Braunschweig. Leser fragen Ministerpräsident Haseloff: Der promovierte Physiker nimmt unter anderem Stellung zu den Lehren aus Fukushima.

Außerdem äußert er sich zu seinem Leben als gläubiger Christ in der DDR und zu einer stärkeren interkommunalen Zusammenarbeit zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

Harald Eitge: Herr Ministerpräsident, auch in unserer Region halten Sie Vorträge zum Thema „Herausforderungen und Chancen einer gemeinsamen Region“. Gibt es diese Gemeinsamkeiten über Ländergrenzen hinweg?

Es gibt auf vielen Ebenen schon eine Vernetzung. Das umfasst unter anderem die Fragen von Abwanderung und Pendlerströmen. Seit 1990 sind fast eine Million Menschen aus Sachsen-Anhalt abgewandert und mehr als 600 000 Menschen zugezogen, darunter auch viele Niedersachsen. Von 140 000 Pendlern, die die Grenzen unseres Bundeslands täglich hinter sich lassen, fahren 40 000 in diese Region. Die A 2 ist die Lebensader, die uns verbindet, und am Beispiel der bestehenden Zugverbindungen im öffentlichen Personennahverkehr zeigt sich das Grenzüberwindende in der Praxis.

Eitge: Wo erkennen Sie noch Parallelen? Welche gemeinsamen Projekte können Sie sich vorstellen?

Wir haben mittlerweile eine Angleichung der volkswirtschaftlichen Daten, insbesondere, wenn wir uns die Regionen Braunschweiger Land und Magdeburger Land anschauen. Da gibt es in der verarbeitenden Industrie eine Annäherung der Produktivitätszahlen, und davon profitieren beide Seiten in unterschiedlicher Weise. Auch ein Konzern wie VW trägt dazu maßgeblich bei.

Auf der anderen Seite gibt es symbolische Projekte wie das „Grüne Band“ oder die Gedenkstätte in Marienborn, wo wir an die langen Jahre der Trennung erinnern. Und es gibt Überlegungen, die noch nicht ausgereift sind: Ob es nicht sinnvoll ist, eine gemeinsame Bundesgartenschau in den nach 2018 renaturierten Braunkohlegebieten jenseits der ehemaligen Grenze zu organisieren. 2019 wäre so ein Jahr, 30 Jahre nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung.

Redaktion: Inwieweit verhindert der Föderalismus diese Bündnisse? In unserer Region merken wir, dass die Bündelung regionaler Kompetenzen schon schwierig genug ist…

Man darf sich die Zusammenarbeit von Kommunen innerhalb eines Bundeslandes auch nicht allzu rosig vorstellen. Die Konkurrenz der Kommunen bei der Verteilung von Fördergeldern untereinander ist größer, als man denkt. Da sind die Verbindungen, die zwischen Bundesländern bestehen – nehmen Sie die Städtepartnerschaften – richtig wohltuend.

Ich gebe aber auch zu, dass es, wenn man sich die Region Harz mit dem West- und dem Ostharz anschaut und die unterschiedlichen Förderschemata sieht, eine historisch gewachsene Konkurrenzsituation gibt. Ich bin da aber zuversichtlich, dass sich die Situation auch durch die Gründung des gemeinsamen Verbandes entspannt. Ich hoffe, dass dort, auch weil es geografisch nicht anders machbar ist, gemeinsame touristische Infrastrukturen geschaffen werden. Wenn das Tal in Niedersachsen ist, aber der Lift auf die Bergspitze nach Sachsen-Anhalt führt, liegt es doch auf der Hand, die Zusammenarbeit auszubauen.

Andreas Fox: Die Bürgerinitiative Morsleben, die die Schließung des dortigen atomaren Endlagers anstrebt, hofft, wie im Fall der Asse in Niedersachsen, auf die Einsetzung einer Begleitgruppe. Da kommen Bürger, Vertreter der Kommunen, Fachleute und Mitarbeiter der Betreiber zusammen und stehen im ständigen Dialog. Welche Hoffnungen können Sie mir da machen?

Ich kann das nicht verordnen. Man kann das höchstens stimulieren, wenn man da Bedarf sieht. Der Unterschied zur Asse ist doch, dass wir hier den Beschluss haben, dass das Endlager geschlossen wird. Es läuft ein juristisches Verfahren, das die Schließung begleitet. Dennoch verstehe ich das Bedürfnis der betroffenen Bevölkerung, fortwährend Einblick in die Vorgänge der Behörden zu erhalten.

Fox: Wo würden Sie die Bedeutung des Umweltschutzes in Sachsen-Anhalt verorten?

Wir haben die Situation, dass wir im Gegensatz zu Niedersachsen keine flächendeckende Identifikation der Bevölkerung mit den Umweltverbänden haben. So protestiert der BUND immer wieder gegen den Bau der A-14-Nordverlängerung, obwohl es sich um einen Lückenschluss handelt und eine überwältigende Mehrheit der Menschen dort diese Autobahn dringendst will.

Wir kommen aus der Hölle und sind in einem umweltpolitischen Paradies angekommen. Das sage ich als einer, der als Physiker im Umweltschutz der DDR gearbeitet hat. Ich kenne die Situation in der Gegend Bitterfeld zu DDR-Zeiten und jetzt. Heute könnten wir dort ohne große Anstrengungen das Prädikat „Luftkurort“ bekommen. Das soll heißen: Wir haben auf diesem Gebiet einen Qualitätssprung erlebt, den wir so nicht mehr erwartet haben. Mit diesem Wissen müssen auch Umweltinitiativen sich den Einstellungen der Bevölkerung annähern. Der geht es mehrheitlich um andere Themen: Sichere wirtschaftliche Verhältnisse, Ausbildungsplätze, gute Kinderbetreuung. Im Westen gibt es viel mehr als im Osten eine gewachsene Begleitkultur dieser umweltpolitischen Prozesse. Ich plädiere deshalb dafür, Geduld miteinander zu haben.

Redaktion: Wie stehen Sie zu dem eingeschlagenen politischen Kurs der Bundesregierung in der Atompolitik und der Endlagersuche?

Ich bin da ganz bei meinem Amtskollegen aus Niedersachsen, David McAllister, der sich dafür einsetzt, dass fachliche Kriterien die Endlagerfrage bestimmen und nicht einst gefällte historische Entscheidungen, die sich im Laufe der Jahre überholt haben. Ich bin als Physiker den neuen Technologien positiv aufgeschlossen. In den Fragen der Atompolitik und mit der Erfahrung von Tschernobyl kann ich nur sagen: Es gibt Entscheidungen des Menschen, die so tief in die Schöpfung eingreifen, dass sie nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die Atomkraft birgt diese Gefahr.

Fox: Hat Fukushima ihr politisches Handeln beeinflusst?

Als das AKW in Japan havarierte, hatte ich den Vorsitz in der Ministerpräsidenten-Konferenz inne. Ich bin froh, dass ich mich mit meinen Kollegen aus den Ländern auf einen klar geregelten Ausstiegsplan einigen konnte, dem die Kanzlerin zugestimmt hat. Die Entscheidung bedeutete aber zugleich, dass wir in einer Zeit der Überbrückung bis zum Jahr 2050 wieder auf fossile Brennstoffe wie Kohle setzen müssen, um die Energiesicherheit der Bevölkerung zu gewähren. Zeitgleich muss eine Reduzierung der CO2-Emissionen gelingen. Das ist der schmale Grat, auf dem wir energiepolitisch wandeln. Ich bin der Auffassung, dass die Atomkraft langfristig weg muss. Aber sie ist noch da, und alle haben davon partizipiert. Das ist auch ein Fakt.

Eitge: Wie kam ein Physiker nach der Wende auf den Chefsessel eines Arbeitsamtes?

Das hat viel mit meiner Herkunft, meiner Erziehung und mit meiner Religionszugehörigkeit zu tun. Ich wurde als Katholik früher und bis in die Zeiten meiner Promotion vom System ausgegrenzt, weil mir die „kaderpolitischen Voraussetzungen“ fehlten, wie es hieß. Meine Mutter sagte, ich solle etwas Ideologiefreies studieren. Da boten sich die Naturwissenschaften an. Doch auch als Physiker hatte ich wegen meiner Konfession nie die gleichen Chancen wie andere. Ich war dann in der Wendezeit in Wittenberg politisch engagiert, nach der Einheit unter anderem stellvertretender Landrat. Ich habe mich auf die ausgeschriebene Stelle im Arbeitsamt beworben und bin nach langem Hin und Her dann auch Beamter geworden. Das war durchaus beachtlich, denn vorher waren solche Posten meistens mit Westdeutschen besetzt worden.

Eitge: Es gibt ja auch einen Wettbewerb um Qualifikationen, der sich durch einen Fachkräftemangel noch verschärfen könnte. Stehen die Bundesländer Niedersachsen und Sachsen-Anhalt da in Konkurrenz?

Man darf das heute nicht mehr an Länder- oder Kreisgrenzen festmachen. Wir haben gemeinsame Beschäftigungsinseln, die mit Hilfe von VW und der IG Metall mittlerweile auch eine zunehmend vergleichbare tarifliche Bezahlung haben. Die gesamte Region gleicht sich also an. Die Lohnpolitik hat gleichwohl eine Sogwirkung bis hin nach Baden-Württemberg, ein Land, mit dem wir um Fachkräfte konkurrieren und in dem teilweise noch ganz andere Gehälter gezahlt werden können. Letztendlich sehen wir in der Beschäftigungspolitik zunehmend einen Nord-Süd-Kontrast und nicht mehr so stark einen West-Ost-Gegensatz. Gegen die Kritik, dass Sachsen-Anhalt nur mit Hilfe von staatlichen Fördermitteln Betriebe auch aus der Braunschweiger Region anlocken konnte, wehre ich mich. Es ging da nämlich oft nicht um die Frage Braunschweig oder Magdeburg, sondern um die Frage Braunschweig oder Rumänien.