Braunschweig. Ökonomen fordern von der Regierung Vorgaben, um die Macht kleiner Gewerkschaften einzudämmen – aber kein Gesetz zur Tarifeinheit.

Unser Leser Olli Arcano sagt auf unserer Facebook-Seite:

Die einen wollen 8 Prozent mehr, die anderen bieten 2 Prozent mehr, und am Ende trifft man sich bei 5 Prozent mehr. Diese polemischen Schaukämpfe sind so überflüssig wie ermüdend beziehungsweise störend für die dadurch belasteten Unbeteiligten. Verständnis braucht da keiner mehr zu erwarten.

GdL

Die Antwort recherchierte Daniel Freudenreich

„Für Spartengewerk- schaften, die eine Art Monopolmacht haben, sollten strengere Voraussetzungen für einen Streik gelten. “
„Für Spartengewerk- schaften, die eine Art Monopolmacht haben, sollten strengere Voraussetzungen für einen Streik gelten. “ © Justus Haucap, Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie.

Wie unserem Leser Olli Arcano könnte es in den kommenden Tagen vielen Pendlern gehen. Jedenfalls wird ihre Geduld mal wieder mächtig auf die Probe gestellt, wenn die Lokführer streiken. Bei dem Arbeitskampf, zu dem die GDL aufgerufen hat, geht es aber nicht nur um fünf Prozent mehr Lohn für die Zugführer. In diesem Punkt könnten sich die Gewerkschaft und die Bahn wohl schnell einig werden. Vielmehr ist der Tarifstreit deswegen so festgefahren, da die GDL auch für das übrige Zugpersonal einen Tarifvertrag aushandeln will.

Am Ende könnte es also zwei verschiedene Tarifverträge für ein und dieselbe Berufsgruppe geben. Eben das will die Bahn verhindern. Für die GDL ist der Tarifkonflikt aber nicht risikolos. Er rückt einmal mehr die Macht der Spartengewerkschaften in das Zentrum der Kritik. So will die Bundesregierung nun ein Gesetz zur Tarifeinheit auf den Weg bringen. Das könnte kleine Arbeitnehmervertreter-Organisationen empfindlich treffen. Experten sehen aber die Zeit gekommen, dass der Gesetzgeber eingreift.

„Durch Spartengewerk- schaften wird für viele Unternehmen die Friedensperiode immer kürzer, in denen sie ohne die Gefahr von Streiks arbeiten können.“
„Durch Spartengewerk- schaften wird für viele Unternehmen die Friedensperiode immer kürzer, in denen sie ohne die Gefahr von Streiks arbeiten können.“ © Dietrich von der Oelsnitz, Professor an der TU Braunschweig.

Ist die Bedeutung von kleinen Gewerkschaften gewachsen?

„Die Macht der Spartengewerkschaften hat zugenommen“, sagt Professor Kai Litschen vom Institut für Personalmanagement und Recht an der Ostfalia Hochschule. Dies sei von den Vätern des Grundgesetzes so nicht vorgesehen gewesen. Auch Dietrich von der Oelsnitz, Wirtschaftsprofessor an der TU Braunschweig, warnt vor der aktuellen Entwicklung. Es gebe unter anderem immer mehr Teilstreiks. „Ich sehe das skeptisch“, sagt von der Oelsnitz. „Durch Spartengewerkschaften wird für viele Unternehmen die Friedensperiode immer kürzer, in denen sie ohne die Gefahr von Streiks arbeiten können. Auch gültige Tarifabschlüsse für die ganze Belegschaft schützen nicht mehr vor Teilstreiks.“

Was deutet für die Machtzunahme von Spartengewerkschaften hin?

Mehrere Punkte. Zum einen ist die Arbeitswelt in Deutschland immer stärker spezialisiert, was auch zu einer Ausdifferenzierung der Gewerkschaften geführt hat. So reicht es heute aus, Schlüsselpositionen zu bestreiken, um einen ganzen Betrieb lahmzulegen. „Früher war das so nicht möglich“, erinnert Litschen an Zeiten, in denen noch Hunderte Mitarbeiter in einer Werkshalle standen und dieselbe Tätigkeit verrichteten. „Da brauchte man viele Arbeitnehmer, um ein großes wirtschaftliche Drohpotenzial gegenüber dem Arbeitgeber aufbauen zu können.“

Zudem habe das Bundesarbeitsgericht den Gestaltungsspielraum der Gewerkschaften seit 2003 immer mehr erweitert. Ein Höhepunkt war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 2010, das die Tarifeinheit kippte. Seitdem kann es in einem Unternehmen verschiedene Tarifverträge für dieselbe Arbeit geben. Zuvor war dies nicht der Fall.

Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich, wenn es um die Macht von (Sparten-)Gewerkschaften geht?

Man denke einmal an Großbritannien in den 80er Jahren. Damals war die britische Wirtschaft weitgehend in der Hand der Gewerkschaften. Die damalige Premierministerin Margaret Thatcher entmachtete sie schließlich. In Frankreich wiederum kam es vor, dass Geschäftsführer festgehalten wurden, um Forderungen durchzusetzen. Von derartigen Situationen ist man in Deutschland weit entfernt. „Die gemäßigten Gewerkschaften haben nach wie vor auch die Situation der Arbeitgeber im Blick“, sagt Litschen. Er findet, dass das Verständnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei uns grundsätzlich füreinander vorhanden ist.

Von der Oelsnitz sieht das ähnlich. „Es ist Grundlage unseres Wohlstandes, dass wir sozialen Frieden und vergleichsweise wenig Streiktage haben“, sagt der Professor an der TU Braunschweig. Das sollte man durch immer kleinteiligere Spartengewerkschaften nicht gefährden.

Wie groß sind die wirtschaftlichen Auswirkungen durch Streiks von Spartengewerkschaften?

Für ein Unternehmen können sie erheblich sein. So hat allein der dreitägige Pilotenstreik im Frühjahr die Lufthansa nach eigenen Angaben 60 Millionen Euro gekostet. Den gesamtwirtschaftlichen Schaden hält Litschen aber für überschaubar, da sich Deutschland in einer sehr guten wirtschaftlichen Lage befinde. Daher sei das Streikpotenzial nicht besonders stark ausgeprägt.

Die GDL will auch für das übrige Zugpersonal verhandeln. Darf sie das so einfach?

Litschen hält das für „absolut legitim“. Dabei bezieht er sich auf Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes, das die Koalitionsfreiheit ermöglicht. Eine Gewerkschaft dürfe demnach ihren Aufgabenbereich selbst bestimmen, erklärt der Ostfalia-Professor. Seiner Meinung nach geht es der GDL weniger um den Machtzuwachs. Schließlich könnte die Gewerkschaft schon heute bei der Bahn den Betrieb praktisch lahmlegen. Vielmehr wolle sie die unzufriedenen Beschäftigten ins Boot holen, deren Drohpotenzial im Streikfall geringer sei. Dies ist etwa beim Personal der Bordrestaurants der Fall. Wenn es streikt, tut das der Bahn weniger weh, weil der Zug trotzdem fahren kann.

Am Ende könnte die Bahn zwei Tarifverträge für eine Berufsgruppe haben. Warum wehrt sie sich?

Litschen sieht organisatorische Probleme auf die Bahn zukommen: Wie wolle sie etwa ein funktionierendes Schichtsystem organisieren, wenn es unterschiedliche Tarifverträge zur Arbeitszeit gebe? „Die Bahn kann nicht wissen, welcher Mitarbeiter in welcher Gewerkschaft ist“, sagt der Arbeitsrechtler. Sie müsse also alle Mitarbeiter blind nach einem Tarifvertrag behandeln, bis sich Beschäftigte dagegen wehrten. „Das kann zu einem Riss durch die Belegschaft führen“, warnt Litschen vor zwei Tarifverträgen.

Welche Risiken bestehen noch, wenn zwei Gewerkschaften um eine Berufsgruppe buhlen?

„Es besteht schon heute die Gefahr eines Überbietungswettbewerbs“, sagt Litschen. Dies sei nicht nur bei der GDL der Fall. „Die Bahn hat Angst vor einer Spirale der Zugeständnisse beziehungsweise einem Sich-Überbieten in den Forderungen konkurrierender Gewerkschaften“, meint von der Oelsnitz.

Die Bundesregierung will nun ein Gesetz über die Tarifeinheit vorlegen. Worum geht es hier genau?

Die Bundesregierung plant Folgendes: Wenn sich Tarifverträge in einem Unternehmen überschneiden, soll künftig der Vertrag zur Anwendung kommen, dessen Gewerkschaft im Betrieb mehr Mitglieder hat. In diesem Falle müsste sich die GDL um die Lokführer keine Sorgen machen, da sie diese mehrheitlich vertritt. Allerdings würde ihr Tarifergebnis wohl nicht für das übrige Zugpersonal gelten, da es mehrheitlich von der Konkurrenzgewerkschaft EVG vertreten wird. Wohlgemerkt gibt es hier auch Streit um die Zählweise.

Kann die Regierung ohne Weiteres ein Gesetz zur Tarifeinheit auf den Weg bringen?

„Es ist richtig, dass die Regierung nun versucht, das Gesetz zur Tarifeinheit auf den Weg zu bringen“, sagt von der Oelsnitz. Litschen hält das ohne Grundgesetzänderung aber kaum für möglich. Noch deutlicher formuliert es Professor Justus Haucap. Das Gesetz zur Tarifeinheit sei der falsche Weg, sagt der Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie. „Es wäre ein Wunder, wenn das Gesetz zur Tarifeinheit nicht vor dem Bundesverfassungsgericht landen würde.“ Haucap geht davon aus, dass die Regelung mit Artikel 9 im Grundgesetz kollidieren würde. Auch Litschen sieht keine Patentlösung, die der Bund kurzfristig vorlegen könnte. Er hält es aber für realistischer, das komplette Arbeitskampfrecht zu kanalisieren. Der Gesetzgeber könnte zum Beispiel Außenseiterstreiks verbieten, sagt Litschen. Hier werde beispielsweise ein Zulieferer bestreikt, so dass das Hauptwerk nicht mehr produzieren kann.

Was sollte die Regierung also machen, um die Macht von kleinen Gewerkschaften zu begrenzen?

„Die Regierung sollte beim Streikrecht ansetzen“, meint Haucap. „Für Spartengewerkschaften, die eine Art Monopolmacht haben, sollten strengere Voraussetzungen für einen Streik gelten.“ Seiner Meinung nach sollte die Koalition das Recht auf Warnstreiks restriktiver gestalten. Zunächst solle es verpflichtend ein Schlichtungsverfahren geben. „Zum Teil werden heute schon Warnstreiks vor Verhandlungen geführt. Das ist nicht verhältnismäßig“, sagt Haucap.

„Der Gesetzgeber muss einen Masterplan vorlegen, der deutlich über ein Gesetz zur Tarifeinheit hinausgeht“, fordert dagegen Litschen. Er müsse davor schützen, dass ein Unternehmen durch konkurrierende Gewerkschaften mehrfach bestreikt werden könne. Er sollte verbindliche Koordinierungstarifverträge vorschreiben. Ein weiteres Element wären Zwangsschlichtungen. Vor einem Streik müssten die Verhandlungspartner zum Schlichter gehen, um hier alle Möglichkeiten für einen Konsens auszuloten.

Welche Rolle könnten Minigewerkschaften in Zukunft einnehmen, wenn der Gesetzgeber nichts unternehmen kann?

Litschen sieht zwei Szenarien. „Die Spartengewerkschaften laufen sich bald tot, weil die Unterstützung in der Bevölkerung wegbricht“, nennt er eine Möglichkeit. Sollte sich allerdings ein gewisser Egoismus bei einzelnen Berufsgruppen durchsetzen, könne das Modell der Spartengewerkschaften Schule machen. „Ich rechne aber nicht mit einem Ausufern der Spartengewerkschaften“, sagt der Ostfalia-Professor.