Braunschweig. Niedersachsens Flüchtlingsrat kritisiert die Mission der Nato in der Ägäis. Politologe Menzel spricht von einem „Deal“ mit der Türkei.

Unser Leser Reinhard Scholz fragt:

Natürlich ist es schlimm, dass sich Schleuserbanden an Flüchtlingen bereichern und sie in Lebensgefahr bringen. Aber wer hilft ihnen sonst, in Sicherheit zu gelangen?

Nato Ägäis-Einsatz

Die Antwort recherchierte Dirk Breyvogel

Die Empathie, die der Leser offensichtlich für die Situation der Flüchtlinge aufbringt, spricht dem Geschäftsführer des Flüchtlingsrats in Niedersachsen, Kai Weber, aus der Seele. Weber sieht den gestern beschlossenen Nato-Einsatz im Mittelmeer äußerst kritisch. „Das ist scheinheilig“, sagt Weber und begründet das auch.

Die Ägäis sei bislang nicht dafür bekannt, ein Hort zu sein, in denen hochprofessionalisierte Schleuserstrukturen wie beispielsweise in Libyen existieren würden. „Die Menschen kommen an die Küsten und versuchen dort, Hilfe zu erhalten. Sie kaufen kleine, marode Boote und hoffen, dass diese es bis auf die griechischen Inseln schaffen. Dass das oft ein Trugschluss ist, zeigt die Zahl der Menschen, die in den letzten Wochen dort ertrunken sind.“

Alternative Wege, ohne Schleuser in Sicherheit zu gelangen, sind für Weber erstrebenswert, in der angespannten Lage des syrischen Bürgerkriegs aber unrealistisch. Er verweist auf Aufnahmeprogramme für Menschen, die nahe Verwandte in Niedersachsen besitzen. Diese Programme seien aus Kostengründen eingestellt worden. Von ihnen hätten laut Weber auch nur wenige hundert Personen im Jahr profitiert. Ein zweiter Weg sei der „legale“ Familiennachzug. Ein Weg, bei dem man einen langen Atem braucht. Über Jahre könne sich die Ausstellung eines Visums hinziehen. „Die Wartezeit für einen Termin in den deutschen Botschaften der Türkei, Jordanien oder des Libanon dauert aktuell circa ein Jahr“, sagt Weber. Er schildert das bewegende Schicksal eines Syrers, der bei Soltau wohnt. „Der Vater war geflohen, seine achtköpfige Familie hatte keine Hoffnung, nachziehen zu dürfen. Sie haben sich trotzdem auf den Weg gemacht und ertranken alle. Das war erst vor wenigen Tagen.“

Weber bemängelt, dass der geplante Nato-Einsatz im Mittelmeer die Flüchtlinge ihrem Schicksal überlasse. „Es geht nur darum, Schleuserstrukturen zu erkennen und zu zerschlagen. Um Seenotrettung geht es nicht und auch nicht darum, Menschenleben zu retten.“ Das Ziel sei eine Absicherung Europas und die in seinen Augen illegale Zurückweisung der Flüchtlinge in ein Land, in dem sie diskriminiert würden. Weber meint die Türkei und fragt: Wie kann sich mit einer solchen Regierung zusammentun?

Ulrich Menzel, langjähriger Politikwissenschaftler der TU Braunschweig, nennt das Schleuserwesen höchst lukrativ. Diese Form der Organisierten Kriminalität mit Hilfe der Marine zu stoppen, sei ein Ziel. „Das Neue an dem Einsatz ist aber, dass der Einsatz die Möglichkeit schafft, aufgegriffene Flüchtlingsboote wieder zurück in die Türkei zu schicken und damit zu verhindern, dass der Flüchtlingszustrom innerhalb Europas weiter wächst.“ Für dieses Verfahren, das der Flüchtlingsrat als „illegal“ bezeichnet, hätten laut Menzel zweierlei Voraussetzungen erfüllt werden müssen. „Mit der Nato hat man sich das Dach gesucht, unter dem die Mission starten kann. Und mit der Türkei, die ja in dem Bündnis ist, muss vorher darüber ein Deal abgeschlossen worden sein“, ist sich Menzel sicher.

Für den Braunschweiger Politikwissenschaftler handelt es sich bei der Überwachung der Ägäis um die „Vermischung von polizeilichen und militärischen Tätigkeiten“. Die Tatsache, dass die Schleuserbanden grenzübergreifend agieren würden, rechtfertigt aus Menzels Sicht die Ausdehnung der Mission auf die Befugnisbereiche der Nato.

Das sieht Dr. Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik aus Berlin anders. Die Prinzipien, auf die die Nato gründet, wären nicht betroffen. Der Bündnisfall beispielsweise, auf den sich ein Mitglied berufen könne, wenn es angegriffen würde, wäre so eine Säule. Kaims Eindruck ist ein anderer: „Hier wird versucht, die Nato zu instrumentalisieren, um das europäische Flüchtlingsproblem zu lösen.“