Braunschweig. Was erwartet uns im neuen Jahr? Darüber sprachen sieben Experten beim Orakel 2013, einer Veranstaltung unserer Zeitung - so auch Hildegard Schooß.

Vier Jahre nach dem Bildungsgipfel der Regierungschefs von Bund und Ländern ist die Verwirklichung der ausgerufenen Reformziele noch in weiter Ferne. Auch die Politikberaterin Hildegard Schooß mahnte beim „Orakel 2013“, dass die sozialen Probleme in Deutschland zunehmen werden.

Hildegard Schooß, Gründerin des Mütterzentrums Salzgitter und Politikberaterin, erläutert ihre Prognose im Gespräch mit Cornelia Steiner.

Frau Schooß, derzeit beziehen rund sechs Millionen Menschen Arbeitslosengeld II. Der Regelsatz für alleinstehende Hartz-IV-Empfänger steigt ab Januar von 374 Euro auf 382 Euro. Wird es im kommenden Jahr zu einer noch deutlicheren Erhöhung kommen, wie Grüne, Linke und Gewerkschaften es fordern, also um 50Euro und mehr?

Das hängt vom Wahlausgang ab. Meine Prognose ist, dass wir im nächsten Jahr keine weitere Erhöhung bekommen werden. Es wird weiterhin so sein, dass die Bezieher von Arbeitslosengeld II von vielen Dingen ausgeschlossen bleiben, die sich der durchschnittliche Bürger leisten kann. Es wird auch weiterhin viele Menschen geben, die dadurch in Depressionen rutschen.

Die Spaltung zwischen Arm und Reich hat eine starke negative Wirkung, die in eine Abwärtsspirale führt – wir erleben in der sozialen Arbeit, wie schwer es ist, die Menschen aufzumuntern und diesem Teufelskreis zu entgehen. Die sozialen Probleme werden massiv zunehmen, denn hier geht es ja nicht nur um materielle Armut, sondern um das Gefühl der Minderwertigkeit, um fehlende Wertschätzung.

Wird im kommenden Jahr eine Grundsicherung für alle eingeführt, ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Im Gespräch ist ja seit einiger Zeit eine Grundsicherung von 800 bis 1000 Euro. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich diese Forderung durchsetzt. Dafür gibt es im Moment leider keine Mehrheiten, dabei wäre es ein guter Schritt. Natürlich gibt es zum Beispiel die Tafeln – wer arm ist, bekommt etwas zu essen sowie Kleidung und eine Wohnung. Aber die Bittstellerei ist entwürdigend, außerdem werden diese Menschen ausgegrenzt. Und es ist ein Skandal, dass die finanziellen Möglichkeiten der Menschen in Deutschland so sehr auseinanderklaffen – wir leben doch in einer so reichen Gesellschaft!

Wird 2013 ein flächendeckender Mindestlohn für alle Branchen eingeführt, wie die Opposition es fordert?

Nein, es wird meiner Ansicht nach keinen flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohn geben. Wir werden daher auch weiterhin eine hohe Zahl an prekären Beschäftigungsverhältnissen haben, also Beschäftigungsverhältnisse, die meistens befristet und gering bezahlt sind und langfristig nicht den Lebensunterhalt sicherstellen können. Wir werden auch weiterhin Lohndumping erleben, wie zum Beispiel bei den Friseurinnen, die in der Stunde drei Euro verdienen. Es scheint aber so, als könnten Dumpinglöhne durch Branchentarifverträge teilweise eingedämmt werden.

Wird die Rente mit 67 im kommenden Jahr ausgesetzt?

Auch das glaube ich nicht, und dieser Schritt wäre auch nicht sinnvoll. Es käme stattdessen darauf an, die längere Erwerbsarbeitszeit anders zu gestalten und weniger in Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken. Es gibt Menschen, die auch mit 70 noch arbeiten wollen und können; und es gibt Menschen, die dazu nicht mehr in der Lage sind – zum Beispiel aufgrund der Belastung durch ihren Beruf wie Krankenschwestern und Bauarbeiter. Wir sollten also grundsätzlich diskutieren, wie wir die Arbeitsleistung älterer Menschen für die Gesellschaft nutzbar machen können. Ideen dazu gibt es reichlich.

Das Betreuungsgeld ist beschlossen; wird 2013 auch die Putzprämie kommen, die Familienpolitiker von CDU/CSU im Bundestag fordern? Mütter sollen demnach mit staatlich geförderten Haushaltshilfen unterstützt werden, damit sie früher in den Job zurückkehren können.

Nein, ich gehe nicht davon aus, dass diese sogenannte Putzprämie, die wohl auch mehr als Scherz gemeint war, eingeführt wird. Ob sie überhaupt sinnvoll wäre, kann ich nicht beurteilen, auch beim Betreuungsgeld kann man das noch nicht absehen – ich glaube allerdings nicht, dass solche Förderungen einen Fortschritt bringen.

Ich denke sowieso, dass leider alles beim Alten bleiben wird, und es zu keiner bedarfsgerechten Unterstützung und Entlastung der Familien bei der Erziehung und Betreuung ihrer Kinder sowie bei der Pflege und Betreuung der Älteren kommt. Man muss beides zusammen betrachten, weil es im Familienalltag schlecht voneinander zu trennen ist.

Von der derzeit möglichen steuerlichen Absetzbarkeit von Haushaltshilfen profitieren leider nur die Bezieher höherer Einkommen, aber nicht die Familien mit geringerem Einkommen, die besonders belastet sind. Hier muss man also anders ansetzen.

Wird es ab August 2013 für jedes Kind unter drei einen Betreuungsplatz geben, so dass die Kommunen den dann geltenden Rechtsanspruch erfüllen können?

Ich vermute, dass dies nicht in allen Städten möglich sein wird. Aber viel wichtiger als die Frage der Quantität ist aus meiner Sicht die Frage der Qualität: Es ist ein Skandal, dass Erzieherinnen so wenig Geld verdienen, obwohl sie eine so wichtige und wertvolle Arbeit leisten. Wir haben hier das gleiche Problem wie zum Beispiel bei Pflegekräften und Krankenschwestern. Inzwischen fängt man zumindest an, darüber nachzudenken – aber zu einem Wandel wird es wohl auch im nächsten Jahr nicht kommen. Dafür gibt es leider keine Lobby.

Ich gehe deshalb auch nicht davon aus, dass wir flächendeckend mehr Erzieherinnen in die Kitas bekommen. Mehr gut ausgebildetes Personal ist aber nötig, um eine familienähnliche und qualitativ hochwertige Betreuung und Förderung zu gewährleisten. Wenn Kinder schon nicht in der eigenen Familie ihren Alltag verbringen und aufwachsen, weil beide Eltern arbeiten müssen oder wollen, müssen wir an der Kultur in den Kitas arbeiten. Kinder brauchen Wärme und Empathie, am besten in altersübergreifenden Gruppen, wie mit Geschwistern – das kommt der Familie sehr nahe.

Die EU-Kommission hat im November einen Gesetzesvorschlag beschlossen, wonach 40 Prozent der Aufsichtsratsposten in großen börsennotierten Unternehmen bis 2020 mit Frauen besetzt sein sollen. Die EU-Länder und das Europaparlament müssen dem Vorschlag zustimmen; die Bundesregierung ist skeptisch. Wird das Gesetz verabschiedet werden?

Nein, es wird leider nicht durchkommen, sondern man wird am Ende nur weiche Formulierungen finden. Solange Männer in den Unternehmen und den Aufsichtsräten das Sagen haben, wird sich daran nicht viel ändern.

Über die Quote wäre es natürlich viel einfacher, in den Unternehmen familienfreundliche und entlastende Arbeitsbedingungen zu schaffen. Es gibt doch nur deshalb so wenige Frauen in Führungspositionen, weil die Arbeitsbedingungen ungünstig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind. Im Übrigen hätte das auch eine positive Wirkung für Väter.

Service

Sieben Orakel-Experten haben für Sie in die Zukunft geschaut. Nach Adalbert Wandt und Hildegard Schooß werden an den kommenden Tagen folgende Fachleute ihre Prognosen für 2013 abgeben:

Hubertus von Amelunxen, Präsident der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig, Jürgen Hesselbach, Präsident der TU Braunschweig, Ulrich Menzel, Professor für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig, Alexander Thiele, Europarechtler an der Universität Göttingen sowie Wolf-Rüdiger Umbach, Präsident der Ostfalia Hochschule und des Landessportbunds.