Braunschweig. Jordi Serangeli sprach über Erkenntnisse, Überraschungen und Hoffnungen bei den Grabungen an der Fundstelle der Schöninger Speere

Brigitte Kamrath: Wie groß ist das Grabungsgelände hier?

Dieser Sockel, auf dem wir graben, ist ca. 3500 Quadratmeter groß.

Kamrath: Was für ein Gelände ist das gewesen – vor 300 000 Jahren? Wo stehen wir hier?

Wir stehen hier am Ufer eines großen, ehemaligen Sees und gleichzeitig am Rand der heutigen Tagebau-Grube. Das ist ein großes Glück. Wenn die Speere nicht hier am Ufer gelegen hätten, sondern weiter im See, nach heutiger Ansicht 200 Meter weiter im Tagebaugelände, dann hätte man sie wahrscheinlich nicht bergen können.

Reinhard Brandes-Wanger: Was interessiert Sie hier am meisten zu finden?

Ich stehe hier vor Ihnen allein, aber mit mir arbeiten etwa 60 Kollegen aus der ganzen Welt. Daher sage ich „uns“ interessiert am meisten, wie der Mensch gelebt hat, wie seine Umwelt aussah, wie damals das Klima war und wie es sich im Laufe der Jahrtausende geändert hat.

Erich Münch-Krause: Sie haben hier so etwas wie Terrassen angelegt, die Verfärbungen zeigen. Können Sie bereits daraus etwas erkennen?

Die unterschiedlichen Farbschichten zeigen uns die Entwicklung dieses Sees durch Verlandungsfolgen. Die dunkle Verfärbung beispielsweise gehört zu einer organischen Sedimentschicht. Dazu zählt der Erlenbruchwald, der hier gestanden ist.

Münch-Krause: Konnten Sie schon auf das Klima schließen?

Auf der untersten Ebene unserer Grabung befinden wir uns in einer sehr warmen Periode, in der hier in Schöningen unter anderem Waldnashorn, Waldelefant, Wasserbüffel, aber auch Hyänen und Löwen gelebt haben. Wir haben von diesen Tieren Knochen und Zähne gefunden. Darüber, in einer weniger warmen Periode, kommen Tiere wie Auerochsen, Wisente und Hirsche häufiger vor, da sie an mildere klimatische Verhältnisse angepasst sind.

Weiter oben, ungefähr dort, wo Sie jetzt stehen, gab es eine offene, trockene, kühle Steppe, in der Wildpferde zahlreich waren.

Brandes-Wanger: Welche Erkenntnisse haben Sie bereits über den Menschen gewonnen?

Die Menschen waren hier, als es warm war und sie sind auch geblieben, als es kälter wurde. Sie waren bereits damals anpassungsfähig.

Kamrath: Stimmt es, was man liest, dass die Speere damals schon perfekt waren?

Ja, das stimmt. Die Speere sind sogar hoch modern und in ihrer Beschaffenheit vergleichbar mit den Speeren, die bei den Olympischen Spielen verwendet werden. Damals wurden sie allerdings zur Jagd benutzt. Ein Speer musste töten, sonst taugte er nicht.

Brandes-Wanger: Was mag das nur für ein unglaublicher Entwicklungsprozess gewesen sein...

Wie lange solch ein Prozess für die Menschheit gedauert hat, können wir nicht wissen, aber es ist schon beeindruckend, dass diese Speere, die älteste Fernwaffen der Welt, damals schon perfekt waren.

Sehen Sie sich diesen Speer, eine Nachbildung, an: Die Spitze des Speeres ist nicht in der Mitte, sondern seitlich. Weshalb?

In der Mitte des Baumes befinden sich die feinsten Kanäle, die die Pflanze mit Nährstoffen versorgen. Dieses Holz ist weich, die Spitze bricht. Ordne ich die Spitze weiter seitlich an, ist das Holz härter, und die Spitze bricht beim Auftreffen auf den Untergrund nicht.

Münch-Krause: Die müssen ja ziemlich lange an einem Speer geschnitzt haben.

Das waren erfahrene Sammler und Jäger, die viele Speere während ihres Lebens geschnitzt haben. Vielleicht arbeiteten sie zwei, drei Stunden an einem Speer. Für ihre Messer aus Feuerstein werden sie vermutlich sogar nur zwei Minuten gebraucht haben, dann war das scharfe Werkzeug fertig. Schließlich hing ihr Leben davon ab.

Kamrath: Das war aber schon der Homo heidelbergensis, oder?

Ja, das war er. Ich sage gerne auch Prä-Neandertaler, da sich aus dem Homo heidelbergensis der Neandertaler entwickelte. Und von beiden tragen wir noch heute Gene in uns.

Brandes-Wanger: Hier stehen so viele gefüllte Plastiksäcke mit abgetragener Erde herum. Wissen Sie später noch, wohin die gehören?

Natürlich. Die gesamte Grabung wird genau dokumentiert und die Säcke sind mit Zetteln versehen, so dass wir immer wissen, woher sie kommen. Wir bergen aus dieser Fundschicht alles, was größer als ein Millimeter ist.

Münch-Krause: Und was finden Sie in diesen Abtragungen?

Mäusezähne, kleinste Feuerstein-Splitter, Insektenflügel, Pflanzenreste, Muscheln, Wirbel und Schuppen von Fischen – manchmal sogar Eierschalen.

Brandes-Wanger: Feuerstein-Splitter? Haben die ihre Messer etwa schärfen können?

Ja, das haben sie regelmäßig getan.

Münch-Krause: Die müssen ein tiefes Wissen über ihre Umwelt gehabt haben.

Sie hatten ein tiefes Wissen über ihre Umwelt, da sie ein Teil davon waren, und hier in Mitteleuropa mehrere Jahrtausende gelebt haben.

Münch-Krause: Dann sehen Sie also hinter jedem Artefakt den Menschen?

Hinter jedem Artefakt steckt der Mensch, der es hergestellt hat, mit seiner Erfahrung, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen und seiner eigenen Geschichte.

Kamrath: Aber hoffen Sie denn nicht, Siedlungsspuren zu finden?

Wir sind hier ja am Rande eines Sees. Hier gab es Feuchtigkeit, Nebel, Mücken – würden Sie hier siedeln wollen? Die Siedlung wird deshalb oberhalb des Sees gelegen haben, möglicherweise dort wo die Jugendherberge, die Kirche St. Lorenz oder der Golf-Club in Schöningen stehen. Sie hatten von da aus den Blick vom Lappwald bis zum Brocken, und natürlich auf den See im Tal. Wer da oben siedelt, hat mit dem schönen Ausblick auch alle Informationen darüber, was um ihn herum geschieht.

Brandes-Wanger: Dann muss man also in Schöningen suchen.

Wir verdanken die Fundstellen in Schöningen dem damaligen See und den Gletschern, die sie ausgespart haben. Dort wo die Stadt ist, am Hang des Elms, ist höchstwahrscheinlich alles abgetragen worden und daher würde man wahrscheinlich gar nichts finden.

Kamrath: Haben Sie denn hier unten vielleicht schon einen menschlichen Schädel gefunden?

Leider nein. Vielleicht hat es aber einen Jagdunfall gegeben. Das würde mich als Archäologe natürlich freuen. Aber in der Archäologie wissen wir, dass so etwas schon im nächsten Quadratmeter gefunden werden könnte. Vielleicht liegt er einen Meter unter Ihren Füßen.

Brandes-Wanger: Mich wundert, dass das alles hier, die Faszination dieser Welt, von der Sie uns berichten, in der Bevölkerung so wenig bekannt ist.

Es passiert oft, dass die Menschen häufiger die Museen im Ausland als die in der Umgebung kennen, weil sie im Urlaub vermutlich mehr Zeit dafür haben. Für das, was sie vor der Haustür haben, interessieren sie sich viel weniger, oder die Zeit im Alltagsleben reicht nicht aus.

Münch-Krause: Was könnte man denn dagegen tun?

Mich wundert, dass Archäologie nicht in der Schule unterrichtet wird.

Geschichte fängt eben mit der Urgeschichte, also mit der Archäologie an, und es macht Spaß zu forschen und zu verstehen, wie „wir“ in der Vergangenheit gelebt haben.

Aber in unserer Gesellschaft wird den „Promis“ und in der Schule den Kaisern, Königen, Generälen und Edelleuten meist mehr Gewicht gegeben.

Die Entscheidung, im „paläon“ einen außerschulischen Lernort einzurichten, ist schon ein sehr guter Schritt.

Münch-Krause: Das stimmt, das ist ein sozialer Lebensraum, den Sie hier freilegen.

Ja. Der schlichte Mensch ist uns wichtig, der hier vor etwa 300 000 Jahren als Sammler und Jäger lebte.