Braunschweig. IG Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban über sinnvolle Altersvorsorge und die Zukunft der staatlichen Rentenversicherung

Herbert Lindhofer: Da ich nun 63 bin, ist für mich die wichtigste Frage: Wie komme ich im Rentenalter zurecht? Ich habe als Selbständiger eine gesetzliche Altersversorgung und eine freiwillige. Aber ich habe auch Mitarbeiter, die denken nicht anders als ich, die sagen: Mir steht das zu! Ich möchte mit 65 aufhören, oder am liebsten schon mit 63! Die fragen sich: Kann ich überhaupt bis 67 arbeiten?

Der größte Anteil der Erwerbstätigen oder der kleinen Selbständigen wird nicht in der Lage sein, bis 67 zu arbeiten. Das lassen die Arbeitsbedingungen gar nicht zu. Nicht mehr ältere Beschäftigte, sondern mehr ältere Arbeitslose und gekürzte Renten – das werden die Folgen höherer Altersgrenzen sein. Das darf nicht sein! Die Anhebung der Altersgrenze ist eine Fehlentscheidung. Statt der Rente mit 67 brauchen wir mehr flexible Wahlmöglichkeiten. Starre Altersgrenzen widersprechen der Lebenspraxis. Menschen haben unterschiedliche berufliche Biographien.

Florian Thielebörger: Der Generationenvertrag sieht vor, dass die Jungen dafür sorgen, dass die Alten nicht in die Armut abrutschen. Dieses System steht jetzt aber auf der Kippe, weil es mehr alte und weniger junge Menschen gibt. Glauben Sie, dass es in den nächsten Jahren noch schlimmer wird, oder wird sich das einpendeln?

Es gibt eine Entwicklung, die mir besonders große Sorge macht: Das Vertrauen der jungen Menschen in die gesetzliche Rentenversicherung hat sehr gelitten.

Viele sagen: „Ob ich einzahle oder nicht, für mich wird am Ende sowieso nichts mehr da sein.“ Das ist fatal! Denn auf die private Vorsorge zu setzen, ist nur eine Scheinalternative. Als ergänzende Regelung kann das zwar schon Sinn haben. Aber die private Vorsorge hat wegen des Prinzips der Kapitaldeckung drei Nachteile: Erstens ist sie unsicher, die Rendite ist nicht vorauszusagen. Zweitens ist sie auch nicht immun gegenüber der Alterung der Gesellschaft. Drittens beteiligen sich Arbeitgeber in der Regel eben nicht an privaten Versicherungen. Dadurch werden sie für den Arbeitnehmer automatisch teurer, weil er den Arbeitgeberanteil mitfinanzieren muss.

Man sollte der nachwachsenden Generation keine Angst machen. Aufgabe des Sozialstaates ist es, die Rentenversicherung so solide zu halten, dass junge Menschen von heute auch in vier Jahrzehnten noch eine gewisse Sicherheit haben, eine auskömmliche Rente zu bekommen.

Carolin Holota: Von den Auszubildenden bei uns haben ziemlich viele echte Zukunftsängste. Was sollte man denn konkret tun, wenn man jetzt am Anfang seines Berufslebens steht?

Ich bin kein Versicherungsvertreter. Ich rate zu einem gewissen Vertrauen in die gesetzliche Rente und sich bei denen zu engagieren, die politisch dafür kämpfen, die staatliche Rentenversicherung stabil zu halten. Wer zusätzlich privat vorsorgen will, sollte keinen überzogenen Renditeversprechen trauen.

Lindhofer: Die entscheidende Frage ist ja: Wie kriegen wir mehr Leute in Arbeit, damit wir durch deren Beiträge auch wieder mehr Geld in den Topf der Rentenversicherung kriegen?

Natürlich ist es wichtig, die Zahl der Arbeitslosen zu reduzieren. Genauso wichtig ist aber auch, dass die Beschäftigungsverhältnisse sozial abgesichert sind und man von Löhnen leben kann. Von den im letzten Jahr neu eingestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind 70 Prozent nicht in sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeit eingetreten, sondern in Leiharbeit oder befristete Arbeit.

Das trifft vor allem junge Menschen, ganz unabhängig von ihrer Qualifikation. Es werden ungeheuer viele Hürden aufgebaut, bis jemand die Chance auf ein reguläres unbefristetes Arbeitsverhältnis hat. Das muss sich ändern.

Thielebörger: Derzeit wird eine Absenkung des Beitrags zur Rentenversicherung diskutiert. Manche wollen ihn aber auch bis auf 22 Prozent hochsetzen. Was halten Sie für den richtigen Weg?

Alle seriösen Prognosen für die Zukunft sagen, wenn die Alterung der Gesellschaft weiter voranschreitet, dann werden wir einen höheren Anteil für die Versorgung der Älteren aufbringen müssen. Das ist aber weder ein neues Phänomen noch eine Katastrophe.

Wir werden nämlich parallel eine deutliche Steigerung der Produktivität und des gesellschaftlichen Reichtums erleben, wie in der Vergangenheit auch. Dadurch wird der Kuchen insgesamt deutlich größer werden. Wenn man dann ein größeres Stück für die Alterssicherung nimmt, bleibt für andere Dinge immer noch mehr übrig. Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass ein Sozialversicherungsbeitrag von 22 Prozent im Jahr 2030 keine Katastrophe ist.

Natürlich ist ein steigender Beitragssatz zunächst mal eine Belastung für Erwerbstätigen. Ich warne aber davor, immer zu sagen, das als Nachteil zu sehen. Schließlich werden durch die Beiträge auch Ansprüche erworben. Deshalb sage ich: Es ist allemal besser, den Beitragssatz moderat anzuheben und damit das System stabil zu halten, als jetzt scheinbare Entlastungen zu organisieren, die Menschen dann aber im Alter im Stich zu lassen.

Lindhofer: Was halten Sie denn von einer Ausgleichszahlung des Staates – aus einem ganz anderen Topf – um die Rentenversorgung zu stabilisieren?

Das halte ich für eine sinnvolle Regelung, wir haben ja heute schon einen steuerfinanzierten Anteil in der gesetzlichen Rentenversicherung. Den kann man auch erhöhen, um den Beitragssatz zu stabilisieren oder gar zu senken.

Wenn ich mir die Vermögensverteilung in dieser Gesellschaft anschaue und sehe, dass das oberste Zehntel mehr als 60 Prozent des Geldvermögens besitzt, während 50 Prozent der Gesellschaft überhaupt nichts besitzen – dann finde ich, eine gemäßigte Vermögenssteuer, die ins Rentensystem fließt, eine verträgliche Lösung. In anderen Ländern sind die Systeme ja oft zu 100 Prozent steuerfinanziert.

Holota: Die höhere Lebenserwartung hat ja schon zum Rentenalter von 67 Jahren geführt. Wie lange werden wir denn mal arbeiten müssen?

Das vermag im Moment keiner genau vorherzusehen. Mediziner gehen von einer weiter steigenden Lebenserwartung aus, auch wenn sie wohl etwas langsamer steigen wird als in der Vergangenheit.

Heute liegt das durchschnittliche Rentenzugangsalter bei rund 60 Jahren. Bevor man also überhaupt darüber nachdenkt, das Alter hochzusetzen, sollte man dafür sorgen, dass die Bedingungen so sind, dass die Leute überhaupt bis zum aktuellen Rentenalter arbeiten können.

Wir wissen im Übrigen, dass die Lebenserwartung sehr ungleich verteilt ist. Je geringer das Einkommen und der Bildungsgrad, je größer die Arbeitsbelastung, umso kürzer ist die Lebenserwartung. Das heißt, es gibt auch im Hinblick auf die Möglichkeit, die Rente überhaupt noch in Anspruch nehmen zu können, eine sehr große Ungerechtigkeit. Das müssen wir dringend diskutieren.

Ich finde es schade, dass wir die steigende Lebenserwartung fast nur als Problem diskutieren – eigentlich ist das doch eine tolle Sache.

Thielebörger: SPD-Chef Sigmar Gabriel hat eine Mindestrente von 850 Euro vorgeschlagen. Reicht das?

Ich finde die Idee, diejenigen, die keine ausreichenden Rentenansprüche erwerben konnten, abzusichern, richtig. Schwierig finde ich, wenn diese Absicherung an so viele Voraussetzungen geknüpft wird, dass sie die Menschen, die sie brauchen, nicht mehr erreicht. Da muss man aufpassen.