München. Das Bergsteigerpaar Alix von Melle und Luis Stitzinger gehört zu den Stars der Alpin-Szene. Sie sprechen über Liebe, Angst und das Glück am Gipfel.

Matthias Körner: Was hat euch am Ziel Nanga Parbat gereizt?

Stitzinger: Der Nanga Parbat hat in Deutschland einen sehr großen Nimbus. Es gibt über keinen anderen Berg so viele Bücher – es war also auch die ganze Historie, die uns dort hingezogen hat. Außerdem ist die Route zum Gipfel von Nordwesten her sehr spannend. Einfach und ungefährlich ist diese sogenannte Kinshofer-Route weißgott nicht. Der Berg ist von jeder Seite absolut beeindruckend und es gibt keinen „Normalweg“.

Kai Maluck: Habt ihr unterwegs an die Dramen gedacht, die sich am Nanga Parbat abgespielt haben?

Von Melle: Mich interessiert die Geschichte eines Berges, aber ich lese historische Bücher erst nach einer Expedition.

Stitzinger: Ich nehme aus Prinzip keine Bergbücher mit, lese abends im Lager Krimis, um mal abzuschalten. Allerdings habe ich mir in der Gipfelflanke schon gedacht: Aha, hier hat sich Reinhold Messner 1970 entschlossen, über die Nordseite abzusteigen, wo sein Bruder Günther dann umgekommen ist. Die Diamir-Flanke sieht von oben deutlich sanfter aus, als sie in Wirklichkeit ist.

Körner: Luis – du bist dann mit Skiern genau diese Diamir-Flanke heruntergefahren. Das stelle ich mir sehr extrem vor.

Stitzinger: Schon 1990 sind Hans Kammerlander und Diego Wellig die Kinshofer-Route stückweise heruntergefahren, mussten sich zwischendurch aber immer wieder abseilen. Ich habe es auf einer anderen Linie komplett geschafft. Ein Freund hat mich mit dem Feldstecher beobachtet und mich mit dem Funkgerät durch das Gletscherlabyrinth gelotst. Ich bin innerhalb von zwei Stunden durchgekommen, war richtig euphorisch. An die Gefahren – Gletscherspalten, Eisschlag – habe ich in dem Moment nicht gedacht.

Von Melle: Ich war da zum Glück schon gar nicht mehr am Nanga Parbat, sondern schon wieder im Alltag zu Hause. Das live mitzuerleben, wäre für mich nicht so einfach.

Körner: Als ihr 2008 am Nanga Parbat wart, ist der Südtiroler Bergsteiger Karl Unterkircher dort tödlich abgestürzt. Wie geht ihr mit dem Risiko beim Höhenbergsteigen um?

Stitzinger: Wir blenden das nicht aus, uns ist bewusst, dass so etwas passieren kann, aber wir denken nicht jede Minute daran. Wir sind beide vorsichtig, defensiv. Aber wir akzeptieren das Risiko, was bei diesen Unternehmungen generell dabei ist. Bergsteiger können keine Vollkasko-Mentalität haben.

Von Melle: Ich habe viel mehr Angst um Luis als um mich. Wenn wir in einem lawinen- oder steinschlaggefährdeten Hang sind, sag‘ ich mir immer: Du hast alles im Griff. Aber die Angst um den Partner bleibt. Das schlimmste für mich wäre, wenn ich einmal alleine von einer Expedition zurückkommen müsste. Über diese Ängste und Risiken spreche ich nicht mit meiner Familie, das teile ich eher mit Bergsteiger-Freunden.

Petra Weiß: Ihr seid während einer Expedition zwei Monate am Stück ununterbrochen als Paar zusammen. Gibt es da auch mal Konflikte?

Stitzinger: Wenn nur einer zwei Monate lang weg wäre, gäbe das wahrscheinlich mehr Zündstoff als zwei Monate so eng beieinander zu sein. Aber natürlich haben wir auch mal Zoff, weil wir unterschiedlicher Meinung sind. Wenn wir bei schlechtem Wetter im Basislager hocken und uns die Zeit davonrennt, dann ist in der gesamten Mannschaft Druck. Das lässt auch die Beziehung nicht unberührt. Wir haben gelernt, uns im Zweifel auf zwei Quadratmetern zusammenzuraufen, ohne Rückzugsraum. Da wird uns die richtige Wohnung sicher nie zu klein, diese Erfahrung hilft im Alltag.

Von Melle: Natürlich geht man sich mal auf die Nerven, wenn man zwei Monate ohne Privatsphäre ist. Aber wir streiten eher zu Hause, etwa, wenn einer Probleme von der Arbeit mit nach Hause bringt. Auf Expedition harmonieren wir sehr gut.

Weiß: Welche Bedeutung hat für euch der Wettkampfgedanke beim Bergsteigen?

Stitzinger: Ich laufe ich meinen eigenen Wettkampf gegen mich, gegen den inneren Schweinehund. Ich lote meine Grenzen aus: Wie schnell kann ich diese Route schaffen? Aber ich gehe nicht auf einen Berg, um den Rekord eines anderen zu knacken. Das schönste Erlebnis ist sowieso, wenn jeder Expeditionsteilnehmer im Sinne des Teamsports den Gipfel erreicht hat.

Von Melle: Dafür war unsere Expedition zum Nanga Parbat das beste Beispiel: Wir waren alle sechs innerhalb einer Viertelstunde am Gipfel. Wir haben uns gegenseitig unterstützt, außer Luis hätte es keiner von uns alleine geschafft.

Körner: Was fühlt ihr auf dem Gipfel eines Achttausenders? Seid ihr rundum zufrieden oder seht ihr schon wieder das nächste Ziel?

Stitzinger: Du bist schon glücklich. Und erleichtert, dass es nicht mehr weitergeht. Aber nach ein paar Minuten denke ich wieder an den Abstieg. Denn erst, wenn du sicher wieder im Tal bist, warst du wirklich oben. Nach einer Expedition bin ich ausgefüllt, aber wir schmieden auch gleich wieder neue Pläne.

Weiß: Seid ihr enttäuscht, wenn ihr es – wie am Makalu – mal nicht zum Gipfel schafft?

Stitziger: Zwar gilt der alte Spruch: „Der Weg ist das Ziel.“ Aber natürlich war ich enttäuscht, als uns am Makalu 450 Meter fehlten. Der Weg ist erst am Gipfel zu Ende, deshalb fühlt es sich unvollständig an.

Maluck: Wie bereitet ihr euch auf eine Expedition vor?

Von Melle: Das wichtigste ist Ausdauertraining. Im Winter stehen wir morgens oft um fünf Uhr auf, laufen mit Tourenski schnell auf einen Münchner Hausberg und sind um zehn Uhr im Büro. Im Sommer fahren wir viel Mountainbike, gehen Klettern und machen Bergläufe mit. In den Wochen vor dem Abflug stellen wir unsere Ausrüstung zusammen und gehen noch mal zum Arzt.

Weiß: Euer Fokus liegt dann also ausschließlich auf dem Projekt ...

Von Melle: Ja. Das erfordert Disziplin, soziale Kontakte kommen zu kurz. Vier Wochen vor einer Expedition habe ich nicht den Kopf frei, um noch auf eine Geburtstagsparty zu gehen. Doch das Bergsteigen ist uns so wichtig, dass wir ohne die Berge nicht glücklich wären.

Stitzinger: Wir können schon sagen, dass die Berge uns fürs Leben sehr wichtig sind – nicht nur als Trainingsgelände, sondern als Kulturraum, als Landschaft. Wenn du als Feierabendsport auf einen Gipfel gehst und den Sonnenuntergang erlebst, dann geht dir das Herz auf.

Körner: Wie schafft ihr es, das Bergsteigen mit euren Berufen zu kombinieren?

Von Melle: Bergsteigen ist für uns mehr als ein Hobby. Mit einem normalen Job würde das so nicht funktionieren. Ich habe zehn Jahre beim Alpenverein in München gearbeitet, der mir naturgemäß sehr viel Verständnis entgegengebracht hat. 2010 bin ich zu einem großen Ausrüstungshersteller gewechselt, der mir ein Jahresstundenkonto ermöglicht. Bis zu zwölf Wochen im Jahr kann ich weg, dafür bringe ich die Erfahrungen von den Expeditionen mit zurück.

Körner: Luis – du bist Bergführer für den „Summit Club“ des Alpenvereins. Wie gehst du mit dem Dilemma um, dass du als Bergführer Touristen in die Berge holst und damit ein Stück weit Natur gefährdest?

Stitzinger: Man muss alles in einem vernünftigen Rahmen belassen. Trekking und Bergsteigen sind da wohl die sanfteste Form. Immer, wenn Tourismus in Massentourismus umschlägt, gibt es unschöne Begleiterscheinungen. Gegen diese Missstände – egal ob in den Alpen oder im Himalaya – müssen wir etwas tun. Im Karakorum bekommen Träger Geld von der Regierung, wenn Sie den Müll der Expeditionen einsammeln. In Pakistan gibt es viele Entwicklungshilfeprojekte, weil Bergtouristen sie angestoßen haben. Wenn ich nicht in die Berge gehen würde, würde ich keine Natur zerstören. Ich würde mich dann aber auch nicht für sie einsetzen.

Von Melle: Die meisten Bergsteiger haben ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein, aber es gibt schwarze Schafe. Am K2 haben wir vergangenes Jahr die Müllberge einer taiwanesischen Expedition gefunden. Da hat mich die Wut gepackt: Dieser wunderschöne Berg mit Müll davor.

Maluck: Alix – du bist in Hamburg aufgewachsen. Wie kamst du von dort überhaupt in die Berge?

Von Melle: In meiner Jugend habe ich tatsächlich gar nichts mit den Bergen zu tun gehabt. Zum Abitur bin ich mit einer Freundin zum ersten Mal in den Alpen Ski gefahren. Mein Geografie-Studium habe ich dann schon in München abgeschlossen, um mehr Bergsport treiben zu können. Das war wunderbar: Plötzlich die Alpen vor der Haustür. Als ich Luis 1998 kennengelernt hatte, haben gleich gemeinsam den Aconcagua in Südamerika bestiegen. Ich war frisch verliebt und habe die Chance wahrgenommen, so eine Expedition mitzumachen. Dabei habe ich den Reiz entdeckt, neben dem Bergsteigen fremde Kulturen kennenzulernen.

Maluck: Luis – du warst aber schon immer in den Bergen verwurzelt …

Stitzinger: Ich bin in einer Bergsteigerfamilie im Allgäu aufgewachsen. Mein Vater war Bergführer und hat die Bergsteigerschule des Alpenvereins mit gegründet. Es ist also kein Wunder, dass so etwas aus mir geworden ist. Die ganze Familie ist Berg-verseucht – und jetzt haben wir die Alix auch hereingezogen.

Leser fragen – Diese Leser haben das Interview geführt

Petra Weiß, Matthias Körner und Kai Maluck haben Alix von Melle und Luis Stitzinger für unsere Zeitung befragt. Alle drei gehören der Sektion Braunschweig des Deutschen Alpenvereins an. Redakteur David Mache hat das Gespräch aufgezeichnet.