Braunschweig. Kürzlich hatten Mitarbeiter bundesweit gegen den Personalnotstand in Krankenhäusern demonstriert: Viele arbeiteten an der Belastungsgrenze. Eine Krankenpflegerin gibt einen Einblick in ihren Arbeitsalltag.

Herr Meyer (Name von der Redaktion geändert) ist kaum zu beruhigen. Wütend schließt er die Tür zu seinem Zimmer, stapft den Krankenhaus-Flur entlang, vorbei an den Pflegern, vorbei an der Ärztin, drückt auf den Schalter, der die Tür zur Station öffnet, geht Richtung Ausgang. „Ich brauche keinen Arzt, ich gehe jetzt zu meiner Familie“, schimpft er.

„Leid gehört zum Alltag auf einer Station. Wir können es aber nicht an uns heranlassen.“
Ewa Wöppelmann, Pflegerin in der Abteilung Nephrologie

Der 78-Jährige trägt eine graue Flanellhose und ein grau-weiß kariertes Hemd, an den Füßen Pantoffeln. Er weiß offenbar nicht, warum er im Krankenhaus ist. Seine Nieren arbeiten nicht mehr richtig und offenbar leidet er auch an Demenz.

„Wir merken die Belastung enorm, es ist schwer, Nachwuchs zu gewinnen.“
Thomas Türke, Gesamtstationsleiter des Pflegeteams in der Nephrologie

Pflegerin Ewa Wöppelmann lässt den Wagen mit den Patientenberichten im Gang stehen und eilt ihm nach, um ihn doch noch zur Umkehr zu bewegen. Sie legt ihm die Hand auf die Schulter. Nach einigen Minuten wird er ruhiger und lässt sich zu seinem Zimmer zurückführen. „Wir müssen immer auf das Unvorbereitete gefasst sein“, sagt sie.

Es ist kurz nach elf Uhr, Frühschicht auf der Nephrologie 4 im Klinikum Braunschweig an der Salzdahlumer Straße. Der kleine Ausflug des Herrn Meyer hat den Zeitplan von Schwester Ewa, wie sie sich morgens mit einem freundlichen Lächeln vorgestellt hat, durcheinander gewirbelt. Die Visite mit den Ärzten musste warten, nun setzt sie ihre Runde von Zimmer zu Zimmer fort. Mit den Ärzten bespricht sie, wie es den Patienten geht, ob sie Schmerzen haben und welche Medikamente sie in welcher Dosierung bekommen müssen.

Stress, Hektik, betreuungsintensive Patienten – das ist Alltag auf der Station. Ende Juni hatten Pfleger aus vielen Krankenhäusern gegen die wachsenden Belastungen protestiert; auch Kollegen aus dem Städtischen Klinikum in Braunschweig waren dabei gewesen. Nach Berechnungen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fehlen bundesweit 70 000 Stellen in der Pflege. Das Pflegeförderprogramm der Bundesregierung soll künftig zwar maximal 7000 Stellen zusätzlich bringen. Doch nach Ansicht von Verdi ist das viel zu wenig: Bei 2000 Krankenhäusern bundesweit bedeute das gerade einmal 3,5 zusätzliche Stellen pro Klinik – nötig wären pro Krankenhaus aber durchschnittlich 35 zusätzliche Stellen, also mehr als zehnmal so viele.

Auch Ewa Wöppelmann bekommt die Arbeitsverdichtung zu spüren. Mit ihrer Kollegin Miriana Osterkamp ist sie an diesem Morgen für die „A-Seite“auf der Station zuständig, für die Zimmer 34 bis 47 mit zwölf Patienten. Sechs pro Pflegerin – das klingt noch nach einer passablen Quote, aber ihre Patienten müssen intensiv betreut werden. Wer auf der Station liegt, hat meist schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich: Diabetes, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Nierenversagen, Niereninsuffizienz, Transplantationen, Infektionen, Jahre an der Dialyse. Es sind viele ältere Patienten dabei, die nicht mehr ohne Hilfe aufstehen, sich waschen oder bewegen können. „Viel Zeit zum Luftholen bleibt jedenfalls nicht“, sagt Ewa Wöppelmann.

Die 56-Jährige ist nach dem Abitur aus Polen nach Deutschland gekommen. Nach einem Praktikum in Salzgitter hat sie vor 21 Jahren einen Platz an der Pflegeschule bekommen – seit 18 Jahren ist sie nun im Klinikum beschäftigt, auf der Nephrologie; ein Wechsel zu einer anderen Station kommt für sie nicht mehr in Frage: „Ich bleibe hier, auch wenn es immer stressiger wird.“

Die Frühschicht beginnt um 6 Uhr mit der Übergabe. Alle Pfleger sitzen in einem Raum; die Nachtschwester geht der Reihe nach die Patienten durch: Eine hatte starke Schmerzen im linken Fuß, eine andere ist mit ihrem Rollator gestürzt. Herr Meyer irrte orientierungslos über die Gänge und es gab einen Neuzugang, ein Mann im verwahrlosten Zustand mit Verdacht auf infizierte Gicht. „Die Finger- und Fußnägel sehen schlimm aus, er hat offene Stellen am Gesäß und überall Wunden.“

Eine halbe Stunde später sind Ewa Wöppelmann und Miriana Osterkamp auf der Station unterwegs. Im ersten Zimmer liegen zwei Frauen; sie messen Puls, Zucker, die Temperatur und geben die Tabletten aus. Im nächsten Zimmer muss Schwester Miriana einen älteren Mann auf die Sitzwaage hieven. Sein Bauch ist eingefallen, die Beine ragen dünn aus den Schlafanzughosen hervor. „57 Kilo“, sagt sie. Ihre Kollegin trägt alles in den Patientenbericht ein.

So geht es weiter: Spritzen und Infusionen geben, Patienten umlagern, damit sie sich nicht wund liegen, kontrollieren, ob Betten und Zimmer sauber sind. Außerdem müssen die Pflegerinnen dokumentieren, wie viel die Patienten trinken und ausscheiden, um die Nierenfunktion zu überprüfen.

In einem Zimmer ist der Zutritt nur mit Schutzkittel, Mundschutz und Handschuhen erlaubt, ein rotes Stop-Zeichen an der Tür weist darauf hin: Hier liegen Patienten, die sich mit dem multiresistenten Keim MRSA infiziert haben. Mitarbeiter eines externen Dienstes reinigen das Zimmer. Sie müssen die Betten komplett abziehen, die Körper mit Desinfektionsmittel einreiben, alle Flächen desinfizieren. Hygiene im Krankenhaus ist oberstes Gebot, nach jedem Zimmer waschen und desinfizieren sich die Pfleger die Hände; so viel Zeit muss sein, trotz der Hektik.

Der Gesamtstationsleiter des Pflegeteams, Thomas Türke, sagt: „Der Anteil an hochpflege-intensiven Patienten hat in den letzten zehn Jahren stark zugenommen.“ Mehr als die Hälfte der Patienten auf der Nephrologie fallen unter diese Kategorie. Früher seien es 25 bis 30 Prozent gewesen. „Wir merken die Belastung enorm, es ist schwer, Nachwuchs in der Pflege zu gewinnen.“ Der Beruf müsse attraktiver gemacht, besser honoriert werden. Außerdem sei mehr Personal nötig, um eine gute Pflege machen zu können. „Jeder, der schwer arbeitet, braucht auch Erholungszeiten.“

Dass trotz steigender Patientenzahlen und zunehmendem Betreuungsaufwand das Pflegepersonal in vielen Krankenhäusern Deutschlands weiter abgebaut wurde, liegt an dem steigenden Kostendruck, unter dem die Kliniken zu leiden haben. Seit 2004 werden die Leistungen der Krankenhäuser nicht mehr tageweise abgerechnet, sondern pauschal je nach Krankheit. Diese sogenannten Fallpauschalen decken nach Angaben der Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft inzwischen aber nur unvollständig die anfallenden Kosten der medizinischen Behandlung. Um über die Runden zu kommen, reduzieren etliche Häuser ihre Pflegekräfte.

Der Pflegedirektor des Klinikums, Ulrich Heller, hatte zwar während des Verdi-Protestes Ende Juni deutlich gemacht, dass er die Forderungen der Gewerkschaft für etwas hoch gegriffen hält. Aber 100 neue Vollzeitstellen für Pflegefachkräfte in den 50 Pflegestationen des Klinikums seien schon nötig, um den Patienten mehr Zeit und Zuwendung geben zu können. Derzeit sind 1460 Vollzeitstellen mit 2130 Pflegekräften besetzt.

Um 7.30 Uhr sind Ewa Wöppelmann und Miriana Osterkamp mit ihrer ersten Runde fertig, anschließend teilen sie das Frühstück aus. Um 9 Uhr machen sie sich wieder auf den Weg, um Patienten in ihren Betten umzulagern oder Verbände zu wechseln. Bei einem Patient mit mehreren Schlaganfällen hat sich der Zustand verschlechtert. Die Pflegerinnen verständigen die Ärzte, die Ehefrau bricht in Tränen aus.

„Leid gehört zum Alltag auf einer Station“, sagt Ewa Wöppelmann. „Wir können das aber nicht so dicht an uns heranlassen, sonst würden wir verrückt werden.“ Sie muss noch Tablette sortieren und verteilen, kontrollieren, ob Sonden laufen, Blutdruck messen, Pflegeberichte schreiben, Mittagessen austeilen – Pflege im Minutentakt. Um 14 Uhr ist Schichtwechsel. Zeit zum Durchatmen und Abschalten – bis der Wecker am nächsten Morgen wieder klingelt.