Braunschweig. Jonah Sievers erklärt, welche Bedeutung das Ritual für Juden hat und warum er keinen Grund sieht, davon Abstand zu nehmen

Markus Pfeiffer: Die Beschneidung der Vorhaut von kleinen Jungen ist bei Juden und Muslimen seit Jahrtausenden ein religiöses Ritual. Warum wird sie gerade jetzt so stark thematisiert?

Das hat mit zwei Sachen zu tun: Zum einen gibt es eine Religionsferne bis Religionsfeindlichkeit in der Gesellschaft. Zum anderen haben wir es hier mit dem Profilierungsdrang des Strafrechtlers Professor Putzke aus Passau zu tun, der schon 2008 im Deutschen Ärzteblatt einen Aufsatz zur Strafbarkeit religiöser Beschneidungen an Jungen veröffentlicht hat und das Ritual für rechtswidrig hält.

Und dann gab es eben noch die Staatsanwaltschaft in Köln, die das Ganze zur Verhandlung hat kommen lassen.

Bita Schafi-Neya: Was bedeutet Ihnen die Beschneidung?

Sie ist neben dem Sabbat und den Gebetsriemen eines der drei Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk. Sie ist ein Gottesgebot; ein Zeichen der Identität und der Zugehörigkeit.

Bita Schafi-Neya: Viele deutsche Juden haben gesagt, bei einem Verbot der rituellen Beschneidung sei jüdisches Leben hier nicht mehr möglich. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Die Religionsausübung würde nicht unmöglich werden, aber sie würde erschwert – das wäre eine Zäsur.

Bita Schafi-Neya: Was spricht dagegen, dass man die Beschneidung nicht am achten Tag durchführt, sondern wenn das Kind älter ist?

Gegenfrage: Was spricht denn gegen den achten Tag? Aus unserer Sicht nichts. Wir sehen die Beschneidung als kleinen Eingriff, der hinzunehmen ist, wenn Artikel 4 und Artikel 6 des Grundgesetzes tangiert sind – also das Recht auf Religionsausübung und das elterliche Erziehungsrecht.

Sigrid Probst: Aber im Grundgesetz, Artikel 2, ist auch die Rede vom Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Diese Argumentation ärgert mich zutiefst, denn häufig führt diese zu Aussagen wie: „Ihr Juden und Ihr Muslime haltet Euch nicht an die Gesetze in diesem Lande und wollt das auch nicht tun.“ Aber diese Interpretation des Verfassungsrechtes, wie sie auch Professor Putzke und das Kölner Landgericht vertreten, ist doch nicht die einzig gültige, und sie ist auch juristisch nicht unwidersprochen.

Sigrid Probst: Unser Grundgesetz ist etwas besonders Wertvolles. An diesem Grundgesetz orientieren sich so viele Länder – das darf man nicht einfach abtun.

Ich bin auch Verfassungspatriot. Aber meine Sichtweise, wie die verschiedenen Grundrechte in dieser Frage gegeneinander abgewogen werden, ist eine andere als Ihre.

Sigrid Probst: Ich musste während meiner Arbeit mit Migranten zweimal türkische Jungs blutend ins Krankenhaus fahren, weil es bei der Beschneidung Komplikationen gegeben hatte.

Es ist doch klar, dass wir nur über Beschneidungen reden, die medizinisch fachgerecht und bei gesunden Kindern durchgeführt wurden.

Bita Schafi-Neya: Die Beschneidung hat ja auch durchaus hygienische und gesundheitliche Vorteile.

Genau, und sie ist nicht schädlich, nicht traumatisierend – sonst müssten ja weltweit viele Männer traumatisiert sein. Also, warum muss man sich jetzt so eine Hysterie antun?

Sigrid Probst: Die Beschneidungen in den USA gehen seit einiger Zeit zurück.

Das bezieht sich auf die routinemäßigen Eingriffe. Die Amerikaner haben das ja auch bei der nicht-jüdischen und nicht-muslimischen Bevölkerung gemacht.

Sigrid Probst: Auf jeden Fall gibt es unter Ärzten unterschiedliche Meinungen, ob die Beschneidung wirklich sinnvoll ist. Aber etwas anderes:

Mehr als 30 Prozent der Menschen in Deutschland sind nicht mehr religiös gebunden. Die christlichen Kirchen erleiden einen starken Aderlass. Das sind doch deutliche Zeichen.

Sicher, aber wenn fünf Prozent meinen, dass es für sie zwingend notwendig ist, eine Religion zu praktizieren, dann schützt unsere Verfassung eben diese fünf Prozent. Es ist völlig unerheblich, wie viele Menschen die Beschneidung ihrer Kinder wollen. Das ist nämlich keine Frage von Quantität, sondern die Frage ist, ob das ein Recht ist. Es ist eine Frage der Religionsfreiheit. Sie werden aber immer Juden und Muslime finden, die nicht beschneiden. Doch die meisten Juden tun es – selbst wenn sie nicht religiös sind. Daran können Sie sehen, dass die Beschneidung eine sehr hohe identitätsstiftende Bedeutung hat und keine Frage von besonders orthodoxem Leben ist.

Sigrid Probst: Aber eine Mehrheit der Menschen in Deutschland spricht sich in Umfragen gegen die rituelle Beschneidung aus.

Die Mehrheit würde wahrscheinlich auch die Todesstrafe für Kindervergewaltiger einführen wollen. Damit möchte ich nur deutlich machen, dass die öffentliche Meinung nicht immer mit der des Gesetzgebers übereinstimmen muss.

Markus Pfeiffer: Was sagen Sie zu der Forderung, mit der Beschneidung zu warten, bis ein Kind selbst entscheiden kann?

Wenn Sie das konsequent zu Ende denken, dürfte man eigentlich überhaupt keine religiöse Erziehung machen. Dann ist die Taufe vielleicht auch irgendwann mal Diskussionsgegenstand.

Bita Schafi-Neya: Die Taufe ist aber im Gegensatz zur Beschneidung kein körperlicher Eingriff, der nicht rückgängig zu machen ist.

Das Grundgesetz gibt den Eltern das Erziehungsrecht – und wir erziehen unsere Kinder im religiösen Glauben, weil wir finden, dass es für sie gut ist. Kein Kind wird durch die Beschneidung daran gehindert, die Religion später zu wechseln.

Markus Pfeiffer: Wie empfindet Ihre Gemeinde die Debatte?

Einige haben das durchaus als Angriff auf das Judentum verstanden. In der Antike war es ja schon einmal der Fall, dass die Beschneidung ausgesucht wurde, um gegen die jüdische Religion vorzugehen.

Markus Pfeiffer: Fühlen Sie sich denn insgesamt akzeptiert in Deutschland?

Ja. Wir leben unbehelligt, wir sind Deutsche, wir sind offen, machen Veranstaltungen und beteiligen uns am gesellschaftspolitischen Diskurs. Es lebt sich hier natürlich nicht so normal wie in den USA. Hier spielt schon immer die Geschichte eine Rolle, aber es hat sich einiges verändert – die gepackten Koffer sind zum größten Teil ausgepackt. Trotzdem gibt es eben noch schwierige Dinge, wenn es um Fragen der Shoa geht oder um solche Fragen wie jetzt.

Sigrid Probst: Ist man ein Antisemit, wenn man die Beschneidungspraxis ablehnt? Diesen Vorwurf hört man leider sehr schnell.

Natürlich ist deswegen nicht jeder ein Antisemit. Studien zeigen aber, dass es bei 20 Prozent der Deutschen ein Potenzial für antisemitische Einstellungen gibt. Die Beschneidung ist ein Thema, wo das hervorbricht.

Sigrid Probst: Diese 20 Prozent gibt es in anderen Ländern leider auch.

Ich habe nicht gesagt, dass es hier schlimmer ist als anderswo.

Sigrid Probst: Aber wir beziehen immer alles auf unsere Vergangenheit. Mir hat jemand gesagt: „Ausgerechnet unser Land macht so etwas.“ Da ist wieder die Mahnung an das wirklich Schreckliche, das die Deutschen angerichtet haben – aber wir hier am Tisch sind daran doch nicht schuld.

Deutschland hat nun mal diese Geschichte, davor kann man nicht weglaufen. Da geht es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung für die Zukunft. In Deutschland einen Präzedenzfall gegen die Beschneidung zu schaffen, wäre kein gutes Zeichen für die Religionsfreiheit in diesem Lande. Deshalb hat die Politik zu Recht schnell reagiert.

Markus Pfeiffer: Der Bundestag hat sich ja dafür ausgesprochen, dass die rituelle Beschneidung per Gesetz straffrei bleiben soll. Wird die Debatte aufhören, falls es dazu kommt?

Nein, weil uns der Konflikt zwischen säkularem Staat und Religionsfreiheit weiter beschäftigen wird.

Markus Pfeiffer: Was sind die Gründe für die zunehmende Distanz gegenüber gelebter Religiosität?

Ich weiß es nicht. Vielleicht fehlt das Gespür für das Mystische, Spirituelle – vielleicht suchen die Menschen diese Dinge woanders.

Bita Schafi-Neya: Was ist Ihr Wunsch?

Dass diese Debatte auf einem guten Niveau geführt wird und es zügig zu einer Entscheidung kommt.