Kairo.

Eine Ägypterin zeigt nach der Abstimmung stolz den Tintenfleck auf ihrem Finger. So wird markiert, dass sie ihr Kreuz gemacht hat.
Eine Ägypterin zeigt nach der Abstimmung stolz den Tintenfleck auf ihrem Finger. So wird markiert, dass sie ihr Kreuz gemacht hat. © Andre Pain/dpa

In Kairo kamen die Wähler in Scharen, um beim Verfassungsreferendum am Samstag ihre Stimme abzugeben. Die Muslimbruderschaft freute sich über die hohe Beteiligung. Doch erste inoffizielle Ergebnisse am Sonntag zeigen: Die Mehrheit der Menschen hier ist – entgegen dem landesweiten Trend – klar gegen den maßgeblich von Muslimbrüdern und Salafisten erarbeiteten Entwurf, der dem bevölkerungsreichsten arabischen Land einen noch religiöseren Anstrich geben soll. Nach Prognosen bieten mehr als die Hälfte der Wähler in Kairo dem islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi in der Hauptstadt die Stirn.

„Mursi will mein Leben und meine Familie kontrollieren. Ich ziehe Freiheit der Kontrolle vor.“
Der Wähler Naier el-Gindi

Und nicht nur hier: Auch in der Provinz Gharbija, wo die traditionell aufmüpfige Arbeiterstadt Mahalla al-Kubra mit ihrer Textilindustrie liegt, stimmten die Wähler mehrheitlich mit Nein. Die übrigen acht Provinzen hingegen billigten den Entwurf zur ersten Verfassung des Landes seit dem Sturz von Ex-Präsident Husni Mubarak vor fast zwei Jahren mit zum Teil sehr deutlicher Mehrheit. Das Land ist gespalten. Die Opposition beklagt zahlreiche Wahlrechtsverstöße – und fordert eine Wiederholung der Abstimmung vom Vortag. Es kam zu gewalttätigen Zwischenfällen.

Beim Wahlauftakt hatte Mursi, der aus der Muslimbruderschaft stammt, sich wohl eine deutlichere Mehrheit erhofft. Denn die braucht er, um den Machtkampf zwischen ihm und der Opposition zu entscheiden. Doch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Nach ersten Prognosen waren in der ersten Runde des Referendums nur etwa 57 Prozent der Wähler für den Entwurf.

„Ich will Stabilität und Wohlstand. Und die neue Verfassung wird das garantieren.“
Der Wähler Mustafa Ahmed

Der Präsident war am Samstag als einer der ersten zur Abstimmung nahe seinem Amtssitz im Kairoer Stadtteil Heliopolis erschienen. In dem Bezirk mit seinen Villen und Regierungsbauten hat auch Mubarak schon gewählt. Neben Linken und Liberalen stellen sich auch dessen Anhänger – im Alltag meist im Hintergrund – gegen Mursi. Das hatten sie schon bei der Präsidentenwahl getan, bei der Mursi sich mit einem nur leichten Vorsprung gegen seinen Konkurrenten Ahmed Schafik, einen Mann des alten Regimes, durchsetzen konnte.

Im Stadtteil Abbassija, wo die koptisch-orthodoxe Kirche ihren Hauptsitz hat, gab Papst Tawadros II. seine Stimme ab, dessen Gemeinde die Islamisten fürchtet. Die christliche Minderheit sieht sich durch den Verfassungsentwurf massiv bedroht. Trotzdem machte der Koptenpapst seiner Gemeinde keine Vorgaben zur Abstimmung. Nur teilnehmen am Referendum sollten seine Schäfchen unbedingt, hatte er im Vorfeld gemahnt.

Am 22. Dezember geht das Referendum in die zweite Runde, die restlichen 17 Provinzen sollen dann nachziehen. Insgesamt sind 51 Millionen stimmberechtigte Ägypter registriert. Wie die Abstimmung ausgeht, wird sich in gut einer Woche zeigen, wenn es die offiziellen Ergebnisse gibt. Viele Menschen denken aber so wie Mustafa Ahmed, der im Kairoer Stadtteil Sajjida Seinab seine Stimme abgab. „Ich will Stabilität und Wohlstand“, sagte der 40-Jährige. „Und die neue Verfassung wird das garantieren.“

Naier el-Gindi wählte in Garden City und war anderer Meinung. „Mursi will mein Leben und meine Familie kontrollieren. Ich ziehe Freiheit der Kontrolle vor.“

Dass das Verfassungsreferendum den Machtkampf um die Zukunft Ägyptens beenden wird, ist unwahrscheinlich. Denn das Volk ist – wie die ersten Prognosen zeigen – in seinen Vorstellungen darüber entzweit. Die Opposition befürchtet, dass künftig das islamische Recht, die Scharia, in alle Lebensbereiche wirkt und die Gelehrten des Al-Azhar-Islam-Instituts zu einer vierten Macht werden.

▶ Der Präsident ist maximal wählbar für zwei vierjährige Mandate in Folge.

▶ Der Verteidigungsminister wird aus der Armee gewählt, ein von Offizieren dominiertes Gremium entscheidet über das Militärbudget.

▶ Die Prinzipien der Scharia, des islamischen Rechts, sind die Hauptquelle der Gesetzgebung. Dies stand so auch bereits in der früheren Verfassung.

▶ Der Islam bleibt die Staatsreligion. Die Glaubensfreiheit wird garantiert

▶ Die Meinungsfreiheit wird ebenfalls garantiert, doch ist die Beleidigung von Menschen und der Propheten strafbar.

▶ Die „Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ohne jede Diskriminierung” wird festgeschrieben, doch wird die Gleichheit der Geschlechter nicht explizit erwähnt.

Mehr Scharia und weniger Staat wünschen sich wiederum viele Anhänger Mursis. Für so manchen von ihnen ist es eine Abstimmung für oder gegen den Islam. Der Konflikt könnte daher erneut eskalieren – in einen Bürgerkrieg.