Braunschweig. Leibwächter und Anti-Aggressionstrainer Michael Stahl über Jugendgewalt, fehlende Väter und Zivilcourage

Günter Koschig: Meinen Sie, dass die Schulen gut aufgestellt sind gegen Gewalt und Mobbing ?

Ich finde es falsch, wenn man die Probleme immer auf die Lehrer schiebt. Die Schule ist wie ein Handwerksbetrieb. Sie kann nur mit dem Material arbeiten, das die Eltern ihnen zu Verfügung stellen. Wenn wir bedenken, dass ein deutscher Durchschnittsvater drei Minuten Zeit hat für sein Kind, unsere Kinder aber stundenlang vor dem Computer und der Playstation sitzen, muss ich mir die Frage stellen: Was wird dem Kind vermittelt? Was sieht es für Bilder? Was muss die Seele verarbeiten? Wenn unsere Kinder so in die Schule kommen, ist Chaos vorprogrammiert. Wir müssen in den Familien wieder anfangen, miteinander zu reden. Die Lehrer haben es immer schwerer, müssen sich heute einen ganz anderen Ton anhören und werden beleidigt. 60 bis 70 Prozent der Lehrer sagen mir: Ich kann nicht mehr, ich bin ausgebrannt. Das geht nicht.

Gudrun Meurer: Ist es nicht für die Lehrer auch immer schwerer, in großen Gruppen die einzelnen Kinder überhaupt wahrzunehmen?

Es ist immer mehr Unruhe in den Klassen, weil immer mehr Unruhe in unseren Seelen ist. Wir waren früher 32 Kinder in der Klasse. Wenn ich heute in Kindergärten Projekte mache, zappeln die Kinder ständig. Als kleiner Junge wollte ich ein Abenteurer sein, ich habe mich ausgetobt. Das, was sich angestaut hat, konnte ich beim Fußballspielen oder am Sandsack rauslassen. Heute kommen viele Kinder nicht mehr an die frische Luft. Wenn wieder Frieden in den Seelen ist, können wir auch wieder mit 25 oder 30 Kindern arbeiten. Unsere Jungs dürfen heute gar keine richtigen Jungs mehr sein. Ein Junge muss sich auch raufen. Und es müssen Männer in die Schulen und Kindergärten. Nur von einem Mann lernt ein Junge, wie er ein Mann wird.

Günter Koschig: Welche Bedeutung hat der Sport aus Ihrer Sicht?

Sport ist sehr wichtig. Vereine sind immer auch ein Stück Familienersatz. Ich halte Vorträge vor Neonazis, Mördern und Vergewaltigern. In sämtlichen Gruppierungen geht es darum, einen Familienersatz zu finden. Ein Vater muss seinem Sohn sagen, dass er ein toller Kerl ist. Und dass er ihn lieb hat. Viele sind aber nicht da. Wenn das der Vater nicht macht, wird er sich die Anerkennung woanders holen. Ich war in Ostdeutschland in den Schulen. Da standen die Rechtsradikalen hinter den Zäunen und haben gewartet, bis die Jugendlichen das Gelände verlassen. Die geben ihnen das, was sie brauchen: Familie. Im Verein habe ich auch Anerkennung und Wert. Ein Problem ist, dass in vielen Fällen der Ehrgeiz nicht mehr da ist. Wenn heute ein kleiner Junge zum Fußballverein geht und er darf zwei Wochen nicht spielen, geht Mama zum Trainer und sagt: Wenn mein Sohn nicht spielen darf, hört er auf. Beharrlichkeit, Ausdauer wird belohnt. Das lernt man im Verein.

Gudrun Meurer: Gibt es da Unterschiede bei Jungen und Mädchen, was die Bedürfnisse angeht?

Natürlich. Ich habe Tausende Jungs und Mädchen gefragt, was sie am liebsten mit Mama oder Papa machen wollen. Keiner hat gesagt, dass er Playstation spielen will. Die einfachsten Dinge sind oft die besten in unserem Leben. Was brauchen unsere Kinder? Ein wärmendes Nest, Bewegung und Vater und Mutter, die da sind. Wenn ich ein Mädchen frage, was es gerne mit seiner Mutter machen will, sagt sie Shoppen oder einen Kaffee trinken gehen. Aber was passiert denn dann? Man redet miteinander. So viele Eltern sagen mir, dass sie nicht mehr an die Kinder rankommen. Du musst mit deinem Kind etwas unternehmen. Wenn dein Kind reden will, fängt es von alleine an. So einfach ist das.

Gudrun Meurer: Das Einfache zu transportieren ist ja anscheinend schwierig. Warum ?

Bei Mobbing und Gewalt geht es auch immer um Schuld. Und Menschen suchen immer die Fehler bei den anderen. Wir können nur bei uns selbst anfangen. Mein Vater war ein Schläger und ein Säufer. Zu ihm bin ich eines Tages gegangen und hab ihm gesagt, dass ich ihn lieb habe. Diese Bitterkeit, die wir mit uns herumschleifen, lassen wir an uns selbst und an anderen Menschen aus. Gewalt entsteht aus dieser Bitterkeit heraus. Vor eineinhalb Jahren wäre meine Frau fast bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein junger Kerl fährt mit 145 in sie rein. Ihre Freundin ist auf der Stelle tot. Meine Frau und meine kleine Tochter kämpfen ums Überleben. Ich habe in der Nacht des Unfalls dem Verursacher vergeben. Da fragen mich die Leute: Wie kannst du das? Da sage ich: Sonst muss ich das doch alles selbst tragen. Das kann ich nicht. Nur Vergeben macht frei.

Steven Keim: Arbeitest Du noch mit anderen Sicherheitsfirmen zusammen?

Seit sechs Jahren mache ich gar nichts mehr im Bereich Sicherheitsdienst. Ich arbeite immer mehr in Kindergärten und Schulen. Dort kann man die Menschen noch formen. Im Sicherheitsdienst siehst du das Endprodukt, wenn die Gewalt schon ausartet. Aber ich habe auch in 15 Jahren Sicherheitsdienst noch nie einen Menschen geschlagen.

Gudrun Meurer: Wie kann das funktionieren?

Zunächst mal brauchst du als Bodyguard sehr viel Demut. Denn das ist ja eine Dienstleistung. Du wirst beleidigt und vielleicht auch abfällig behandelt. Du wirst zehnmal am Abend Arschloch, zehnmal Wichser genannt und fünf wollen dir das Leben nehmen. Aber wenn man seinen Wert kennt, ist das egal. Dann können sie mich so lange beleidigen, wie sie wollen. Es gab schon Leute, die habe ich in den Arm genommen, als sie mich schlagen wollten. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, jemanden zu kontrollieren, ohne ihn zu verletzen. Das heißt aber nicht, dass ich nicht einschreiten würde, wenn es um mein eigenes Leben geht oder jemand vergewaltigt wird. Da würde ich kämpfen.

Günter Koschig: Wir versuchen auch durch unsere Zivilcourage-Kampagne eine Kultur des Hinschauens aufzubauen. Mit Kinospots und Plakaten. Was können wir noch mehr tun, um Zivilcourage zu fördern und zu fordern?

Wir können viel fordern. Aber das hat immer damit zu tun, wieviel es einem Wert ist, sich einzusetzen. Wert wird immer auch von Liebe abhängig sein. Ich brauche Wertschätzung vor mir selbst und den anderen. Habe ich die nicht, werde ich auch nicht einschreiten. Da juckt mich auch das Plakat nicht. Wenn mich die Leute fragen, ob ich mein Leben hergeben würde für meine Schutzperson, da könnte ich jetzt hier im Warmen viel blubbern. Natürlich würde ich mich wie bei Bodyguard vor das Opfer werfen. Wenn es um Leben und Tod geht, das im Bruchteil von einer Sekunde zu entscheiden, vielleicht geht dir noch mal deine Familie durch den Kopf, das kann ich nur, wenn ich auch in dieser Situation wäre.

Günter Koschig: Ist es denn immer sinnvoll, dazwischen zu gehen?

Es gibt viele Arten der Hilfe. Das schlimmste wäre, wegzugucken. Man muss sich nicht unnötig in Gefahr bringen, sondern kann die Polizei anrufen und andere Leute ansprechen. Ich weiß nicht, wie viele Leute mich umbringen und zusammenschlagen wollten. Aber komischerweise habe ich in all den Situationen nie erlebt, dass große starke Kerle dazwischen gegangen sind. Es waren fast immer Frauen und ältere Menschen.

Steven Keim: Warum hast Du letztendlich als Bodyguard aufgehört?

Ich war in der ganzen Welt unterwegs und hatte meinem Sohn Autogramme von allen möglichen Stars mitgebracht. Aber die kleinen Abenteuer, von denen ich gesprochen habe, habe ich ihm nicht gegeben. Als Jugendlicher hat er sich dann in eine andere Welt geflüchtet, saß vor dem Computer und kannte irgendwann seinen eigenen Wert und den Wert seines eigenen Lebens nicht mehr. Als ich meine zweite Frau kennengelernt habe und wir ein Kind haben wollten, habe ich den Punkt erreicht, dass das alles zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Das in Kombination mit dem Elend und dem Leid, das ich gesehen habe, hat mich darin bestärkt, dass ich das nicht mehr machen wollte. Jetzt mache ich Vorträge, viele Projekte, und ich habe eine Sportschule, in der jeder trainieren kann. Auch wenn er kein Geld hat. Außer wenn er für Playstation, Alkohol und Zigaretten Geld hat. Wer für dieses Gift Geld hat, kann auch für meine Angebote bezahlen. Ansonsten kann aber jeder trainieren. Ich mache das, weil ich weiß, wie es ist, wenn man sich nichts leisten kann.