Braunschweig. Rupert Neudeck rettete mit seinen Cap-Anamur-Frachtern nach eigener Zählung 11430 Flüchtlingen das Leben. Er stellte sich den Fragen unserer Leser.

Petra Behrens- Schröter (50) ist Geschäftsführerin des Diakonischen Werks in Salzgitter, zu dem auch eine Migrantenberatung gehört.

Stefan Göpke (46) kommt aus Braunschweig. Er ist regionaler Repräsentant der Israelfreunde Norddeutschland.

Uta Liebau (57) aus dem Kreis Goslar ist Mitglied der evangelischen Landessynode. Sie engagiert sich in der Flüchtlingshilfe „Leben in der Fremde“.

Petra Behrens-Schröter: Was beschäftigt sie derzeit am meisten, ist es noch die Aktion Cap Anamur?

Zunächst muss ich den Mythos killen, dass ich – wenn ich nicht gerade in Braunschweig bin – auf einem Schiff lebe und dort der Kapitän bin. Ich habe in meinem Leben zwei Berufe zugeschrieben bekommen, die ich nicht habe: Einmal bin ich Kapitän und dann bin ich Arzt. Auf der Cap Anamur war ich aber gar nicht Kapitän, sondern der Initiator dieser Flüchtlingsrettung. Und das zweite Missverständnis rührt vom Namen her: „Cap Anamur – Deutsche Notärzte e.V.“. Das ist immer noch meine Organisation, die wichtige Hilfsarbeit leistet. Unser gewaltige Aufgabe ist Afrika.

Behrens-Schröter: Warum liegt Ihnen Afrika so sehr am Herzen?

Die Politik ahnt noch gar nicht, was auf uns zukommt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind 18 Millionen Menschen von den Besten der Besten in Afrika auf dem Weg in den gelobten Kontinent, nach Europa. Diese Menschen nennen Europa, klug wie sie sind, „Schengen“. Sie wissen, wenn sie mit einer Pirogge von der Küste Mauretaniens fünf Tage und fünf Nächte durchhalten und dann auf Gran Canaria und Teneriffa landen, dass sie dann im Schengen-Raum sind. Die Menschen, die Afrika dringend zum Aufbau einer eigenen Wirtschaft braucht, verlassen den Kontinent. Das Schlimme ist: Allein in London arbeiten mehr Ärzte aus Sambia als in ganz Sambia.

Uta Liebau: Was muss geschehen, was können wir tun?

Wir haben 50 Jahre lang geschlafen. Mit wertvollen, von uns steuerzahlenden Bürgern aufgebrachten Mitteln haben wir nicht das gemacht, was sinnvoll gewesen wäre: Der Aufbau von Berufsausbildungsstätten und Arbeitsplätzen. Das ist einfach nicht geschehen. Ich versuche, solche Projekte voranzubringen. Wir werden bei uns die 18 Millionen Menschen ja niemals aufnehmen können. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unseren Blick nach Afrika wenden. Die Menschen, die im Senegal, in Guinea, in Mali oder im Niger aufbrechen, denen muss eine Ausbildung und ein attraktiverer Arbeitsmarkt in ihrer Heimat geboten werden.

Behrens-Schröter: Was hat es mit den „Grünhelmen“ auf sich?

Die Grün-Helme sind als Antwort auf den 11. September entstanden. Wir haben uns damals gesagt: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir, nachdem wir mit der Sowjetunion den Weltfeind verloren haben, uns nun mit dem Islam einen neuen machen. Da ich auch Theologe bin, ist es für mich eine ziemlich schlimme Beleidigung, wenn eine der drei großen abrahamitischen Religionen zu einem Weltfeind erklärt wird. Wir haben gesagt, dass wir nicht eine neue Akademie oder Konferenzen brauchen, sondern wir brauchen die Möglichkeit für junge Muslime und Christen, sich zusammen im Wiederaufbau zu engagieren.

Liebau: Sind wir Europäer bei der Umsetzung der Menschenrechte nicht unglaubwürdig, wenn wir einerseits Hilfsaktionen befürworten und andererseits die Agentur Frontex zum ,Schutz’ der EU-Außengrenzen unterstützen?

Da machen Sie ein ganz großes Fass auf, denn wir sind unglaubwürdig an fast jeder Ecke dieser Welt. Wir halten uns für die einzig fähigen Vertreter der universalen Menschenrechte, sind es aber nicht. Wenn es ans Eingemachte geht, dann wird es finster. Am 6. April 1994 zum Beispiel, als der Völkermord in Ruanda ausbrach, haben wir ganz schnell 1500 Menschen mit heller Hautfarbe ausgeflogen. Als sich dann die 1 Millionen Hutus und Tutsis abschlachteten, interessierte das nicht mehr groß – unsere Leute waren ja in Sicherheit... So etwas geschieht vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Liebau: Wie sollten wir Ihres Erachtens mit Flüchtlingen umgehen?

Derzeit dürfen leider nur Flüchtlinge in Deutschland bleiben, die beweisen können, dass sie in ihrer Heimat verfolgt werden. Natürlich sind es nicht alles Flüchtlinge, sondern viele sind einfach Migranten. Und wir müssen akzeptieren, dass auch Migranten ein Menschenrecht für sich in Anspruch nehmen. Artikel 13 der Charta der Menschenrechte sagt, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Land zu verlassen und in es zurückzukehren, wenn er es will. Darauf können sich Migranten berufen – sie haben ein Recht, bei uns auf Zeit zu bleiben.

Liebau: Mir wird immer gesagt, wir könnten nicht die ganze Welt in Deutschland aufnehmen. Aber der Goslarer Kreistag hat ein Zeichen gesetzt und gesagt, dass wir sechs Menschen aus dem Libanon aufnehmen. Ist das der richtige Weg?

Wir müssen unsere Bürger für mehr Offenheit auf diesem Gebiet gewinnen. Ich musste die Menschen damals auch für die Cap Anamur gewinnen. Einfach ist das nie. Auch die eigene Regierung muss man gewinnen. Uns war immer wichtig, dass wir unsere Hilfsarbeit nur mit privaten Mitteln leisten, dass wir keine Staatsknete verwenden. Denn wenn ich mich über den Staat finanziere, dann bin ich schon abhängig. Wir sind hier bei uns in der Lage, Dinge zu tun, die die eigene Regierung nicht will. Solche kleinen Aktionen, von denen Sie erzählen, sind vor diesem Hintergrund besonders wichtig, weil sie Bewusstsein bilden.

Stefan Göpke: Im Vorwort zu dem Buch „Afrika wird armregiert“ stellen Sie fest, dass es in den Ländern Schwarzafrikas die korrupten und verbrecherischen Regierungen sind, die Elend und Kriege zu verantworten haben. Warum blenden Sie diese Analyse bei den Palästinensern aus, wo ähnliche Zustände herrschen?

Ich blende nichts aus, Sie sind auf dem Holzweg. Ich sage vielmehr, dass die Palästinenser eine Saubande als Führung haben, die für sie nicht das rausholt, was möglich ist. Sie haben diese Führung nicht verdient, aber sie haben sie. Israel ist an diesem Zustand allerdings auch beteiligt, weil es die Saubande mit Privilegienunterstützt. Das Traurige ist: Israel-Palästina ist der einzige Platz in der Welt, an dem man in den 32 Jahren meiner Arbeit nicht nur einer Lösung nicht näher gekommen ist, sondern wo sich die Verhältnisse sogar kontinuierlich verschlechtern.

Göpke: Aber bei der Wahl im Gaza-Streifen hat die Hamas die meisten Stimmen bekommen. Die Palästinenser haben sie gerade wegen ihrer Israel-Feindlichkeit gewählt...

Vergessen Sie nicht, dass die Hamas von Israel lange unterstützt worden ist, als es noch darum ging, einen Konkurrenten zu Arafats PLO und Fatah aufzubauen. Die Hamas ist von israelischer Besatzungsmacht mit gezeugt worden, das ist auch von israelischer Seite unbestritten. So lange es in diesem Land eine Besatzung gibt, haben wir eine unselige Situation. Das ist es, was von Israel erwartet wird: Kein Staat kann nach Völkerrecht eine Besatzung so lange aufrechterhalten, wie er will. Diese Besatzung geht ins 43. Jahr, sie muss beendet werden.

Behrens-Schröter: Sie haben drei Kinder, wie stehen die zu Ihren Aktivitäten, stehen sie dahinter?

Man soll ja hoffen, dass die Kinder nicht das machen, was die Eltern machen – sie müssen sich ja abstoßen. Wir haben uns zu Weihnachten getroffen, meine Kinder und Enkelkinder waren da. Die eine arbeitet in Simbabwe für eine deutsche Organisation. Die andere ist Deutschlehrerin am Goethe-Institut in Barcelona; ihr Mann ist ein argentinischer Arzt, der hier nicht ohne weiteres arbeiten durfte. Und der Dritte kam aus Berlin. Alle drei sind nicht bei Cap Anamur oder den Grünhelmen gelandet. Aber dass sie in der gleichen Richtung aktiv sind, dass finde ich letztlich doch sehr schön.

Behrens-Schröter: Sie sehen so oft die Lage in Krisenherden. Warum resignieren Sie nicht? Woher kommt die Kraft zu immer neuen Projekten?

Man muss etwas tun, das ist eben meine Überzeugung. Nicht immer nur Studien schreiben. Sondern man muss dorthin gehen, wo es brennt, und gucken, was da los ist. Solche Arbeit, zum Beispiel ein palästinensisches, von jüdischen Siedlungen umzingeltes Dorf mit Solarpanels auszustatten, das bringt einem Kraft. Die haben dann Strom, man sieht den Erfolg seiner Arbeit. Und wir erleben immer wieder, dass in den Ländern, in denen die Lage aussichtslos zu sein scheint, man ganz tolle Leute trifft. Mit denen zusammen kann man etwas aufziehen.

Behrens-Schröter: Sie machen oft Sachen, auf die kein anderer kommt. Gibt es da nicht das Problem, dass einem Skeptiker im Wege stehen?

So schwierig ist das nicht. Wir haben für die Aktionen eine sehr große Unterstützung in der deutschen Öffentlichkeit gehabt. Und ich habe meine Mitmenschen immer so erlebt, dass sie sehr bereitwillig helfen, wenn man ihnen ganz konkret sagt, wo Menschen in Not sind. Ich gehöre gar nicht zu denen, die diese Gesellschaft verachten und glauben, dass alle nur der Fun-Kultur frönen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass man sich bei einer bestimmten Gruppe von Menschen nie lange aufhalten darf, weil dann das Ziel aus dem Blick gerät: das sind die Zuständigen. Menschen in Behörden, Ministerien, großen Institutionen. Bei unseren Hilfsaktionen haben wir ständig mit Menschen zu tun, die für uns zuständig sind. Und im schlimmsten Fall bringen die Zuständigen nichts zu Stande. Man darf sich nicht aufhalten lassen.