Braunschweig. Der Braunschweiger Hirnforscher Martin Korte räumt mit Vorurteilen und Glaubenssätzen über das Altwerden auf

Walter Zimdahl: In welchem Alter fingen Sie an, über das menschliche Gehirn nachzudenken?

Martin Korte: Erst im Laufe meines Studiums habe ich das Gehirn gewissermaßen entdeckt, und ich habe übrigens bis zu meinem 40. Lebensjahr gebraucht, um mein eigenes Gehirn im Kernspintomographen zu sehen. Erst seitdem weiß ich sicher, dass ich eins habe.

Das Interesse hat sich im Laufe meines Studiums entwickelt, als mir klar wurde, dass das Gehirn nicht nur ein faszinierendes Organ ist, und alles, was mit dem Gehirn zu tun hat, hat ganz eng mit dem zu tun, was uns als Menschen ausmacht. Gedächtnis, Individualität, die Fähigkeit zur Kultur, Persönlichkeit, Gefühle – all das ist nur denkbar mit unserem Gehirn. Das hat mich fasziniert, weil es so viele Facetten der Forschung, auch des philosophischen Nachdenkens über einen selbst, ermöglicht.

Sabine Genther: Gibt es einen Zusammenhang zwischen lebenslangem Lernen und Altern? Ich habe mit vielen Menschen zu tun, die zwischen 50 und 80 Jahre alt sind. Da sind manche mit 50 schon sehr eingeschränkt, und manche mit 82 noch sehr fit.

Korte: Es gibt dabei zwei Aspekte. Man kann untersuchen, was sind Faktoren, die das Auftreten der Alzheimer-Erkrankung sozusagen begleiten. Da sieht man, dass zum Beispiel starkes Übergewicht ein Faktor ist, der zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von Alzheimer führt, aus Gründen, die man noch nicht vollständig verstanden hat. Die Ernährungsweise kann eine Rolle spielen, dann die genetische Disposition, denn bestimmte Menschen haben eine genetische Ausstattung, die es wahrscheinlicher macht, dass sie sieben bis acht Jahre früher Alzheimer bekommen. Und der andere Aspekt ist die Bereitschaft, ein Leben lang Neues zu lernen, was ja oft mit Bildung einhergeht. Bildung und kognitive Alterung haben direkt etwas miteinander zu tun, weil man feststellt, dass die kognitive Leistungsfähigkeit des Gehirns um so länger erhalten bleibt, je länger man dieses Gehirn intensiv nutzt.

Man stellt aber fest, dass Bildung gar nicht vor Alzheimer schützt, sondern dass das Auftreten der Erkrankung, so dass es sichtbar wird durch eine Einbuße der kognitiven Leistungsfähigkeit, um sieben bis acht Jahre nach hinten verschoben wird.

Genther: Also keine Abnutzung.

Korte: Im Gegenteil. Es werden mit jeder neuronalen Aktivität auch Wachstumsfaktoren ausgeschüttet, die die Lebensfähigkeit von Nervenzellen erhalten. Darüber hinaus ist es so, dass Lernen dazu führt, dass in bestimmten Regionen des Gehirns neue Nervenzellen gebildet werden. Diese neuen Nervenzellen sind eine Art kompensatorischer Effekt auf den Verlust. Wenn sie also zehn Nervenzellen verlieren und vier wieder ersetzen, ist es besser als zehn zu verlieren und nur eine zu ersetzen. Das ist das, was man durch Lernen bewirken kann und entsprechend muss man sagen, dass Lernen den kognitiven Alterungsprozess verlangsamt.

Luise Thormann: Ich denke, die Symbiose zwischen Körper, Geist und Seele spielt eine große Rolle: Der Körper hilft der Seele, die Seele hilft dem Körper.

Korte: Der Aspekt ist der, dass wir weder ein isoliert lebendes Gehirn haben, noch einen isoliert lebenden Körper. Das sieht man auch an den Ratschlägen in meinem Buch. Die meisten Dinge, die ich vorschlage, nutzen auch dem Herzen, dem Kreislauf, der Muskulatur. Oder auch Vorschläge zur Meditation, mit denen ich erkläre, wie man seinen Körper und seinen Geist versucht, in eine Balance zu bringen.

Thormann: Viele alte Menschen trauen sich nichts zu, und es wird ihnen nichts zugetraut. Und deswegen legen viele von sich aus die Messlatte niedriger, als es nötig wäre.

Korte: Man muss die Anforderung an Tätigkeiten, die man zugleich machen möchte, zurückschrauben. Aber man muss auch von sich selbst etwas fordern. Nicht im Sinne eines Jugendwahns. Ältere Menschen haben ganz bestimmte Qualitäten. Wir sprechen immer davon, wie schlecht das Gedächtnis im Alter wird, und vergessen, dass ein 60-Jähriger doppelt so viel weiß wie ein 30-Jähriger, er hat 30 Jahre mehr an Wissen gespeichert. Selbst wenn er von diesen 30 Jahren nur die Hälfte aufrufen kann, hat er immer noch 15 Jahre mehr an Wissen. Das heißt, wir müssen an uns und an Ältere Ansprüche stellen, aber altersgerechte Ansprüche. Alte können sehr gut erzählen, können sehr gut die Dinge in Wort fassen – unsere sprachliche Intelligenz nimmt bis ins hohe Alter noch zu. Wir müssen als Gesellschaft lernen, Ansprüche an die Älteren zu stellen, und zwar altersgerecht. Und jetzt kommt der Dreh: Das Gehirn richtet nämlich seine Leistungsfähigkeit danach aus, was es glaubt, von sich erwarten zu können. Wenn wir uns nichts zutrauen, klappt es auch nicht.

Zimdahl: Die überkommene Ansicht vom alten Menschen ist ja der Ruhestand. Wenn man Glück hatte, ging man im Alter von 65 Jahren.

Korte: Wir haben es mit einer Altersstruktur zu tun, die Bismarck als Rentensystem eingeführt hat, das übrigens 140 Jahre alt ist. Damals war es so, dass nur ein verschwindender Prozentsatz von Menschen überhaupt jenseits des 65. Lebensjahres gelebt hat. Man kann heute sagen, dass ein heutiger 70-Jähriger die Leistungsfähigkeit eines 60-Jährigen von vor 30 Jahren hat. Sie sehen, was da durch Ernährung, durch gesündere Umwelt, durch Medizin erreicht wurde. Was aber auch heißt, dass die Gesellschaft viel offener darüber nachdenken muss, wie man seine Lebensarbeitszeitkonten vermittelt.

Das heißt, über längere Arbeitszeit nachzudenken, was wiederum nicht bedeutet, dass der berühmte Dachdecker bis zu seinen 67. Lebensjahr auf dem Dach rumturnen muss, sondern man muss darüber nachdenken, welche Tätigkeiten er sinnvollerweise in einer Firma noch einbringen kann. Alle älter werdenden Experten müssen nicht auf ihrer Position bleiben, sondern können in die Beratung gehen oder wo auch immer und können ihre Expertise wieder einbringen.

Thormann: Altersbedingte Minderleistungen sollten aber von der Gesellschaft nicht als Schwäche oder Krankheit abgetan werden. Damit werden viel Lebensqualität und Engagement ausgeschlossen.

Korte: Jemand, der mit 65 Jahren in Rente geht, und noch 20 oder 30 Jahre vor sich hat, plant sein Leben anders. Man kann fortsetzen, was man vor vielen Jahren begonnen und dann unterbrochen hat, beispielsweise sich im Verein zu engagieren, Sport zu treiben, ein Instrument zu spielen. Etwas, zu dem man schon immer einen Bezug hatte. Ich warne allerdings davor, etwas völlig Neues zu beginnen, zu dem man noch nie einen Bezug hatte, nur weil man gehört hat, die Neurowissenschaftler sagen, man altert langsamer, wenn man eine Fremdsprache lernt. Ich sage, man sollte vielmehr das tun, worin man ein Leben lang Experte geworden ist, das wieder aufgreifen, was man schon mal gelernt hat, zum Beispiel ein Musikinstrument, das man als junger Mensch gespielt hat.

Genther: Aber wie kriegen wir das ins Bewusstsein der Gesellschaft?

Korte: Wir brauchen eine gesellschaftliche Neubewertung. An einer gesellschaftlichen Neubewertung sind ganz viele Gruppen beteiligt. Nicht nur Politiker und junge Menschen, sondern auch die Alten selber. Das Alter muss realistischer gesehen werden. Wenn Ihnen gesagt wird, im Alter verschlechtert sich das Gedächtnis, dann achten Sie auch mehr darauf. Denken wir an das Namensgedächtnis. Wenn Sie alt sind und sich nicht an einen Namen erinnern, schieben Sie es auf das Alter, wenn Sie jung sind auf den Stress. Der Fehler ist der gleiche. Das muss man erkennen.

Zimdahl: Ist es möglich, dass das Gehirn länger als 100 Jahre lebt.

Korte: Das Gehirn kann länger als 100 Jahre leben. Da spielt zum einen die genetische Disposition eine Rolle. Vor allem jenseits des 85. Lebensjahres stellt man fest, dass die Genetik mehr bestimmt, wie man altert. Aber bis zum 85. Lebensjahr bestimmt der Lebensstil maßgeblich, wie das Gehirn altert. Das beginnt schon Mitte der 40er Jahre.

Ein Mensch, der sich um das 50. Lebensjahr regelmäßig bewegt, der sozial aktiv ist, der reist, der einen Freundeskreis hat, das ist der, der im 80. Lebensjahr am leistungsfähigsten ist. Man kann damit aber auch noch im 65. oder 70. Lebensjahr beginnen. Jedes Alter bringt noch was, aber je früher man beginnt, eine gehirngerechte Vorsorge zu betreiben, umso besser.