in der einen Hand hält, weil das Foto abgeschnitten wurde. Wenigstens wurde er nicht gezwungen, mit abgeschnittenen Köpfen zu posieren – so wie andere Kinder beim IS.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum ihr Ex-Mann Ihren Sohn mit nach Syrien genommen hat?

Einmal, als wir telefoniert haben, meinte er, der Grund sei, er hätte seinen Sohn nur noch so wenig gesehen. Dabei wurden auf dem Jugendamt in Wolfsburg die Besuchszeiten geregelt – und zwar genauso, wie er es haben wollte. Im folgenden Telefonat ein paar Tage später hat mein Ex-Mann mir gesagt, das alles wäre nicht meine Schuld. Er habe nur nicht gewollt, dass sein Kind in Europa aufwächst, auch wegen dem, was die Kinder in der Schule lernen.

Allerdings hatte er sich früher nie für Yasins Schularbeiten interessiert, das Zeugnis wollte er auch nie lesen. Er meinte außerdem, dass das, was ich in Algerien sehen würde, nicht der wahre Islam wäre und seine Eltern einen großen Fehler begangen hätten, dass sie ihn damals nach Europa ziehen ließen.

Was glauben Sie, was sich Ihr Ex-Mann vom Leben in Syrien erhofft hat, da doch dort ein brutaler Bürgerkrieg herrscht?

Ich glaube, er hat sich anlocken lassen. Sie haben ihm sicherlich was versprochen und er dachte, er könne da wieder rausgehen, wann er will. Nun mag er sich nicht die Blöße geben. Er behauptet auch, er tue das für Gott. Allerdings konnte er schon früher die Dinge so für sich hindrehen, dass sie für ihn selbst stimmig sind und er sie nicht mehr hinterfragen musste. Ich wünsche ihm, dass er sein Leben so lebt, wie er sich das vorstellt. Nur darf er das Kind da nicht mit reinziehen.

Yasin ist in Syrien, Sie warten auf ihn in Deutschland. Wie schaffen Sie es, den Alltag zu meistern?

Ich bin froh, dass ich Arbeit habe – das lenkt mich ab. Ich könnte gar nicht alleine zu Hause bleiben. Früher war ständig mein Kind um mich herum, nun ist da nur noch diese Leere. Meine Familie unterstützt mich, so gut es geht.

Wissen Ihre Kollegen, was Ihnen passiert ist?

Meinen Vorgesetzten habe ich von Anfang an erzählt, was los ist, damit sie verstehen können, warum ich manchmal unkonzentriert bin. Einige Kolleginnen, mit denen ich enger befreundet bin, wussten schon früh Bescheid. Mittlerweile wissen es, denke ich, fast alle.

Sie hatten in den vergangenen eineinhalb Jahren mit Jugendämtern, Gerichten und verschiedenen Sicherheitsbehörden zu tun. Welche Erfahrung haben Sie gemacht – konnte Ihnen geholfen werden?

Das ist ja das Kuriose, was ich bis heute nicht verstehe. Mir hat niemand so richtig einen Weg aufgezeigt, an welche Stellen ich mich wenden soll. Ich dachte, da muss doch jemand mal anrufen, was nun weiter passiert. Tatsächlich fühlte ich mich immer auf mich alleine gestellt.

Die Polizei in Deutschland hat eine Anfrage zum Verbleib meines Ex-Mannes und meines Sohnes an die algerischen Behörden gestellt. Aber da soll es nie eine Rückmeldung gegeben haben. Ein Erlebnis hatte ich noch mit dem Bundeskriminalamt. Im Februar 2015 habe ich mit einem Beamten telefoniert. Weil ich ihn nicht verstanden habe und vielleicht auch sehr aufgeregt war, unterbrach ich ihn einmal in seiner Rede. Er meinte zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, lege ich den Hörer sofort auf.“