Braunschweig.

Dieser Arzt operiert einen Patienten am Herzen.
Dieser Arzt operiert einen Patienten am Herzen. © Oliver Berg/dpa

Der Vorwurf der AOK ist nicht neu, und auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen hat schon wiederholt kritisiert, Krankenhäuser würden teilweise unnötige Operationen durchführen. Die Fronten sind verhärtet. Es geht einerseits um viel Geld, andererseits um Gesundheit und Wohlergehen. Die Ausgaben der gesetzlichen Kassen steigen seit Jahren: Im Jahr 2004 betrugen sie insgesamt 131 Milliarden Euro – im vergangenen Jahr lagen sie bei 169 Milliarden Euro; das entspricht einem Anstieg von 29 Prozent. Die darin enthaltenen Ausgaben für stationäre Krankenhausbehandlungen stiegen in diesem Zeitraum von knapp 45 auf 57 Milliarden Euro – ein Plus von 28 Prozent.

„Eine Steigerung unserer Einnahmen ist immer nur in dem Maße möglich, wie die Kassen Geld haben. “
„Eine Steigerung unserer Einnahmen ist immer nur in dem Maße möglich, wie die Kassen Geld haben. “ © Akhil Chandra, Klinikum Wolfsburg

Obwohl der Anstieg der Krankenhaus-Ausgaben also im Rahmen des Gesamtanstieges liegt, sind die Krankenkassen skeptisch. Sie werten einen Großteil des Anstiegs als starken Hinweis auf medizinisch unnötige Operationen, unter anderem auch deshalb, weil es regional große Unterschiede bei der Häufigkeit bestimmter Operationen gibt, für die man keine triftigen Gründe feststellen könne.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft lässt die Vorwürfe nicht auf sich sitzen. Sie hat gestern parallel zum AOK-Krankenhausreport ein Gutachten veröffentlicht, das vom Deutschen Krankenhaus-Institut erstellt wurde. Das Fazit: „Es gibt keine gezielte und medizinisch unbegründete Leistungsausweitung aus primär ökonomischen Motiven.“

Das sehen zwei Klinikvertreter aus unserer Region genauso: Helmut Schüttig, Geschäftsführer des Klinikums Braunschweig, und Akhil Chandra, Leiter des Strategischen Medizincontrollings am Klinikum Wolfsburg. Beide halten den Vorwurf der Kassen für überzogen und zählen mehrere Argumente auf.

▶ Schüttig zufolge wird jeder vom Arzt überwiesene Patient im Krankenhaus erneut von einem Facharzt untersucht. Zwar sei das Anspruchsniveau der Patienten gestiegen, aber niemand werde ohne Notwendigkeit operiert.

Auch Chandra betont, dass die Entscheidung für eine Operation nie ohne eingehende Untersuchung und Beratung erfolge: „Ein künstliches Gelenk zum Beispiel ist nicht lebensnotwendig, deshalb wägt man ab zwischen den Leiden des Patienten, der Wahrscheinlichkeit, dass die Operation etwas bringt, und den Begleiterkrankungen sowie möglichen Komplikationen.“

▶ „Es mag sein, dass in Deutschland zum Beispiel mehr Knie- und Hüftgelenke eingesetzt werden, als in anderen Staaten“, sagt Schüttig. Es gebe aber bei uns immer mehr Menschen, die 90 Jahre und älter werden; hinzu komme der medizinische Fortschritt – beides führe zwangsläufig zu mehr Operationen.

Chandra betont, dass in Wolfsburg etwa bei Hüft- und Kniegelenken kein Anstieg der Eingriffe zu verzeichnen sei. Zwar gebe es in einigen Häusern Zielvereinbarungen, so dass Chefärzte bei mehr Operationen einen Bonus bekommen. Doch das Wolfsburger Klinikum gehöre nicht dazu, und die Höhe des bundesweiten Anstiegs der Operationen sei damit auch nicht zu erklären.

Ein entscheidender Grund ist auch aus seiner Sicht die Demografie: Die immer älteren Patienten seien nicht mehr bereit, Symptome des Älterwerdens wie etwa Schmerzen bei Gelenkverschleiß oder Rückenleiden ohne ursächliche Behandlung hinzunehmen.

▶ Beide betonen zudem, dass eine Steigerung der Operationszahlen nicht automatisch zu höheren Gewinnen führe: Bei einer Ausweitung der Leistungen über die mit den Krankenkassen jährlich vereinbarte Menge hinaus erhielten die Krankenhäuser diese nur zu 35 Prozent erstattet.

▶ Chandra und Schüttig sehen noch ein weiteres, grundsätzliches Problem – eine unzureichende Finanzierung der Krankenhäuser: Vor allem Tariferhöhungen und steigende Energiekosten machten den Kliniken zu schaffen, da die Budgets nicht entsprechend stiegen. „Die Schere geht seit Jahren auseinander“, mahnt Schüttig. Chandra ergänzt: „Eine Steigerung unserer Einnahmen ist immer nur in dem Maße möglich, wie die Kassen Geld haben, aber nicht entsprechend der Ist-Kosten.“ Viele Krankenhäuser seien effizienter geworden, doch viel mehr Effizienz sei kaum noch möglich. „Außerdem stellt Niedersachsen im Vergleich mit anderen Ländern sehr wenig Geld für Investitionen zur Verfügung; die Häuser müssen also vieles selbst zu finanzieren versuchen.“

Auch Carsten Sievers, der Pressesprecher der AOK in Niedersachsen, sieht mehrere Gründe für den Anstieg der Operationszahlen – er kommt damit zu einer differenzierten Sichtweise als der AOK-Bundesverband: „Man kann nicht pauschal sagen, dass viele Operationen medizinisch unnötig sind. Das wird sicherlich hier und da mal der Fall sein, aber man wird es kaum nachweisen können.“

Grundsätzlich werde heutzutage früher operiert als noch vor einigen Jahren; Sievers führt das auf verbesserte Methoden zurück: „Nach einer Hüftoperation lag man früher mehrere Wochen im Krankenhaus – heute geht man schon nach wenigen Tagen zur Reha.“ Das erhöhe auch die Bereitschaft der Patienten, sich auf so einen Eingriff einzulassen.

„Wir haben also die Tendenz, dass konventionelle Therapien zugunsten von Operationen zurückgehen, und häufig bedeutet das eine schnellere Heilung – das hat medizinische Vorteile und ist keineswegs verwerflich. Allerdings steigen dabei eben die Kosten“, sagt Sievers.

Wie die Gesellschaft damit umgehen will, müsse diskutiert werden, betont er. „Wir sollten dabei aber nie über Rationierung reden, also über das Vorenthalten medizinisch notwendiger Leistungen. Stattdessen könnte man über Priorisierung sprechen. Damit ist die Abwägung über die Vorrangigkeit bestimmter Therapien oder Patienten gemeint.“