Braunschweig. Der Ex-Bundestagspräsident sprach im Braunschweiger Dom über Terror und die Flüchtlingskrise.

Afghanistan, Jemen, Syrien, Irak. „Die Kriege werden mehr.“ New York, Madrid, London – nun Paris. „Die Terroranschläge kommen näher.“ Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse machte den Zuhörern seiner Predigt am gestrigen Buß- und Bettag im Braunschweiger Dom trotz der Ereignisse der vergangenen Tage Mut.

„Die neue Völkerwan- derung muss gestaltet werden: mit Nächsten- liebe, ohne Träumerei.“
„Die neue Völkerwan- derung muss gestaltet werden: mit Nächsten- liebe, ohne Träumerei.“ © Wolfgang Thierse (SPD),ehemaliger Bundestagspräsident

„Sind wir wehrlos, hilflos?“, fragte er. Diese Frage wollte Thierse, der einstige Bürgerrechtler und Chef der DDR-SPD, rhetorisch verstanden wissen. Also nein. Und doch sprach Thierse die Probleme unserer Zeit schonungslos an. Den Terror bezeichnete er als „Grenzerfahrung der entsetzlichen Art“, die Flüchtlingskrise als „dramatisch“.

Bei der deutschen Einheit vor 25 Jahren habe die begründete Hoffnung auf ein weltweites Zeitalter des Friedens und auf einen Siegeszug der Demokratie bestanden. „Das ist nicht eingetreten“, konstatierte Thierse nüchtern. „Im Gegenteil.“ Das Gefühl der Ohnmacht habe ihn nach Paris beschlichen. „Ich will es mir aber nicht eingestehen.“ Angst könne umschlagen in Wut, Wut in Gewalt. „Das ist keine gute Anleitung zum Handeln.“

Den politisch Verantwortlichen – wie Frankreichs Präsidenten François Hollande – legte Thierse ein Innehalten nahe. Sonst drohten die gleichen Fehler wie nach den Terroranschlägen vom

11. September 2001. Damals folgten die Kriege in Afghanistan und im Irak. Verteidigung sei zwar ein Völkerrecht, jedoch: „Was Hollande macht, ist die gleiche Reaktion wie damals.“

Vielmehr müsse nach den Ursachen des Terrorismus gefragt werden. „Wie entsteht die Gewaltbereitschaft am Rande unserer Gesellschaft? Was können wir dagegen tun?“ Antworten blieb Thierse schuldig. Er erneuerte hingegen seine Kritik: „Der Westen selbst hat zu den Ursachen des Terrorismus beigetragen.“ Und zur Flüchtlingskrise. „Wir müssen reden über den Waffenhandel – legal und illegal. Wir müssen auch reden über den Geldfluss – legal und illegal.“ Der Schutz der Bürger obliege dem Geheimdienst und der Polizei, nicht dem Militär.

Völlig falsch sei es nun, eine „Mechanik der Verdächtigung“ zu betreiben. „Der Islam insgesamt steht unter Verdacht, es wird auf Flüchtlinge gezeigt.“ Thierse hob den Finger: „Gerade wir Christen sollten uns nicht dieser Mechanik unterwerfen.“

Deutschland werde in manchen Staaten als das gelobte Land gesehen. Das mache ihn ein wenig stolz, sagte Thierse. Probleme seien zwar unausweichlich. „Die neue Völkerwanderung muss aber gestaltet werden: Mit Kraft, mit Nächstenliebe, aber auch ohne Träumerei.“ Schließlich hätten nur offene Gesellschaften eine Zukunft. Das habe die DDR gezeigt.