Orakel 2014. Europarechtler Alexander Thiele über die Zukunft des Euro, das Leid der Sparer und Hoffnung für Werder Bremen.

Ein Graffiti am Bauzaun des Neubaus der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt karikiert deren Chef Mario Draghi. Thiele bescheinigt der EZB einen guten Job.
Ein Graffiti am Bauzaun des Neubaus der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt karikiert deren Chef Mario Draghi. Thiele bescheinigt der EZB einen guten Job. © Boris Roessler, Peter Kneffel, Bernd Weißbrod, Pantelis Saitas/dpa

Braunschweig. Seit mehreren Jahren darf in keiner Orakel-Runde die Frage fehlen, wie es denn nun weitergeht mit Europa und dem Euro. Im Vergleich zu 2011 und 2012, als viele die Währungsunion bereits abgeschrieben hatten, war das zurückliegende Jahr zwar eher ruhig. Nur während der Zypern-Krise flackerten die alten Ängste noch einmal jäh auf. Dennoch sind sich die meisten Experten einig, dass die inzwischen eingekehrte Ruhe trügerisch ist – weil viele Probleme des Euro-Raums noch immer nicht gelöst sind, sondern allenfalls Zeit gekauft wurde.

„Die wirtschaftlichen Verhältnisse machen ein baldiges Ende der Niedrigzinsphase unwahrscheinlich.“
„Die wirtschaftlichen Verhältnisse machen ein baldiges Ende der Niedrigzinsphase unwahrscheinlich.“ © Alexander Thiele, Staats- und Europarechtler an der Universität Göttingen

Über den Patienten Euro sprach Marc Chmielewski mit dem Orakel-Experten Alexander Thiele. Der Staats- und Europarechtler an der Universität Göttingen hat sich in seiner Habilitationsschrift intensiv mit den Finanzmärkten und ihren Wirkungen auf die Politik der Staaten Europas auseinandergesetzt. Als Fußball-Fan schaut er aber auch in die Glaskugel, um den besten Nordverein der Bundesliga vorherzusagen.

Unser Leser Gert Thiele schreibt: Griechenland wird seine Auflagen und Reformbedingungen für 2014 sicher nicht erfüllen können. Sollte oder muss die Bundesregierung und somit der Steuerzahler zum x-ten Mal Milliarden-Euro-Kredite geben?

Auch zum Fußball hat sich Thiele geäußert. Er glaubt an die Erfolge von Werder Bremen und Nils Petersen.
Auch zum Fußball hat sich Thiele geäußert. Er glaubt an die Erfolge von Werder Bremen und Nils Petersen.

Auch wenn in Deutschland viele den Griechen unterstellen, es sich auf unsere Kosten gutgehen zu lassen: Griechenland hat sich in diesem Jahr tatsächlich ganz außerordentlich angestrengt, um die harten Reformauflagen zu erfüllen – und hat dabei auch beachtliche Erfolge erzielt. So erzielt Griechenland mittlerweile wieder einen Primärüberschuss – das bedeutet: Sieht man von den Schuldentilgungskosten ab, übersteigen die Einnahmen erstmals seit langem wieder die Ausgaben. Griechenland befindet sich also auf dem Weg der Konsolidierung.

Warum mäkeln dann so viele rum?

Griechen protestierten Anfang Dezember gegen harte Sparauflagen.
Griechen protestierten Anfang Dezember gegen harte Sparauflagen.

Dieser Weg ist eben lang und steinig. Deshalb wird es Griechenland im kommenden Jahr wohl noch nicht gelingen, sich wieder vollständig auf den Finanzmärkten zu finanzieren. Ein weiteres Hilfspaket ist daher sehr wahrscheinlich. Die Unterstellung, dass damit einfach Geld versenkt wird, ist aber nicht richtig. Denn auch wenn man Griechenland ein Rettungspaket verweigert, hat das seinen Preis – und der ist deutlich höher. Es würde nämlich die Insolvenz des Landes bedeuten, mit kaum absehbaren Folgen für den Euroraum. Zudem hat gerade Deutschland von der gesamten Situation aufgrund niedriger Zinsen stark profitiert – selbst wenn man die Hilfspakete berücksichtigt.

Leserin Helga Engls fragt: Wie können wir es schaffen, mit mehr Bescheidenheit und ethischen Grundsätzen unser Wachstum zu begrenzen? Es gibt doch genügend Beispiele, etwa bei Genossenschaftsbanken.

Zinsen beinahe abgeschafft – Sparer haben derzeit wenig zu lachen.
Zinsen beinahe abgeschafft – Sparer haben derzeit wenig zu lachen.

Tatsächlich wird es immer deutlicher, dass unser auf stetiges Wachstum gepoltes Wirtschaftssystem kein Zukunftsmodell darstellt. Da es in einer endlichen Welt kein unendliches Wachstum geben kann, denken Wissenschaftler schon seit einigen Jahren darüber nach, wie ein alternatives Wirtschaftsmodell aussehen könnte, das nachhaltig ist. Bisher hat das aber leider wenig Früchte getragen.

Kann die große Krise, die die Welt seit 2008 beschäftigt, überhaupt im bestehenden Wirtschaftssystem gelöst werden?

Die aktuelle Krise muss wohl erst mal auf konventionellem Wege überwunden werden. Wenn es langfristig zum erforderlichen Wandel kommen soll, sind aber wir alle gefragt. Wir müssen zuallererst unser eigenes Verhalten hinterfragen und gegebenenfalls auf Nachhaltigkeit und weniger Wettbewerb ausrichten. Muss es also wirklich schon wieder ein neues Auto, ein neuer Computer oder eine neue Jacke sein? Müssen wir der vermeintlich hohen Rendite eines besonderen Anlageprodukts nachlaufen? Oder tut es nicht das normale, aber eben ein bisschen langweilige Girokonto? Wenn einige Menschen das machen, wird das freilich nicht gleich den großen Wandel bringen. Es ist aber der erste Schritt hin zu einem grundsätzlich anderen Konsummodell – auf das sich dann auch die wirtschaftlichen Entscheidungsträger zwangsläufig einrichten müssen.

Halten Sie die häufig im Zusammenhang mit dem niedrigen Zinsniveau geäußerte Klage, Sparer würden durch die Hintertür enteignet, für berechtigt?

Natürlich stellt das niedrige Zinsniveau eine Belastung der Sparer dar, da die Inflationsrate darüber liegt. Von einer Enteignung durch die Hintertür zu sprechen, finde ich trotzdem zu scharf. Denn die Europäische Zentralbank will mit ihrer Niedrigzinspolitik die Eurozone insgesamt stabilisieren. Und ohne die so erreichte Stabilität wäre auch keinem Sparer geholfen. Zudem verhindert die Zentralbank auf diesem Wege eine Deflation. Das ist das Gegenteil von Inflation und bedeutet, dass die Preise im Durchschnitt fallen. Klingt erst mal gut für Verbraucher, ist aber in Wahrheit eine Katastrophe, weil die Deflation auch Investitionen erstickt – und damit den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand senkt. Insofern sind die niedrigen Zinsen der Preis, den Sparer wohl dafür zahlen müssen, dass wir die Eurozone retten und stabilisieren. Das darf aber natürlich kein Dauerzustand sein.

Wird die EZB den Leitzins bald wieder anheben?

Zweifellos wird die EZB die Niedrigzinspolitik nicht über mehrere Jahre aufrechterhalten. Ich gehe aber nicht davon aus, dass sie angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse der Eurozone schon bald zu höheren Zinsen zurückkehrt. Ich denke eher, dass die Leitzinsen wohl noch im nächsten Jahr so niedrig bleiben werden. Weiter sinken werden sie aber auch nicht.

Werden 2014 weitere Länder unter den Euro-Rettungsschirm schlüpfen müssen? Oder verlassen ihn sogar manche wie nun Irland?

Meine Orakel-Prognose: 2014 werden keine weiteren Länder unter den Rettungsschirm schlüpfen. Die Entwicklung der gesamten Eurozone zeigt in eine andere Richtung, und ich glaube nicht, dass sich dieser Trend im kommenden Jahr wieder völlig umkehren wird. Wahrscheinlicher ist, dass weitere Länder dem Beispiel Irlands folgen und den Rettungsschirm wieder verlassen werden.

Es wird also alles gut?

Leider gibt es auch bedenkliche Entwicklungen. In Frankreich und Italien dürfen die Reformanstrengungen nicht zum Erliegen kommen, wenn sich diese Staaten in den nächsten Jahren nicht zu den neuen „Problemkindern“ der Eurozone entwickeln sollen.

Werden auch die Krisenländer Europas endlich einen Aufschwung erleben?

Tatsächlich kommt der Aufschwung bereits bei einigen der Krisenländer an. Das gilt neben Irland zumindest partiell auch für Spanien, Portugal und sogar Griechenland. Bis zu einer völligen Überwindung der Rezessionsphase wird es aber noch einige Jahre dauern. Insofern bleibt es bei dem, was ich auch letztes Jahr betont habe: Die Eurokrise wird uns so oder so noch etliche Jahre beschäftigen.

Müssen Europas Bürger sich eher vor Inflation oder vor Deflation fürchten?

Beides ist gefährlich. Aus diesem Grund lautet das Mandat der EZB auch Wahrung der Preisstabilität insgesamt – und nicht nur Verhinderung der Inflation. Aktuell stellt die Inflation in der Eurozone aber keine Gefahr dar. Das liegt vor allem daran, dass die Banken sehr zurückhaltend Kredite vergeben. Die Folge: Selbst eine lockere Geldpolitik der Zentralbank bewirkt keine deutliche Erhöhung der Geldmenge, die zu Inflation führen könnte. Andererseits: Die EZB hat mit der Zinssenkung meines Erachtens angemessen auf denkbare Deflationsgefahren reagiert. Ich sehe daher auch für das Jahr 2014 keine solchen Gefahren. Insgesamt darf ich an dieser Stelle anmerken: Im Hinblick auf die Sicherung der Preisstabilität hat die EZB nicht nur im letzten Jahr einen außerordentlich guten Job gemacht.

Welche europapolitischen Themen werden uns im kommenden Jahr am stärksten beschäftigen?

Ich denke, dass uns Bankenregulierung auch im kommenden Jahr beschäftigen wird. Hier geht es vor allem um die Frage: Wird es uns gelingen, im Rahmen der Bankenunion eine europäische Abwicklungsbehörde zu errichten? Meines Erachtens ist das zwingend erforderlich.

Was noch?

Darüber hinaus wird es auch darum gehen, wie Europa mit Flüchtlingen künftig umgehen will. Die Zustände an den europäischen Küsten sind schlicht nicht hinnehmbar, und die bisherige eher zögerliche Reaktion der Politik ist kaum akzeptabel, schließlich gibt es humanitäre Verpflichtungen. All diese Fragen werden dabei vor dem Hintergrund der anstehenden Europawahlen diskutiert werden müssen, wobei ich hoffe, dass die Wahlbeteiligung im kommenden Jahr die Bedeutung dieser Wahl endlich einmal angemessen widerspiegelt.

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ZUR PERSON

Dr. Alexander Thiele stammt aus Lüchow-Dannenberg, hat an der Universität Göttingen Rechtswissenschaften studiert und ist dort heute Privatdozent für Staats- und Europarecht.

Seine Habilitationsschrift mit dem Titel „Finanzaufsicht“ beschäftigt sich mit wichtigen Aspekten der großen Krise, die die Welt seit 2008 beschäftigt.


Auch über die Rolle der EZB im Kampf gegen die Euro-Krise hat der 34-Jährige ein Buch geschrieben.