Braunschweig. Leser fragen Frank-Walter Steinmeier : Vor wenigen Tagen warb der Fraktionsvorsitzende der SPD für eine gesetzliche Neuregelung der Organspende.

Über die sogenannte Entscheidungslösung soll die Organspende gesetzlich neu geregelt werden. Was das im Detail bedeutet, erklärte er auch im Interview mit unseren Lesern im Pressehaus.Der SPD-Fraktionschef will Bürger zu einer persönlichen Erklärung bewegen und die Bedingungen für Lebendspender verbessern.

Dr. Heinrich Kintzi: Umfragen zufolge stehen 75 Prozent der Bevölkerung der Organspende positiv gegenüber, doch nur 15 Prozent dokumentieren die Bereitschaft zur Spende in einem Ausweis. Diese Diskrepanz ist nur schwer zu erklären – möglicherweise passt der Gedanke an Sterben und Tod nicht in die lebensbejahende Gesellschaft. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Zurückhaltung?

Ich habe etwas Scheu, den Menschen neben der Euro- und der Wirtschaftskrise in Europa noch eine weitere Krise zuzumuten. Aber es gibt in der Tat eine Krise der Organspende. Dass so wenige einen Spenderausweis bei sich tragen, liegt zum einen an der alltäglichen Nachlässigkeit. Die Menschen sind nicht gefühlskalt, viele haben bestimmt das Formular irgendwo schon mal mitgenommen. Aber dann liegt es zu Hause auf dem Stapel und etwas kommt dazwischen – die Zahnschmerzen der Kinder oder ein wichtiger beruflicher Termin.

Außerdem gibt es diejenigen, die aus religiösen Gründen eine Organspende ablehnen. Und schließlich geht es um die Grenzfrage, die Frage um Leben und Tod. Wir beschäftigen uns nicht gerne mit ihr, sie wird verdrängt und verschoben – manchmal bis über die Grenze des Lebens hinaus.

Doch wir werden nur dann etwas bewegen, wenn wir den Menschen helfen, diese Frage nicht dauerhaft zu verschieben, wenn wir sie bitten, Ja oder Nein zur Organspende zu sagen. Derzeit streiten wir darüber, ob es entsprechende gesetzliche Mechanismen geben soll.

Klaus Künne: Warum gibt es keine bessere gesetzliche Regelung? In vielen Ländern Europas gilt die Widerspruchsregelung. Halten Sie die Erklärungslösung wirklich für die bessere oder ist sie einfach nur politisch besser durchsetzbar?

Der Unterschied zwischen der Entscheidungslösung, für die ich werbe, und der Widerspruchslösung, wie sie in Spanien oder Österreich gilt, ist gar nicht so groß. Auch in diesen Ländern wird nicht gegen den Willen der Angehörigen entschieden. Ich halte die Entscheidungsregelung für die bessere Lösung. Sie verzichtet in einer ethischen Grenzfrage darauf, gesetzlichen Zwang auszuüben. Sie behält die Freiwilligkeit bei. Sie erwartet nur eins von jedem Einzelnen: Eine Entscheidung zu treffen. Ja oder Nein ist nicht der Punkt. Das schafft auch Klarheit für die Angehörigen, die sonst diejenigen sind, die in der schweren Stunde des Abschieds mit dieser Frage konfrontiert werden.

Dr. Heinrich Kintzi: Es ist erschütternd, dass jeden Tag drei Menschen sterben, weil sie kein Organ bekommen. Die Entscheidungsregelung geht mir nicht weit genug. Warum kommt die Widerspruchslösung nicht in Betracht? Der Betroffene hat doch immer noch die Möglichkeit, Nein zu sagen.

Ich empfinde auch diejenigen als Unterstützung, die sich für die Widerspruchslösung aussprechen. Umfragen zufolge sprechen sich 45 Prozent für die Entscheidungslösung aus, 20 Prozent sind für die Widerspruchslösung – das macht über 60 Prozent, die eine Änderung des Rechts wollen. Doch im Bundestag habe ich schon Schwierigkeiten, die Bedenken gegen die Entscheidungslösung auszuräumen.

Lutz Doyé: Gibt es konkrete Gründe, warum sich das so zieht?

Für eine große Minderheit ist schon allein die Frage nach der Spendenbereitschaft eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts. Eine Reihe bewertet den Datenschutz höher als das Ziel einer Erhöhung der Spendenbereitschaft.

Glauben Sie mir, wir treten für die weitestgehende Möglichkeit ein, für die wir noch eine Mehrheit im Bundestag kriegen können. Ich habe mir das alles auch etwas rascher und entschiedener vorgestellt.

Dr. Heinrich Kintzi: Ist das nicht eine Diskussion unter Gesunden? Würden sich die Parlamentsmitglieder nicht ganz anders verhalten, wenn für sie selbst eine Organspende in Betracht käme oder für ihre Kinder?

Ja, es ist eine Debatte unter Gesunden. Aber die führen wir nicht nur auf politischer Ebene. Wer im Alltag die Entscheidung vor sich her schiebt, einen Organspendeausweis auszufüllen, ist meist auch noch gesund. Erst wenn sich das ändert, ist die Bereitschaft auch höher, sein Kreuzchen auf dem Organspendeausweis zu machen.

Dr. Hubert Binkhoff: Als Mediziner habe ich die Erfahrung gemacht, dass es viele Ängste gibt. Viele fragen sich: Wenn ich als Organspender infrage komme – wird dann noch alles Mögliche für mich getan oder wird womöglich die Behandlung verkürzt?

Es gibt die Verantwortung des Einzelnen, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen. Wenn aber jährlich mindestens 1000 Menschen sterben, die mit einer Organspende weiterleben könnten, gibt es auch eine Verantwortung der Politik; sie muss die Rahmenbedingungen für die Transplantation schaffen.

Allerdings gibt es auch Grenzen der Politik. Sie umfassen die Aufklärung und Information. Kann ich darauf vertrauen, dass mir die ärztliche Behandlung zuteil wird, die ich brauche? Bei solchen Fragen hat die Politik nicht die höchste Glaubwürdigkeit.

Informationskampagnen mit Prominenten allein reichen nicht aus, um Vertrauen zu schaffen; es geht nicht ohne die Ärzte und Krankenkassen, die ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit besitzen.

Dr. Hubert Binkhoff: Eine häufige Frage ist: Wann ist der Mensch wirklich tot? Wir müssen diese Ängste ernst nehmen. Wie kann eine gesetzliche Regelung den Patienten mehr Sicherheit geben?

Wir sollten bei der Änderung des Transplantationsgesetzes unbedingt Rücksicht auf diese Sorgen nehmen. Wenn jemand Zweifel hat, muss er sich mit Nein entscheiden können. Oder für die dritte Alternative. Er kann dokumentieren, dass er sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht entscheiden will.

Allerdings muss man auch deutlich machen: Die Feststellung des Hirntods ist in Deutschland an strenge Voraussetzungen geknüpft. Der Sterbeprozess wird über mindestens 48 Stunden verfolgt und zwei Mediziner müssen unabhängig voneinander den Hirntod feststellen. All das sind ja schon Sicherungen, die in das Gesetz eingebaut wurden. Mehr Sicherheit werden wir auch in Zukunft nicht geben können.

Lutz Doyé: Es sollen ja auch mehr Menschen für eine Lebendspende gewonnen werden. Warum wird den Spendern dann nicht mehr geholfen?

Das ist ein wichtiger Punkt. Nach der Organübertragung zwischen mir und meiner Frau bekam ich viele Zuschriften. Viele hatten ein ähnliches Schicksal und fühlten sich von ihrer Krankenkasse oder vom Arbeitgeber schlecht behandelt.

Tatsächlich gehen die Krankenkassen sehr uneinheitlich vor, angefangen von der Übernahme der Kosten bis hin zum Verdienstausgleich und den Anspruch auf Reha-Maßnahmen. Wir arbeiten gerade an einer Regelung, mit der wir die Situation der Lebendspender verbessern wollen. Aber Ziel sollte eigentlich sein, Lebendspenden überflüssig zu machen. Das sind sie dann, wenn postmortal gespendete Organe zur Verfügung stehen. Sie sehen, wir kommen zum Thema Organspendeausweis zurück…